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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Schiffbrüche und Erinnerungsorte an der deutschen Nordseeküste

Walfänger, Auswanderer, Seeleute

Hermann Melville widmete das siebte Kapitel von "Moby Dick" dem Besuch der Walfänger-Kirche in New Bedford an der nordamerikanischen Ostküste, wo auf Epitaphien der im Meer verschollenen Seeleute und Walfänger gedacht wird: "[...] aber der unaufgezeichneten Unglücksfälle beim Walfang sind so viele, und so unverkennbar war irgendeine ständige Trauer in den Zügen [...] der anwesenden Frauen, daß ich überzeugt war, eine Versammlung derer vor mir zu sehen, in denen der Anblick der kahlen Gedenktafeln aus Mitgefühl alte, nie vernarbte Wunden wieder aufbrechen ließ".

Der Walfang bildet auch den Hintergrund für das zeitlich früheste Beispiel der einem Schiffbruch zugedachten Erinnerungsorte an der deutschen Nordseeküste. Es ist in der Kirche von Morsum auf Sylt zu finden. Sie beherbergt eine Gedenktafel, die dem Untergang eines Walfängerschiffes ("Grönlandfahrer") am 15. März 1744 ge-widmet ist. Bei dem Unglück kamen 84 Insulaner, die meisten von ihnen Morsumer, ums Leben. Besonders tragisch war, dass das Schiff bei der Rückkehr und schon in Sichtweite der Insel Sylt sank.


Gedenkplatte in der Kirche von Morsum (alle Fotos in diesem Beitrag: N. Fischer) (1)

An der Nordseeküste spielten einzelne Schiffbrüche immer wieder eine über das eigentliche Ereignis hinausweisende historische Rolle. So sorgte der Untergang des Auswandererschiffes "Johanne" am 6. November 1854 dicht vor der ostfriesischen Insel Spiekeroog für anhaltende öffentliche Diskussionen über die Unzulänglichkeiten des Rettungswesens. Diese mündeten schließlich in die Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger e.V. (DGzRS) 1865 in Kiel. Drei Tage nach dem Schiffbruch wurde für 28 am Inselstrand angeschwemmte, aber unbekannte Tote ein eigener Begräbnisplatz außerhalb des Inseldorfes angelegt. Dieser wurde Anfang 1859 - als Ergebnis einer Spendensammlung − mit einem Gedenkkreuz versehen. In der Folge wurde die Anlage zum Begräbnisplatz für weitere unbekannte Strandleichen. Das heutige Erinnerungsmal mit seiner Inschrift ("Fern von ihrer Heimath fanden sie hier ihre letzte Ruhestätte") stammt aus dem Jahr 1932: ein aus Strandholz gefertigtes und auf einem Steinsockel ruhendes Eichenkreuz, das von Anker und Ankerkette umwunden wird. Inzwischen liegt die Gedenkstätte inmitten der Bebauung des Inselortes.


Johanne-Gedenkstätte Spiekeroog (2)

Am Gebäude der Schleusen-Gaststätte in Altenbruch (Elbmündung) erinnert eine Tafel an den Untergang des Lotsenbeförderungsschiffes "Altenbruch". Das Unglück ereignete sich am 21. Februar 1945 nahe eines unter dem Namen Glameyer-Stack bekannten Uferschutzwerkes. 15 der 25 Besatzungsmitglieder starben, als das Schiff auf eine Mine lief. In Cuxhaven steht eine 1939 errichtete Gedenkwand auf dem Fried-hof Brockeswalde, die einzelne lokale Schiffsuntergänge in der Elbmündung mit ihren Opfern namentlich verzeichnet (siehe ausführlicher dazu den Beitrag von Verf. über "Tod in der Ideologie des Nationalsozialismus" in "Ohlsdorf - Zeitschrift für Trauerkultur" Nr. 160, I/2023, online unter: https://www.fof-ohlsdorf.de/nr-160-i-2023/der-tod-der-ideologie-des-nat…).


Gedenktafel in Altenbruch (3)

Das Unglück des Borkumer Schiffes "Annemarie" und seine Erinnerungsorte

Der Untergang des Borkumer Schiffes "Annemarie" im Jahr 1931 wird bis heute als tragischster Unglücksfall in der lokalen Geschichte betrachtet. Er geschah in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1931 vor Memmert. Der Untergang der "Annemarie" forderte den Tod von 15 männlichen Inselbewohnern - Mitglieder des lokalen Turnvereins, die am Vorabend ein Fest auf der benachbarten Insel Juist besucht hatten und auf der Rückfahrt in einem Sturm verunglückten. Nur drei Bootsinsassen überlebten. Zwei Jahre nach dem Unglück, im September 1933, wurde auf den nordwestlichen Dünen von Memmert, in deren Nähe sich der Schiffbruch ereignet hatte, ein hölzernes Erinnerungskreuz errichtet. Verankert durch einige Findlinge und weithin sichtbar, trug es die Inschrift "Denke an den Tod! Annemarie Unglück 22.9.1931" und gewann in der Folge als "Kreuz von Memmert" legendäre Bedeutung.


