Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Über den Umgang mit Fehl- und Totgeburten ("Still Born Babies") in den 1960er-Jahren

Heute gehören Gemeinschaftsanlagen für frühverstorbene Kinder zu den bemerkenswertesten und zugleich berührendsten Entwicklungen innerhalb der Abschiedsund Erinnerungskultur. Sie sind so genannten "Still Born Babies" (also "Stillgeburten", im Mutterleib verstorbenen Kindern) ebenso gewidmet wie verstorbenen Babys und Kleinkindern. Diese kreativ gestalteten, meist mit einem Denkmal versehenen Anlagen sind häufig Bestattungsort und Gedenkstätte zugleich, manchmal auch reine Gedenkstätten.

Eine der frühesten Anlagen in Deutschland entstand durch die Privatinitiative von Susanne Schniering - selbst eine betroffene Mutter - auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg und wurde am 25. September 1999 eingeweiht. Diese Anlagen stellen gesellschaftlich und kulturell einen vollständigen Gegenentwurf zum zuvor häufig pietät- und lieblosen Umgang mit Fehl- und Totgeburten dar. Eine Zäsur bildete dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Gründung von zivilbürgerlichen Selbsthilfevereinigungen, wie dem Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister e. V., sowie die Änderung der Bestattungsgesetze in den Bundesländern.
Aber im bekanntesten Lehrbuch zur Hebammen-Ausbildung hatte das Thema lange Zeit kaum eine Rolle gespielt. Das im deutschsprachigen Raum verbreitete, 1962 erstmals erschienene "Hebammenlehrbuch", herausgegeben von Gerhard Martius (hier 4. überarbeitete Auflage 1983), widmet der Frage von Fehl- bzw. Totgeburten nur sehr wenige Seiten. Das Stichwort "Totgeburt" taucht in dem knapp 700 Seiten umfassenden Werk nur mit einem Seitenverweis auf. Beim Stichwort "Fehlgeburt" wird auf "Abort" und insgesamt nur drei Seiten verwiesen, auf denen die Frage behandelt wird. Von überlieferten Einzelfällen ist bekannt, dass totgeborene Kinder auf bestehenden Familiengräbern mit-bestattet wurden. Ansonsten liegt der Umgang mit Tot- und Fehlgeburten in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland weitgehend im Dunkeln.
Einige Aufklärung liefert hier eine Akte im Niedersächsischen Landesarchiv/ Abteilung Stade (Signatur: NLA ST Rep. 180 P, Nr. 1939, alle im Folgenden zitierten Dokumente entstammen dieser Akte). Der Aufbewahrungsort erklärt sich aus der Funktion Stades als Sitz der Bezirksregierung im früheren niedersächsischen Regierungsbezirk Stade.
Der Stader Regierungspräsident forderte im Jahr 1962 alle Landkreise bzw. Kommunen in seinem Regierungsbezirk auf, über den Umgang mit Fehl- oder Totgeburten in den zugehörigen Krankenhäusern zu berichten. Anlass war offensichtlich eine rechtliche Unsicherheit, die in den niedersächsischen Regierungsbezirken herrschte. Verwiesen wurde dabei auf die Feststellung in Gaedkes "Handbuch des Friedhofsund Bestattungsrechts", dass Tot- bzw. Fehlgeburten vor Ablauf des 6. Monats nur als "abgetrennte Körperteile" zu beurteilen und "nur nach gesundheitspolizeilichen Gesichtspunkten zu beseitigen" seien. Im Folgenden werden die bis Mitte 1962 eingehenden Berichte aus einzelnen Landkreisen und Kommunen bzw. Krankenhäusern dokumentiert.


Anfrage des Regierungspräsidenten in Osnabrück an die Regierungspräsidenten in Hannover, Hildes-heim, Lüneburg, Stade und Aurich von 1962 (Niedersächsisches Landesarchiv Abteilung Stade, Rep 180 P, Nr. 1939) (1)

