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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Das Ende des Jüdischen Friedhofs am Grindel, die Anlage eines Ersatzfriedhofs 1937/38 und das Grab-Denkmal Gabriel Riessers

Der historische Grindel-Friedhof

Umbettungen von Toten sind nicht ungewöhnlich und werden seit Jahrhunderten aus unterschiedlichen Motiven durchgeführt. Eine Besonderheit hingegen - zumal erzwungenermaßen - ist die Verlagerung sämtlicher Toten eines Friedhofs mit einem Teil des Grabmalbestandes an einen entfernten Ort, wie dies 1937/38 mit dem Israelitischen Begräbnisplatz in Hamburg, meist auch Grindel-Friedhof oder Friedhof
am Grindel genannt, geschehen ist.

Der bereits im frühen 18. Jahrhundert angelegte historische Grindel-Friedhof wurde vor allem als Bestattungsort für gesellschaftliche Randgruppen wie arme, fremde oder an der Pest gestorbene Juden genutzt. Eine gewisse Aufwertung erfuhr der Friedhof erst dadurch, dass zwei angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinde im frühen 19. Jahrhundert testamentarisch Ihre dortige Bestattung verfügten.
Der Begräbnisplatz war aufgeteilt in einen Bereich für die Deutsch-Israelitische Gemeinde Hamburg (DIG) und einen wesentlich kleineren Bereich für die wesentlich kleinere Portugiesisch-Jüdische Gemeinde Hamburg (PJG). Den jüdischen Gemeinden gegen eine jährliche Pacht überlassen, befand sich der Friedhof im Besitz der Hansestadt. So wird beispielsweise in einem entsprechenden Vertrag von 1781
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Pachtverhältnis nicht "immerwährend" sei. Ähnlich wie auf den nahen sogenannten Dammtorfriedhöfen Hamburgs wurden Bestattungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch auf dem Grindel-Friedhof eingeschränkt und kurz vor 1900 bis auf wenige Ausnahmen vollständig unterbunden. Die letzte Bestattung fand hier 1909 statt.

Im Gegensatz zu den kirchlichen Dammtorfriedhöfen blieb der Grindel-Friedhof - wenn dort auch keine Beisetzungen mehr stattfanden - als Friedhof erhalten. Die Gräber wurden weiter gepflegt und ein Aufseher überwachte das Gelände. Weltwirtschaftskrise und negative wirtschaftliche Verhältnisse Ende der 1920erJahre nutzten antisemitische Parteien und Gruppierungen reichsweit mit Erfolg, um hierfür den jüdischen Einfluss in Wirtschaft und Handel verantwortlich zu machen. Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen waren die Folge. In Hamburg wurde beispielsweise 1931 die Synagoge der PJG in der Marcusstraße geschändet. Auch der Grindel-Friedhof wurde 1931 und 1932 mehrfach Ziel von Zerstörungen und Schändungen; meist waren antisemitische Motive nachweisbar. Die jüdischen Gemeinden mussten kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 die bittere Erfahrung hinnehmen, dass die Hamburger Justiz bei derAhndung derartiger Delikte nichtmehr die nötige Objektivität garantierte. Der Einfluss des Antisemitismus war auch hier spürbar.

Die drohende Räumung des Grindel-Friedhofs

1935 wurde die Jüdische Gemeinde völlig überraschend von der Stadt Hamburg benachrichtigt, dass der Begräbnisplatzes am Grindel zeitnah zu räumen sei. Versuche, die drohende Räumung abzuwenden, blieben erfolglos: Immerhin wurden mehrere Verlängerungen der Räumungsfrist zugestanden, bis schließlich die endgültige Frist auf den 31. Mai 1937 festgesetzt wurde.
Bemerkenswert ist, dass zwischenzeitlich die Frist auf Initiative des Reichs- und Preußischen Ministers für die kirchlichen Angelegenheiten verschoben wurde. Es hieß, die Räumung des Friedhofs sei „zweckmässigerweise so“ durchzuführen, dass Exhumierungen während der Zeit der sommerlichen Olympiaspiele 1936 vermieden würden. Durch kritische Presseberichte im Ausland befürchtete die Reichsregierung eine Gefährdung des deutschen Ansehens, das durch die Austragung der Spiele gerade aufgewertet werden sollte.
Ausschlaggebend für die verordnete Räumung des Grindel-Friedhofs dürfte die fortschreitende Stadtentwicklung gewesen sein. Tatsächlich wurden in Hamburg geeignete stadtnahe Flächen zur Bebauung benötigt. Die Bautätigkeit in der Hansestadt stieg während der nationalsozialistischen Herrschaft stetig und ähnlich stark an wie in den Spitzenzeiten des Bauens in den 1920er-Jahren und erreichte 1937 einen vergleichbaren Höhepunkt. Eine mögliche Bewahrung des Friedhofs dürfte zumindest durch die antisemitische Haltung des Regimes nicht zu erwarten gewesen sein.

