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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Gefährliche See

Wer heute an die Nordseeküste in der Nähe des dänischen Limfjords fährt, kann sich an Kilometer langem weißen Sandstrand und hohen Dünen erfreuen. Doch früher war diese Gegend, besonders in der kalten Jahreszeit und wenn Sturm aufkam, alles andere als idyllisch. Wie gefährlich die Seefahrt in den letzten beiden Jahrhunderten dort war, lässt sich noch heute an einer ganzen Reihe von Grab- und Erinnerungsmalen auf dem Kirchhof des ehemaligen Fischerdorfes Harboøre ablesen, an dessen Küstenabschnitt im Laufe der Zeit immer wieder große und kleine Schiffe und sogar ein U-Boot gestrandet sind.

Nicht von ungefähr wurde schon 1847 ganz in der Nähe des Ortes die erste Seenot-Rettungsstation Dänemarks, die "Flyholm Redningsstation", errichtet. Allein in den Jahren 1853 und 1854 wurden von dort aus 73 Einsätze gestartet und 755 Seeleute gerettet. Doch nicht alle Schiffbrüchigen konnten lebend an Land gebracht werden. Im Kirchenbuch ist schon für das Jahr 1794 verzeichnet, dass 6 Männer im Sturm auf See blieben. In der Kirche selbst erinnert eine schlichte Namenstafel an zwei Unglücksfälle, bei denen am 17. November 1862 acht Fischer der Bootsgemeinschaft bzw. Fischergilde von Sören Kirk und am 11. Mai 1863 elf Fischer der Gilde von Anders Vrist ertranken.


Friedhofsplan des Kirchhofs von Harboøre: 1) Grabstätte Alexander Nevskij, 2) Unglück von 1892, 3) Unglück von 1897, 4) 25 Tote des Ersten Weltkriegs, 5) Ehrenhain, 6) Unbekannte Tote (Zeichnung B. Leisner) (1)

Der wohl spektakulärste Rettungseinsatz aber fand am 25. September 1868 statt, als die russische Fregatte Alexander Nevskij auf ihrem Rückweg von einem Besuch in Piräus an dieser Küste entlang nach Hause zurückkehrte. In Griechenland war die Hochzeit des Königs Georg mit der Großfürstin Olga von Russland gefeiert worden und Großfürst Alexej, der Sohn von Zar Alexander II. war mit an Bord. Das Schiff, das sowohl unter Segeln wie mit Dampf fahren konnte, lief bei heftigem Sturm 400 Meter von der Küste entfernt auf Grund. Um ein Kentern zu verhindern, mussten die Masten gekappt und Kanonen ins Meer geworfen werden. Erst als sich der Wind in der Nacht legte, konnte die Rettungsaktion beginnen, bei der das Rettungsboot, Fischerboote und die eigenen Boote der Fregatte zwischen dem Schiff und dem Ufer hin und her pendelten. Während einer dieser Fahrten kenterte eines der kleineren Boote der Fregatte und vier Männer ertranken. Ein weiterer Seemann ging unter, als er an Land zu schwimmen versuchte. 719 Männer wurden gerettet. Das Wrack befindet sich inzwischen knapp einen Kilometer vor der Küste in zehn bis zwölf Metern Tiefe. In der nahegelegenen Hafenstadt Thyborøn und vor der Kirche von Harboøre sind heute die beiden großen Anker der Fregatte als Erinnerungsmale aufgestellt.


Alexey Bogolyubov (1824-1896), Wrack der Fregatte "Alexander Newski", 1868, Öl auf Leinwand; unbekannte Sammlung (https://theartgalleryinthe-world.blogspot.com/2017/11/alexey-bogolyubov…) (2)

Anker der "Alexander Newskij" vor dem Kirchhof von Harboøre

Die fünf Ertrunkenen wurden auf dem Kirchhof begraben. Auf dem kleinen Grabstein sind allerdings nur noch drei Namen zu lesen. Zwei Offiziere wurden nach Russland überführt.

Ganz in der Nähe liegt die Grabstätte mit dem Erinnerungsmal an das größte Unglück, das sich an dieser Küste ereignete. Die meisten Bewohner des Ortes waren Fischer. Sie fuhren vom Strand aus in kleinen Booten auf das Meer. Die Boote waren meistens mit vier Rudern und einem kleinen Segel ausgestattet und mit sechs Mann besetzt. Am Abend des 20. November 1893 stachen fast alle Fischerboote wegen des guten Angelwetters in See. Kurz nach Mitternacht aber nahm der Wind zu. Von Land aus konnte man sehen, dass die Boote Probleme mit dem Zurückkommen bekamen. Einige Boote schafften es durch die Brandung, doch sechs kenterten und 26 Fischer ertranken. Nur vierzehn der Ertrunkenen wurden an Land gespült und auf dem Kirchhof begraben. Auf einem gemeinsamen großen Grabstein sind alle Namen der Ertrunkenen mit ihren Geburtsdaten verzeichnet. Der Älteste zählte 51, der Jüngste 18 Jahre. In der ohnehin schon sehr armen Gegend blieben 74 Kinder mit ihren Müttern ohne Ernährer zurück. Dass es wegen der Beerdigungsrede des Pastors Carl Moe zu einem Zeitungssturm gegen die Innere Mission kam, ist dabei noch eine andere Geschichte.