Aus dem Landkreis Rotenburg/Wümme hieß es für das Krankenhaus der dortigen, gleichnamigen Kreisstadt: "Bei Fehl- und Totgeburten werden die Früchte durch Verbrennen im Heizungsofen beseitigt. Als Fehlgeburt wird eine vor der 28. Schwangerschaftswoche erfolgte Abstoßung einer niemals lebensfähigen Frucht angesehen. Eine Totgeburt liegt dann vor, wenn ein frühzeitig oder rechtzeitig geborenes Kind unmittelbar vor oder während der Geburt stirbt."
Die Städtischen Krankenanstalten Stade schrieben: "a) Fehl- und Totgeburten mit einer Körperlänge bis zu 28 cm werden durch einen Verbrennungsofen beseitigt. b) Desgleichen mit einer Körperlänge über 28 cm werden durch Angehörige bezw. durch ein Bestattungsinstitut im Einvernehmen mit dem Friedhofswärter still beigesetzt."
Der damalige Kreis Land Hadeln berichtete für das Krankenhaus in Otterndorf: " ... als Fehlgeburten [werden] Leibesfrüchte angesehen, die weniger als 35 cm lang sind und bei denen nach der Scheidung vom Mutterleib weder das Herz geschlagen noch die Nabelschnur pulsiert noch die natürliche Lungenatmung eingesetzt hat. Diese Fehlgeburten werden im Krankenhaus unter Beachtung der gesundheitspolizeilichen Gesichtspunkte beseitigt. Als Totgeburten werden Kinder angesehen, die mindestens 35 cm lang sind, bei denen aber keines der im § 29 der VO vom 12.8.1957 angegebenen Zeichen des Lebens festgestellt wurden. Totgeburten werden standesamtlich beurkundet und dementsprechend bestattet."
Die Gesundheitsabteilung des Landkreises Verden vermeldet für die dortigen Krankenhäuser: "Soweit hier in Erfahrung gebracht werden konnte, haben die Krankenhäuser Totgeburten als Beilage bei verstorbenen Erwachsenen in den Sarg gelegt und beerdigt. Ab 1956 ist diese Handhabung eingestellt. Von da ab werden auch die Totgeburten für sich eingesargt und auf dem Friedhof beigesetzt. Tot- und Fehlgeburten, die eine Länge von 35 cm haben, müssen in jedem Fall, auch außerhalb der Krankenhäuser, beurkundet und ordnungsgemäß auf Friedhöfen bestattet werden." Städtisches Krankenhaus in Verden (Aller): "Im Krankenhaus entspricht es der Übung und Praxis, dass Tot- und Fehlgeburten nach Ablauf des sechsten Monats ordnungsgemäß bestattet werden. Die Angehörigen sind dafür verantwortlich. Die Kindesleiche wird nur in einem ordnungsmässig bereitgestellten Sarg übergeben. Tot- und Fehlgeburten vor Ablauf des sechsten Monats werden tatsächlich wie abgetrennte Körperteile angesehen und auch wie diese hygienisch im Verbrennungsofen vernichtet."
Städtische Krankenanstalten in Cuxhaven: "Jede Totgeburt ab 35 cm Länge wird dem Standesamt gemeldet und anschließend bestattet. Kleine verstorbene Leibesfrüchte werden nur dann gemeldet und bestattet, wenn bei ihnen oder nach der Geburt Lebenszeichen festgestellt worden sind."
Buxtehude: "Im Städtischen Krankenhaus Buxtehude ist bis jetzt derart verfahren worden, daß Früchte über 37 cm standesamtlich als Totgeburten gemeldet und beerdigt wurden. Früchte unter einer Länge von 37 cm wurden als abgetrennte Körperteile angesehen und verbrannt."
Krankenhaus Freiburg/Elbe: "Geburten, bei einer Größe von über 35 cm, unterliegen der standesamtlichen Meldepflicht, auch bei Totgeburten. Bei Totgeburten haben die Angehörigen eine ordnungsgemäße Bestattung vorzunehmen. Bei Totgeburten unter 35 cm erfolgt keine Bestattung, sie werden nach gesundheitspolizeilichen Gesichtspunkten beseitigt."
Kreiskrankenhaus Osterholz-Scharmbeck: "Bei uns wird bei allen Totgeburten, die der standesamtlichen Meldepflicht unterliegen, den Eltern gesagt, daß sie sich um die Beerdigung des Kindes kümmern müssen. Soweit uns bekannt ist, wird dann ohne Pastor mit dem Friedhofswärter eine Bestattung auf dem Familiengrab, eventuell in einem schon vorhandenen Grab, vorgenommen. Alle nicht meldepflichtigen Fehlgeburten, Früchte unter 35 cm Länge; Früchte über 35 cm Länge, bei denen nach Scheidung vom Mutterleib nicht das Herz geschlagen oder die Nabelschnur pulsiert oder die natürliche Lungenatmung eingesetzt hat, werden verbrannt."


Bericht der Stadt Verden (Aller) an den Regierungspräsidenten in Stade (Niedersächsisches Landesar-chiv Abteilung Stade, Rep 180 P, Nr. 1939) (2)

Das Evangelische Hospital Neuenkirchen im Landkreis Osterholz berichtet, " ... dass Früh- oder Totgeburten hier in der Weise bestattet werden, dass die dem Sarge eines anderen Verstorbenen beigegeben werden, abgesehen von Ausnahmefällen, wo die Bestattung von den Angehörigen gesondert in die Wege geleitet wird." Über die DRK-Krankenanstalten in Nordholz im damaligen Landkreis Wesermünde hieß es: "Dort .... werden etwaige Tot- und Fehlgeburten ohne Unterscheidung nach dem Alter nach gesundheitspolizeilichen Gesichtspunkten beseitigt."

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Bestattung - alles öko? (März 2024).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).