Der Grindel-Ersatzfriedhof auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf

Die Jüdischen Gemeinden fanden sich schließlich gezwungenermaßen mit der Räumung ihres Friedhofs ab. Eine völlige Aufhebung des Friedhofs mit einer Entsorgung der sterblichen Überreste - wie auf christlichen Friedhöfen üblich - kam wegen der Halacha, dem jüdischen religiösen Recht und der darin geforderten ewigen Totenruhe, für einen jüdischen Begräbnisplatz grundsätzlich nicht in Frage.
Für die Anlage eines Ersatzfriedhofs, der die sterblichen Überreste des Grindel-Friedhofs und zumindest einen Teils des Grabmalbestandes aufnehmen konnte, bot sich nur der 1877 gegründete Jüdische Friedhof an der Ilandkoppel in Ohlsdorf an. Dieser lag direkt neben dem ersten überkonfessionellen Hamburger Friedhof Ohlsdorf, der sechs Jahre zuvor gegründet worden war. Auch dieser neue Jüdische
Friedhof war aufgeteilt in je einen Bereich für die DIG und für die PJG. Bei den Verhandlungen und der Organisation der Aufhebung des Grindel-Friedhofs überließ die kleine PJG dem Vorstand ihrer wesentlich größeren Schwestergemeinde weitgehend die Führung.
Da die DIG bei den Vorbereitungen der Räumung recht zögerlich voranging, geriet sie schließlich so stark unter Zeitdruck, dass innerhalb von nur zweieinhalb Monaten die Umbettung sämtlichersterblicher Überreste von mehreren Tausend Toten aus mehr als zwei Jahrhunderten und die Translozierung eines Teils der Grabmale auf den Ersatzfriedhof in Ohlsdorf bewältigt werden mussten. Die genaue Anzahl
der zu überführenden Toten ist nicht eindeutig belegt. Den verfügbaren, sich widersprechenden Quellen zufolge dürften es etwa 6500 bis etwa 8000 Tote gewesen sein.
Die Jüdischen Gemeinden sahen es als selbstverständlich an, dass auf dem Ersatz-Friedhof sämtliche Tote eine neue Ruhestätte finden sollten, wenn auch hier Kompromisse einzugehen waren. So stand fest, dass die Bestattung der überwiegenden Mehrzahl der Toten - der besonderen Notsituation geschuldet - nur in einem großen Sammelgrab und nicht in Einzelgräbern vorgenommen werden konnte.