"Annemarie"-Memorial auf der Insel Borkum (4)

Hingegen wurde das heutige, im Inselort am Alten Leuchtturm aufgestellte Memorial erst wesentlich später am 21. September 1958 eingeweiht - gestiftet von dem örtlichen Junggesellenverein "Borkumer Jungens". Zwischenzeitlich war eine Nachbildung des inzwischen verrotteten Memmert-Kreuzes, allerdings ohne Schriftzug, am selben Schauplatz aufgestellt worden. Die Einweihung des Memorials am Jahrestag des Unglücks wurde mit einer öffentlichen Gedenkfeier verbunden, über die in der lokalen Presse unter der Überschrift "Sie sind nicht vergessen!" ausführlich berichtet wurde: "Jeder wiederkehrende 21. September wird für unsere Insel ein Tag des Gedenkens für die [...] Opfer sein, die die See im Jahre 1931 mit der 'Annemarie' forderte," hieß es wörtlich. Der gemeinsame Gedenkgottesdienst, an dem die drei Überlebenden, die Angehörigen der Ertrunkenen sowie zahlreiche Gäste teilnahmen, fand vor der Einweihung des Memorials im nahegelegenen Gotteshaus der Reformierten Kirche statt.
Ebenfalls auf der Insel Borkum erinnert eine gartenarchitektonisch ansprechend gestaltete, zentral im Ort gelegene Gedenkstätte namentlich an den Tod von Besatzungsmitgliedern zweier Seenotrettungsboote. Auf dem Namenlosen-Friedhof von Helgoland steht ein Gedenkstein, der drei in den Jahren 1968 und 1969 auf hoher See ums Leben gekommenen Meeresforschern gewidmet ist. Die Ertrunkenen werden namentlich genannt, die Inschrift lautet: "Sie gaben ihr Leben für die Erforschung des Meeresgrundes".


Gedenkstein auf der Insel Helgoland (5)

Für die "Auf See Gebliebenen"

Kommen wir zu jenen Memorials, die allgemein den "Auf See Gebliebenen" gewidmet wurden. Ein frühes Beispiel findet sich auf dem Kirchhof von Ording (Eiderstedt). Als point de vue gestaltet und 1938 dank einer privaten Spendensammlung errichtet, trägt das annähernd zwei Meter hohe Steinkreuz für die "Auf See Gebliebenen" die Inschrift "Und das Meer ist nicht mehr" (Off. 21.1). Robert Harrison deutet diese Bibelstelle wie folgt: "In der eschatologischen Phantasie, in der solche Visionen geboren werden, gehören Erde und Meer verschiedenen, ja einander entgegengesetzten Kategorien an. In die Erde mit ihrer Solidität und Stabilität lässt sich etwas einschreiben, auf ihren Boden können wir bauen, während das Meer menschlicher Weltlichkeit keine derartige Basis bietet. Das ist zweifellos der Grund, weshalb das Meer in seiner Feindseligkeit gegenüber architektonisch oder textlich geprägtem Gedächtnis häufig als der imaginäre Agent endgültiger Zerstörung fungiert. Als Johannes am Ende des Buches der Offenbarung das Eschaton schildert, beschreibt er das architektonische Wunder des neuen Jerusalem, und in begeisterter Rhetorik sprich er von einer 'neuen Erde' und einem 'neuen Himmel'. Fast beiläufig erklärt er dann: 'Und das Meer ist nicht mehr' (21,1). Das Verschwinden des Meeres bezeichnet hier den endgültigen Sieg der durch die göttliche Vorsehung bestimmten Geschichte über das ihr antagonistische Element".

In Büsum (Dithmarschen) steht auf dem Neuen Friedhof am Hauptweg ein knapp 1,40 Meter hoher Gedenkstein mit der Inschrift "Zum Gedenken an die auf See gebliebenen Fischer". Die weitere Zeile lautet "Christkyrie. Komm zu uns auf die See". Dieser zentral platzierte Gedenkstein wurde 1965 eingeweiht.
Als letztes Beispiel sei auf ein figürlich gestaltetes Memorial im ostfriesischen Hafenort Dornumersiel hingewiesen: die Bronzeplastik "He ist buten bleeven". Auch diese Pietà-Figur mit Kind ist allgemein den "Auf See Gebliebenen" gewidmet, sie wurde 1972 von einem lokalen Bildhauer geschaffen. Die Plastik steht an prominenter Stelle an der Brücke über dem Sieltief, also dem Hauptfahr- und Entwässerungsstrom.


Bronzeplastik in Dornumersiel (6)

Solche maritim geprägten Erinnerungsorte spielen für die regionale Identität an der Nordseeküste eine bedeutsame Rolle. Sie können auf historisch gewachsene Deutungen innerhalb tradierter Lebenswelten bauen. Durch den Rückgriff auf die historische Erfahrung des todbringenden Meeres gelang es, an der Küste zahlreiche Orte von Erinnerung und Identität zu schaffen. Der Rückgriff auf die historische Erfahrung des Meeres und seiner tödlichen Gefahren repräsentiert ein besonderes, maritim verankertes Regionalbewusstsein.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Schiffbrüche und Erinnerungsorte (September 2023).
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