Grabmal für die drei ertrunkenen Besatzungsmitglieder (4)

Grab- und Erinnerungsmal für die 26 Fischer, die 1893 in der Nordsee ertrunken sind (5)

Vier Jahre später, am 25. Januar 1897, kenterte das Rettungsboot "Lilleøre" bei einem Rettungsversuch und zwölf Männer ertranken. An diesem Tag waren schon früh am Morgen sieben Fischerboote ausgelaufen. Als später Wind aufkam, legten fünf Boote wieder am Strand an. Zwei aber trauten sich nicht, durch die Brandung zu gehen, und gingen draußen vor Anker. Als die Nacht gekommen war, glaubte die angeforderte Rettungsmannschaft auf dem Meer ein Licht zu erkennen, das von einem der beiden Boote kam. Man entzündete ein Strandungsfeuer und stach mit dem Rettungsboot in See. Das Licht war allerdings nicht von den Fischerbooten gekommen, sondern von einem vorüberfahrenden Dampfer. Das Rettungsboot kenterte und keiner von der Besatzung überlebte. Die Toten ließen zehn Witwen und 26 Halbwaisen zurück, wobei einige Familien besonders hart getroffen wurden, weil mehrere ihrer Männer dem Meer zum Opfer fielen. An das Unglück erinnert ein besonders eindrucksvolles und großes Denkmal: Auf dem hohen rötlichen, vorn abgeschliffenen Felsen ist ein Radkreuz, begleitet von zwei Lilienstengeln, eingemeißelt. Davor liegt eine Steinplatte, die mit den Namen und Geburtsdaten der Ertrunkenen beschriftet ist. Die beiden sehr aufwendigen Grabmale von 1893 und 1897 können nicht von Dorfbewohnern selbst finanziert worden sein. Die Unglücksfälle sorgten in ganz Dänemark für Anteilnahme und so wurden diese Erinnerungsmale wahrscheinlich durch Spenden ermöglicht.


Grabstätte der zwölf Ertrunkenen des Unglücks von 1897 (6)

Der Erste Weltkrieg brachte es mit sich, dass an der Küste Leichen von Soldaten angetrieben wurden. Als bei einem - nicht näher zu eruierenden - Minenunglück 25 Soldaten ertranken, sorgte die deutsche Regierung für deren Begräbnis und ein ehrendes Erinnerungsmal, auf dem der Satz "Es starben für ihr Vaterland" zu lesen ist. Darunter stehen die Namen von elf Ertrunkenen mit dem Zusatz "14 unbekannte deutsche Marineangehörige". Zu beiden Seiten des Hauptsteins liegen vier kleinere Steinplatten mit Namen und zum Teil auch Lebensdaten von sechs weiteren deutschen Toten. Ein kleines Stück von dieser großen Grabanlage entfernt sind sechs weitere Soldaten bestattet, von denen einer aus England stammt. An ihn erinnert eine - für die englischen Soldatengräber typische - Stele aus hellem Sandstein.


Grabstätte für 31 deutsche Marinesoldaten des Ersten Weltkriegs (7)

Grabstätte für einen englischen und fünf deutsche Soldaten des Ersten Weltkriegs (8)

Wie in Deutschland wurden auch an der dänischen Nordseeküste Tote angeschwemmt, die niemand identifizieren konnte. Seit wann sie in der Nordwestecke des Friedhofs begraben wurden, ist nicht sicher. Allerdings heißt es 1916 in einem Zeitungsartikel, dass der Friedhof aufgrund der vielen angetriebenen deutschen Leichen zu klein wurde. Es wäre also möglich, dass eine schon außerhalb des Friedhofs vorhandene Grabstätte später in die Friedhofserweiterung einbezogen worden ist. Auf jeden Fall erhielt sie einen Erinnerungsstein, der von demselben Bildhauer - Thorvald Westergaard aus dem nahen Lemvig - geschaffen wurde, der ganz in der Nähe eine große Erinnerungswand für die auf See gebliebenen Fischer des Ortes als Gedenk- und Trauerort für die Angehörigen entworfen und angefertigt hat. Sie besteht aus zwei Mauern mit großen Ziegelsteinen, auf denen die Namen und Daten der seit 1900 auf See gebliebenen Männer des Ortes eingraviert sind. In der Mitte zwischen ihnen ist ein Marmorrelief mit der Darstellung einer Mutter eingesetzt, die ihren Sohn verabschiedet. Dieses Relief wurde 1940 in der Zeitschrift "Vore Kirkegaarde" im Bild vorgestellt, so dass man annehmen kann, dass die Anlage aus dieser Zeit stammt.


Erinnerungsmal für auf See gebliebene Fischer von Thorvald Westergaard (9)

Der Text unter dem Relief heißt auf Deutsch "Ehrenhain auf dem Harboøre Kirchhof/ Sie kämpften auf dem Meer um das tägliche Brot / und fanden dort draußen den bitteren Tod;/ einmal in der Dämmerung der Auferstehung / wird Gott sie wieder zum Leben rufen. Aage Dyrkjøb". Das Denkmal für die dem kleinen Relief eines Segelschiffes im Sturm und dem schlichten Satz beschriftet: "Stumm und unbekannt kamen sie an das Land, aber ihre Namen sind am Ufer der Ewigkeit bekannt. / Offenbarung 20,11-15".


Grabmal für unbekannte Seeleute (10)

Nur selten ist auf einem Begräbnisplatz eine solche Fülle von Grab- und Erinnerungsmalen für ertrunkene Fischer, Soldaten und Seeleute zu finden. Auf dem Kirchhof von Harboøre zeugen diese Zeichen noch heute davon, wie hart und gefährlich das Leben an der Küste in den letzten beiden Jahrhunderten gewesen ist. Zugleich zeigen sie auch, dass die Menschen aufgehört haben als Fischer zu leben: Der letzte Eintrag auf der Mauer des Ehrenhains stammt aus dem Jahr 1969. Ab dieser Zeit lohnte sich offenbar der Tourismus mehr als die hergebrachte Lebensweise der Bewohner als Fischer und so wird auch die Rettungsstation inzwischen nur noch als Museum genutzt.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Schiffbrüche und Erinnerungsorte (September 2023).
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