Die Gestaltung des Grindel-Ersatzfriedhofs

Mit der Planung der Anlage des Ersatzfriedhofs beauftragte die DIG den jüdischen Architekten Dr. Fritz Block (1889-1955). 1933 war Block wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Bund Deutscher Architekten ausgeschlossen worden; die Anlage des Ersatz-Friedhofs warsein letztes Projekt in Hamburg. Kurz darauf emigrierten er und sein Partner Ernst Hochfeld (Block &Hochfeld) in die USA. Block teilte das
Gelände des geplanten Ersatzfriedhofs in sieben verschiedene Bereiche (Abb. 1) mit einem etwa in der Mitte liegenden Hauptweg ein.
In einem etwa dreieckförmigen Bereich wurden von der DIG ca. 81 als erhaltenswert erachtete, seinerzeit als Denkmalsteine bezeichnete Grabmale museal wieder aufgestellt, d. h. ohne direkten räumlichen Bezug zu den Umbettungen. Die Aufstellung wurde in hintereinander liegenden und weitgehend nach Grabsteingrößen geordneten Reihen vorgenommen, d. h. die höheren Steine stehen in den hinteren
Reihen (Bereich V).
Auch 64 meist größere Grabmale wurden beidseitig des oben erwähnten Hauptwegs durch den Ersatzfriedhof museal aufgestellt. Diese Steine bilden eine Art Allee; zudem stellen zwei beidseitig aufgestellte Obelisken am Übergang zu einem bereits vorhandenen breiten Friedhofsweg eine Torsituation dar und markieren den Eingang zum Ersatzfriedhof (Bereich III).
Wiederum museal wurden in einem weiteren Bereich ca. 34 einigermaßen erhaltene Steine ehrenhalber Umgebetteter in loser Anordnung aufgestellt. Von ihnen sind noch 32 erhalten (Bereich IV). Im Gegensatz zu den übrigen museal aufgestellten Steinen sind hier die Toten bekannt. Ihre Namen finden sich somit zweifach, d.h. auf den Altsteinen wie auch auf den Ehrensteinen.
Schließlich wurden von den ehemals 45 Grabtafeln der Sepharden, der portugiesischen Juden, die auf dem Friedhofsteil der Portugiesischen Gemeinde vorhandenen waren, immerhin noch 42 Tafeln museal wieder aufgebaut. Der sephardischen Tradition folgend, waren diese Grabtafeln liegend und meist auf niedrigen Sockeln angeordnet. Diese Anordnung wurde übernommen (Bereich VII).


Lageplan des Ersatzfriedhofs für den Grindelfriedhof in Ohlsdorf (von E. Kändler) (1)

Blick von Süden in den Bereich III des Ersatzfriedhofs für den Grindel-Friedhof; im Vordergrund der Obelisk für den Arzt und Chirurgen Dr. Georg Hartog Gerson (1788–1844). Das Sockelrelief zeigt einen stehenden, bärtigen Mann mit einem großen Äskulapstab und eine sitzende Frau mit zwei Kindern, beide in antikisierender Kleidung. (Foto: P. Schmolinske) (2)

Obelisk für den Arzt Sigismund Samuel Hahn am Eingang zu Grindel-Ersatzfriedhof (Bildnachweis: Von Vitavia - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https:// commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=53319554) (3)

In drei Bereichen wurden sterblichen Überreste auf Antrag und Kosten von Agehörigen in Einzelgräbern, teils mit Grabmalen, teils ohne Grabmale wieder beigesetzt (Bereiche II, V, VI). In zwei dieser rechteckig zugeschnittenen Bereiche wurden die Gräber und insgesamt 48 Grabmale an den Rändern angeordnet (nicht mitgezählt das Grabmal von Issac Bernays, der hier mit seinem Altstein wieder beigesetzt wurde, siehe unten - Bereich II und VI). Der dritte Bereich wird durch zwei gerade Grab- und Grabsteinreihen gebildet, die am Rand des erwähnten, etwa dreieckförmigen Bereichs für die Denkmalsteine stehen (Bereich V, teilweise). Hier sind 30 privat überführte Grabsteine vorhanden, die Anzahl der dazugehörenden dort Bestatteten ist unklar. Auch die genaue Anzahl der in Einzelgräber in diesen drei Bereichen Umgebetteten ist unklar, es dürfte sich um ungefähr 117 Tote handeln. Insgesamt wurden etwa 80 Grabsteine auf diese Privatgräber gesetzt, die meisten sind Altsteine vom Grindel-Friedhof. Bei einigen wenigen ist unklar, ob sie neu angefertigt wurden.

