In Hamburg hat die Ausstellung "Körperwelten" Einzug gehalten und für öffentliche Aufregung gesorgt. Um was geht es?
Prof. Gunther von Hagens, Pathologe, hat in den 90er-Jahren eine Methode erfunden, wie man tierische und menschliche Körper nach dem Tod so mit Kunstharz präparieren kann, dass sie sich in eine feste holzähnliche Masse verwandeln. Diese Methode nennt er Plastination. Damit ist es ihm gelungen lebensechte anatomische Einzel- und Ganzkörperpräparate herzustellen, die im Gegensatz zu den bis dahin in Formaldehyd aufbewahrten anatomischen Präparaten sehr dauerhaft sind. Von Hagens hat seine Methode in wissenschaftlichen Zeitungen veröffentlicht, so dass jeder, der die notwendigen Mittel aufbringen will, den Vorgang nachvollziehen kann.
Er selbst hat im Laufe der Zeit eine ganze Sammlung von präparierten Organen, Körperteilen, Längs- und Querschnitten und vollständigen Körpern hergestellt, an denen sich ihr anatomischer Aufbau nicht nur in allen möglichen Einzelheiten, sondern auch im Zusammenspiel der Muskeln, Sehnen und Knochen in - erstarrten - Bewegungen studieren lässt. Dabei hat er seinen Ganzkörper-Plastinaten verschiedene Haltungen gegeben, die sie wie "enthäutete Menschenskulpturen" oder gerade explodierend auseinanderfallende Menschen aussehen lassen. Diese Skulpturen und auch seine eigene Kostümierung mit einem Filzhut à la Beuys lassen bei von Hagens einen Hang zum Künstlertum vermuten, der in einem gewissen Widerspruch zu dem anatomischen Grundgedanken seiner Arbeit steht.
Seine Sammlung von Plastinaten hat von Hagens inzwischen in verschiedenen Großstädten ausgestellt und damit ungewöhnlich viele Besucher angezogen, die zeitweise in langen Schlangen bis tief in die Nacht hinein vor dem Einlass warteten. Zugleich hat diese Ausstellung in den Medien lebhafte Kontroversen hervorgerufen.
Dazu möchte ich einzelne persönliche Gedanken und Beobachtungen zur Diskussion stellen. Ich habe die Ausstellung zweimal gesehen und jedes Mal festgestellt, dass die Besucher nach dem Betreten der Räume sofort von den Präparaten in Bann gezogen wurden und mit großer Neugier und Intensität den Aufbau des Körpers, die durch Krankheit veränderten einzelnen Organe, das Aussehen von Nerven, Blutbahnen und Gehirn betrachteten. Bei mir selbst haben die anatomischen Präparate Staunen hervorgerufen: Die überwältigende Großartigkeit der Natur, die jeder in seinem eigenen Körper mit sich herumträgt, wurde mir vor den Plastinaten so deutlich wie nirgendwo zuvor.
Dabei hatte ich zugleich den Eindruck, dass man "echte" Leichen - also dich und mich, wenn wir tot sind - in dieser Ausstellung gar nicht findet. Den Plastinaten fehlt das Organische. Sie sind totes unveränderliches Material. Die Zeit, in der sie einmal belebt waren, ist lange vorbei und ausgelöscht. Durch ihre völlige Verfremdung durch die Plastination waren die ausgestellten Körper für mich zu anatomischen Objekten geworden - so wie das Skelett im Schulunterricht, vor dem man sich, wenn es hoch kommt, etwas gruselt, weil es an die menschliche Sterblichkeit erinnert.
Trotzdem frage ich mich, ob die vielen Besucher aus rein anatomischem Interesse in diese Ausstellung gehen oder nicht doch eher von Neugier und dem angenehmen Schauder angetrieben sind, die von der Vorstellung einmal "echte" Tote zu sehen ausgelöst werden. Mir scheint es, als ob der Tod in unserer Gesellschaft so stark aus der alltäglichen Wirklichkeit verschwunden ist, dass die Körperwelten automatisch eine Attraktion sind, eben weil dort Tote gezeigt werden. Der Anblick eines Toten - geschweige denn das Berühren eines toten Körpers - ist fast ganz aus unserer Kultur verschwunden. Verstorbene werden heute so schnell wie möglich nach dem Eintritt des Todes von den Mitarbeitern der Bestattungsinstitute abgeholt und eingesargt. Kaum jemand will seinen toten Angehörigen noch einmal sehen und nur wenige sind beim Tod selbst dabei, der oft einsam im Krankenhaus stattfindet. Die Folge scheint zu sein, dass in der heutigen "Nachkriegsgeneration" viele Erwachsene - von jungen Menschen und Kindern gar nicht zu sprechen, die nach Ausweis eines Zeitungsartikels sogar stark durch die Ausstellung gefährdet werden sollen - noch nie einen Toten gesehen haben. Diese allgemeine Unkenntnis könnte auf eine riesige Leerstelle hinweisen, die durch die neuartigen Plastinate ausgefüllt werden soll. Sie versprechen eine Art gut konsumierbarer Aufklärung in Form klinisch sauberer Körper, die emotional relativ ungefährlich, da von allen persönlichen Beziehungen befreit sind. Damit erfüllen die Körperwelten sozusagen zwei ganz unterschiedliche Bedürfnisse: zum einen die medizinisch-anatomische Aufklärung über Körperbau und Aussehen der inneren Organe, zum anderen aber auch die Konfrontation mit der Leiche, die zum "unorganischen" Besichtigungsobjekt wird.