Der für die DIG und einige ihre Entscheidungsträger wichtigste Bereich auf dem Ersatzfriedhof war die sogenannte Ehrenanlage. Hier wurden in rechteckförmiger Anordnung Ehrengräber angelegt (Bereich I). Eine Auswahl von verdienten Gemeindemitgliedern, in einigen Fällen mit Ehefrauen, insgesamt etwa 96 Tote,wurde ehrenhalber auf Kosten der Gemeinde in Einzelgräbern wieder beigesetzt. Das heißt, dass nicht jeder der Überführten einen Ehrenstein gesetzt bekommen hat. In einem der Ehrengräber bestattete man einen Teil der Tora-Rollen, die beim Hamburger Brand 1842 beschädigt worden und in Tonröhren verpackt auf dem Grindel-Friedhof bestattet waren.
An den hinteren Rand der einzelnen Ehrengräber wurden neu angefertigte, uniforme schlichte Stelen gesetzt, wahrscheinlich insgesamt 80 (ohne das unten erwähnte Riesser-Grabmal gerechnet), von denen noch 79 vorhanden sind. Aus Muschelkalk gefertigt, weisen sie eine Höhe von etwa 90 Zentimetern auf und sind einheitlich mit Inschriften aus aufgesetzten Bronzebuchstaben bestückt, die die Namen
und Lebensdaten der Überführten in deutscher und hebräischer Sprache nennen.
Diese Ehrensteine und die überführten Personen wurden geordnet nach Berufgruppen, der Art des Verdienstes um Allgemeinheit oder Gemeinde und auch nach der jeweiligen Richtung des jüdischen Glaubens.
In der Mitte der Ehrengräber wurde die überwiegende Mehrheit der sterblichen Überreste des Grindel-Friedhofs in einem großen Sammelgrab wieder beigesetzt (Bereich I). Für die dauerhafte Bergung der überwiegenden und nicht mehr identifizierbaren Mehrzahl der Toten hatte man sich für Beutel, wahrscheinlich Leinenbeutel, entschieden. Im Zuge der Exhumierung wurden die sterblichen Überreste auf dem Grindel-Friedhof in jeweils einen Beutel gelegt, mehrere Beutel für den Transport zum Ersatzfriedhof in einem Sarg gelagert. Im Sammelgrab wurden die Beutel mit den sterblichen Überesten reihenweise wieder beigesetzt. Entsprechend der Forderung eines Rabbinats-Gutachtens wurden die einzelnen sterblichen Überreste im Sammelgrab durch Sand voneinander getrennt. Sämtliche Gräber und auch Grabsteine mussten - ein weiterer Kompromiss - unter Billigung rabbinischer Begutachtung nicht in der traditionellen, auf jüdischen Friedhöfen üblichen West-Ost-Ausrichtung eingerichtet werden. Die auf dem Grindel-Ersatzfriedhof insgesamt etwa 320 wieder aufgestellten Grabsteine und die etwa 80 Ehrensteine aller sieben Bereiche sind weitestgehend erhalten, nur wenige Steine fehlen oder sind beschädigt.

Das Grab-Denkmal Gabriel Riessers und seine Bedeutung

In der Mitte der einen Schmalseite der Ehrenanlage wurde Gabriel Riesser (1806-1863) wieder beigesetzt. Riesser war eine bedeutende Persönlichkeit des deutschen Judentums. Als Richter am Obergericht, damals oberstes Gericht in Hamburg, war er der erste Jude in einem Richteramt in Deutschland. Außerdem war er u. a. Teilnehmer der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche 1848. Er gilt als wichtiger Vorkämpfer für die bürgerliche Emanzipation der Juden. Auf seinem neuen Grab in der Ehrenanlage wurde als einzige Ausnahme nicht einer der neu hergestellten uniformen Ehrenstein gesetzt, sondern – und damit stark hervorgehoben – sein ursprüngliches Grabmal wieder aufgestellt.


Grabmal für den Juristen Gabriel Riesser (1806–1863) auf den jüdischen Grindelfriedhof. (Historisches Foto entnommen aus Otto Erich Kiesel, Die alten hamburgischen Friedhöfe. Ihre Entstehung und ihre Beziehungen zum städtischen und geistigen Leben Alt-Hamburgs, Hamburg 1921) (4)

Grabmal Riesser in Ohlsdorf in heutiger Aufstellung im Winter 2018 (Foto: P. Schmolinske) (5)

An der gegenüberliegenden Schmalseite - ebenfalls in mittiger Anordnung - wurde Isaac Bernays (1792-1849) in einem Ehrengrab mit einem der neu angefertigten uniformen Ehrenstein wieder
beigesetzt. Bernays war ein weit über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannter und einflussreicher Vertreter der jüdischen Orthodoxie. Als Gegner der jüdischen Reformbewegung des neuen
Israelitischen Tempels in Hamburg versuchte er erfolglos mit Hilfe des Hamburger Senats, den Bau des neuen Tempels in der Poolstraße zu verhindern. Im Gegensatz zum Grabmal Riessers wurde der ursprüngliche Grabstein Bernays auf Kosten der DIG - und hier als Ausnahme - auf einem Bereich für die privaten Umbettungen wieder aufgestellt (Bereich VI). Der ursprüngliche Grabstein Bernays wird hier durch seine Lage an der Schmalseite dieses Bereichs zwar hervorgehoben. Dies wird jedoch dadurch erheblich eingeschränkt, dasssein Grabstein kleiner als mehrere andere Steine in diesem Bereich ist.


Ehrenstein für Isaac Bernays in Ohlsdorf (Bildnachweis: Von Claus-Joachim Dickow - photo taken by Claus-Joachim Dickow, CC BY-SA 2.5, https:// commons.wikimedia.org/w/index.php?curid= 515264) (6)

Das Grabmal Gabriel Riessers dominiert durch seine - im Vergleich zu den überführten größeren Grabmalen des Grindel-Friedhofs-monumentale Größe und besondere Gestaltung nicht nur die Ehrenanlage, sondern den gesamten Grindel-Ersatzfriedhof.
Eine besondere Wirkung war dem Grabmal schon bei der Herstellung 1863 bis 1865 unterlegt worden; es war nicht als einfaches Grabmal, sondern sehr bewusst als Grab-Denkmal geplant gewesen. In einer Nische auf der Vorderseite ist ein Relief mit der allegorischen Darstellung des Triumphs der Wahrheit über die Lüge angebracht. Eine antikisierende weibliche Figur entblößt ihren Oberkörper, einen Fuß auf
einen am Boden liegenden Drachen gestellt, in der Hand ein nach unten gerichtetes Schwert, um das sich der Drache windet.
Bei seiner Aufstellung auf dem Grindel-Friedhof 1865 hatte das Denkmal vor allem bei Orthodoxen Anstoß erregt. Es war als Demonstration des liberalen Hamburger Judentums geplant und auch empfunden worden. Als Kompromiss war damals die halbbekleidete Figur an der Rückseite des Denkmals angebracht. Anders als an seinem ursprünglichen Standort auf dem ehemaligen Grindel-Friedhof, an dem es zudem innerhalb einer schmalen Grabreihe mit verdichtet aufgestellten Grabsteinen angeordnet war, kommt der Denkmalcharakter des Grabmals erst in der Ehrenanlage deutlich zum Tragen.
Mit den Grabsteinen Bernays und Riessers an den Schmalseiten der Ehrenanlage stehen sich also wesentliche Vertreter der beiden konträren jüdischen religiösen Richtungen gegenüber. Diese Anordnung bezieht durch die Dominanz des Riesser-Denkmals eindeutig Stellung zugunsten Gabriel Riessers als Symbolfigur für die Integration eines aufgeklärten und liberalen Judentums in die bürgerliche Gesellschaft.
Die Ehrenanlage stellt eine Inszenierung dar, die der ehemalige Staatsrat Dr. Leo Lippmann (1881-1943 durch Freitod) veranlasst hat. Lippmann, seit 1920 allgemein geachteter Staatsrat im Hamburger Senat, war 1933 als Jude aus dem Staatsdienst entlassen worden. Mit seiner Arbeit in der jüdischen Gemeinde fand er - der unter der erzwungenen Tatenlosigkeit litt - eine neue Aufgabe. Im November 1935 in den
Vorstand der Gemeinde gewählt, 1937 zu deren stellvertretenden Vorsitzenden berufen, organisierte er erfolgreich das Finanzressort neu und sorgte für eine Konsolidierung der Finanzen. Als eher weltlich eingestellter Pragmatiker, dem das religiöse Denken, besonders das orthodoxe, fernlag, spielte er dennoch eine zentrale Rolle in der DIG bei der Organisation von Verlegung des Grindel-Friedhofs und Anlage des Ersatzfriedhofs.
Die bevorzugte Anordnung des Denkmals entspreche der historischen Bedeutung Riessers für die Stellung der Juden im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, erklärte Lippmann. Er ordnete an, das "Relief wird vorne angebracht werden müssen". Die zeitliche Bedrängnis, in der sich die jüdischen Gemeinden befanden, erleichterte ihm die Ausrichtung der Anlage nach seinen Vorstellungen. Zu einer anderen Zeit wäre ihm dies sicherlich so nicht möglich gewesen.
Denn seit dem Sommer 1937 war ein heftiger Streit zwischen beiden Gemeinden und damit zwischen liberalem und orthodoxem Judentum um das Riesser-Grabmal entbrannt. Schon die bloße Wiederaufstellung wurde als Provokation empfunden und die Positionierung der Figur muss als deren Steigerung wahrgenommen worden sein. Die Portugiesisch-Jüdische Gemeinde forderte eindringlich, das Grabmal wieder so umzustellen, dass das Relief auf der der Ehrenanlage abgewandten Seite
angeordnet sei. Der von beiden Seiten erbittert geführte und ausufernde Streit dauerte etwa ein Jahr lang. Es kam sogar die Forderung auf, vor dem Denkmal zwei Betonpflöcke zu errichten und eine Zeltplane daran aufzuspannen, um die Frauenfigur zu verdecken.
Im Sommer 1938 schließlich empfahl ein rabbinisches Gutachten für den Fall einer nicht möglichen Schlichtung, das Denkmal umzudrehen, umzugestalten oder die weibliche Figur zu verhüllen, beispielsweise durch Efeu. Wie der Streit endete, ist nicht überliefert. Offensichtlich hat sich die PJG zumindest hinsichtlich Umdrehung oder Umgestaltung nicht durchsetzen können. Die zugespitzte Situation der Juden im Deutschen Reich kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges ließ allerding eine Lösung des Streits vermutlich nicht mehr zu. Das Riesser-Grabdenkmal befindet sich
heute - von einer Restaurierung Mitte der 1980er-Jahre durch das Denkmalschutzamt Hamburg abgesehen - unverändert in dem Zustand, in dem es im Sommer 1937 auf dem Ersatz-Friedhof aufgestellt wurde. Eine Verdeckung mit Efeu ist nicht überliefert.

Jüdische Grabmalkunst aus zwei Jahrhunderten

Auf dem Grindel-Ersatzfriedhof in Ohlsdorf findet sich eine Sammlung von rund 320 jüdischen Grabsteinen aus annähernd zwei Jahrhunderten. Diese stellen allerdings nur einen geringen Teil des gesamten ehemaligen Grabmalbestandes des Grindel-Friedhofs dar.Die größte Gruppe der umgesetzten Grabmale setzt sich aus älteren Grabsteinen zusammen, die aufgrund von Form, Typus, Inschrift und Symbolik auf dem Ersatz-Friedhof museal aufgestellt wurden. Die überwiegende Mehrzahl davon sind typische Vertreter der traditionellen jüdischen Grabmalkunst, schlichte Sandsteinstelen mit geraden, flachbogen- oder dreieckförmigen Oberseiten. Als einzige Schmuckformen sind - wenn überhaupt und mit Ausnahme der Symbole - die geometrisch gestalteten Umrissformen vertiefter Inschrift-Flächen zu beobachten.
Die Steine entsprechen dem auf jüdischen Friedhöfen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gültigen Ideal der Schlichtheit und Bescheidenheit. Die Halacha, die auch das jüdische Bestattungswesen regelt, fordert die unbedingte Ehrung der Verstorbenen. Dazu zählt die Vermeidung einer für den Toten peinlichen Situation; kein Toter soll sich für seinen allzu ärmlichen Stein schämen müssen.
Bei den frühen, bis etwa 1815 entstandenen Steinen sind die Inschriften gemäß der jüdischen Grabsteintradition ausschließlich hebräisch beschriftet und mit Lebensdaten entsprechend der jüdischen Zeitrechnung versehen. Überwiegend befinden sich diese Inschriften auf der Vorderseite der Steine. Auf späteren, d.h. seit dem frühen 19. Jahrhundert entstandenen Steinen, sind zusätzlich zu den traditionellen Inschriften - meist auf der Rückseite - Namen in deutscher Sprache und Schrift, an
einigen zusätzlich Lebensdaten entsprechend der christlichen Zeitrechnung angegeben. Das ist ein Bruch mit der jahrhundertealten Tradition der ausschließlich hebräischen Inschrift und jüdischen Zeitrechnung auf Grabsteinen, der auf zahlreichen jüdischen Friedhöfen festzustellen ist. Dies geht unter anderem auf den Einfluss der Aufklärung desspäten 18. Jahrhundertszurück und ist als Zeichen für die Bemühung
liberaler und reformorientierter Kreise des Judentums nach gesellschaftlicher Assimilation zu verstehen. Diese Neuerung stieß bei der Orthodoxie auf heftigen Widerspruch. Als Kompromiss eines bisweilen hartnäckig geführten Streits setzte sich die o. g. doppelte Inschrift durch.
Seit der Jahrhundertmitte sind die deutschsprachigen Inschriften nicht mehr auf Namen und Lebensdaten beschränkt, es werden biographische Angaben in deutscher Sprache und Schrift hinzugefügt. Auf einigen Steinen sind romantisierende deutsche Trivial-Verse anzutreffen.
Unter den privat versetzten Steine und einem Teil der Altsteine der ehrenhalber Überführten befinden sich neben ebenfalls schlichten, der oben umrissenen jüdischen Grabmaltradition verpflichteten Steinen auch Grabmale, die die Vielfalt der historisierenden Grabmalkunst des mittleren und späten 19. Jahrhunderts dokumentieren. Ähnliche Steine finden sich in geringer Anzahl auch unter den von
der DIG versetzten Denkmalsteinen. Diese historisierenden Grabmale sind häufig aufwendig gestaltet und mit antikisierenden Details wie Voluten und Palmetten, überstehenden profilierten Dreiecksgiebeln oder Eckakroterien ausgestattet. Verschiedene Stelen weisen gotisierende Formen auf, einige davon mit mittelalterlichem Blendmaßwerk. Der Eklektizismus des späteren 19. Jahrhunderts schließlich ist vertreten durch antikisierende Stelen mit gotisierenden Formelementen. Diese historisierende Grabmalgestaltung bedeutet ein Lösen von der traditionellen jüdischen Grabmaltradition und eine Hinwendung zur Grabmalkultur christlicher und kommunaler Friedhöfe, Zeichen der allmählichen Öffnung weiter Kreise des Judentums gegenüber der bürgerlich-christlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert.
Nachdem Sandstein das vorherrschende Grabsteinmaterial bis weit ins 19. Jahrhundert gewesen war, werden in der zweiten Jahrhunderthälfte verstärkt auch andere Materialien verwandt, vor allem Granit in unterschiedlicher Verarbeitung. Insgesamtzeigt die Gesamtheit der auf dem Grindel Ersatzfriedhof stehenden Grabmale einen Querschnitt durch die Grabmalkunst des ehemaligen Grindel-Friedhofs,
wobei jedoch aus der Quantität der Vertreter der einzelnen Stilrichtungen und Grabmaltypen des Ersatzfriedhofs nicht auf deren mengenmäßigen Anteil auf dem ehemaligen Grindel-Friedhof geschlossen werden darf.

Anmerkung

1 Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung mit Ergänzungen von: Eberhard Kändler: Auflösung des
Grindelfriedhofs und Einrichtung eines Ersatzfriedhofs in Ohlsdorf, in: Gil Hüttenmeister, Eberhard
Kändler, Michael Studemund-Halevy: Der Grindel-Ersatzfriedhof auf dem jüdischen Friedhof Ohlsdorf-Ilandkoppel, Hrsg. Kulturbehörde Hamburg, Denkmalschutzamt (Hamburg) 2013

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