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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Die Spanische Grippe - Spurensuche auf dem Ohlsdorfer Friedhof

Die Spanische Grippe, die von 1918 bis 1920 als Pandemie Millionen Opfer forderte, wird auch die vergessene Pandemie genannt.

Tatsächlich hatte sie sich nicht im kollektiven Bewusstsein verankert, und auch die Quellenlage ist insgesamt eher lückenhaft, was schon die ungeheure Spanne der möglichen Opferzahlen zeigt - weltweit 20 bis 50 Millionen Tote oder mehr. Mittlerweile sind einige Bücher erschienen, die sich dem Thema mehr oder weniger global widmen, und seit Beginn der Covid 19-Pandemie werden häufiger Vergleiche zwischen den beiden Krankheiten angestellt. Das ist aber hier nicht das Thema, sondern die Frage, was sich über die Auswirkungen der Spanischen Grippe in Hamburg herausfinden lässt.

Zunächst ein Blick in die statistischen Jahrbücher der Stadt. Für die meisten Jahre gibt es nur Gesamtzahlen pro Jahr und Todesursache, aber gerade für 1918 liegen hier monatliche Zahlen vor. Sind es im ersten Halbjahr jeweils weniger als 10 Influenza-Tote pro Monat, steigt die Zahl beim ersten Auftreten im Juli auf 68. Nach Rückgang im August und September auf 17 und 25 Fälle schnellt die Zahl im Oktober hoch auf 1112. Allerdings verzeichnet bereits der November einen Rückgang auf 326. Und von da ab sinken die Zahlen noch weiter. 1918 starben laut Statistik insgesamt 1879 Menschen an der Grippe.1 Für 1919 und 1920 sind leider keine monatlichen Zahlen veröffentlicht, aber das erneute Auftreten 1920 traf Hamburg auf jeden Fall weniger heftig, da für das gesamte Jahr nur 1214 Tote durch Influenza verzeichnet sind.2

Diese Angaben sagen aber nichts aus über die Zahl der Erkrankten. Das Stöbern in der damaligen Tagespresse, um einen Eindruck von der Lage zu bekommen, ist allerdings mühsam und bringt auch nur einzelne Bruchstücke, denn die Spanische Grippe war auf Befehl übergeordneter Stellen kein „Top-Thema“. Die Schlagzeilen blieben den Ereignissen in der letzten Phase des Ersten Weltkriegs vorbehalten. Selbst im Oktober 1918, also zum Höhepunkt der Pandemie, findet man die Meldungen oft nur verstreut im Lokalteil, eventuell noch hinter der Preiserhöhung für Petroleum und dem Bericht über Ringkämpfe beim "Zirkus Hagenbeck". Aber es ist erkennbar, dass das öffentliche Leben nicht unberührt blieb. So wurden zum Beispiel die Herbstferien um mehrere Tage verlängert. Wegen vieler Krankheitsfälle forderte die Hochbahn die Fahrgäste mehrfach auf, man möge „wenn kein Personal zur Stelle ist, beim Ein- und Aussteigen die Türen selbst öffnen und schließen.“3 Stark betroffen war auch das Fernsprechamt. Am 24. Oktober waren über 850 der damals noch unverzichtbaren „Fräulein vom Amt“ erkrankt, so dass einige Einschränkungen angekündigt wurden.4 Und zur Situation in den Krankenhäusern wurde mitgeteilt, in der Krankenanstalt Friedrichsberg wären "für die Aufnahme Grippekranker mehrere hundert Betten frei. Die übrigen Krankenhäuser sind überfüllt und nicht mehr aufnahmefähig."5

Der starke Anstieg der Todesfälle im Oktober 1918 muss sicherlich Auswirkungen auf den Beerdigungsbetrieb gehabt haben. Ein Blick in die alten Ohlsdorfer Registerbücher zeigt, dass die Bestattungszahlen in der zweiten Oktoberhälfte 1918 mit bis zu 170 Bestattungen pro Tag mehr als doppelt so hoch waren wie sonst in dieser Jahreszeit. Aber anders als bei der Cholera-Epidemie 1892 lassen sich keine Hinweise finden, dass dadurch Probleme entstanden wären.


Das Grab der Familie Ballin - Q10, 420-29

Auch beim Gang über den Friedhof wird man bei den Grabinschriften kaum Hinweise auf die Spanische Grippe als Todesursache entdecken. Nur durch zufällige Funde biografischer Angaben stößt man auf solche Schicksale, so zum Beispiel auf das der Adoptivtochter Albert Ballins, Irmgard, verheiratete Bielfeld, die mit 26 Jahren an der Spanischen Grippe starb. In dem 2018 erschienenen Buch „Albert Ballin – Vater Unternehmer Visionär“ schildert der Autor Klaus Eichler6, dass es nach Ballins plötzlichen Tod am 9. November 1918 in der allgemeinen Verwirrung zunächst nicht klar war, wo sich sein Leichnam befand. Irmgard, die sich auf die Suche nach ihrem Vater machte, kam dabei durch sämtliche Leichenhäuser Hamburgs. Daher wurde vermutet, dass sie sich dort angesteckt habe. Sie verstarb am 7. Dezember, genau vier Wochen nach Albert Ballin.

Ergänzend sei noch angemerkt, dass in dem Buch natürlich auch auf die Frage eingegangen wird, ob Albert Ballin tatsächlich Selbstmord beging. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass ein Suizid zwar nicht mit Sicherheit auszuschließen ist, die unbeabsichtigte Einnahme einer zu hohen Dosis eines sonst auch verwendeten Medikaments aber auf jeden Fall wahrscheinlicher ist.

Ebenfalls mit 26 Jahren starb am 18. Oktober 1918 Anna Katharina Kittler, geb. Reese, an der Spanischen Grippe. Die junge Frau war 1892 im Kreis Eiderstedt geboren und lernte ihren Mann Heinrich Kittler 1917 kennen, als er wegen einer Gasvergiftung in Husum im Lazarett lag. Kittler, der Lehrer war, überlebte die Grippe. Er erwähnte den Tod seiner Frau in einem Antrag an die Oberschulbehörde auf Bewilligung eines Erholungsaufenthaltes. Dieser Antrag ist in seiner Personalakte erhalten geblieben und im Staatsarchiv einsehbar.7 Ebenfalls ist dort eine Biografie vorhanden, verfasst von Imke Wendt, vermutlich eine Schülerin der Schule, in der er als Leiter tätig gewesen war. Sie hatte sich für Kittler interessiert, da er sich nochmals verheiratete, diesmal mit einer jungen Lehrerin aus jüdischer Familie, Elsa Keibel, und während der Nazizeit zu seiner Frau hielt, mit allen Konsequenzen, die sich für „jüdisch versippte“ Beamte damals daraus ergaben. Imke Wendt interviewte Kittlers Tochter aus dieser Ehe, aber nicht alles, was sie dort erfuhr, ist auch richtig, denn die Tochter war der Meinung, zwischen Heinrich Kittler und Anna Katharina Ree-se sei es nur „eine Liebschaft“ gewesen.8Auf dem Familiengrab Kittler gibt es für sie keinen Stein, der das Gegenteil belegen würde, aber die Standesamtseinträge zeigen, dass die beiden tatsächlich verheiratet waren. So ist sie also eines der vergessenen Opfer dieser „vergessenen Pandemie“.


Grabstein der Familie Kittler - Grablage K30, 504-05

Quellen:
1 Statistisches Handbuch für den Hamburgischen Staat, Ausgabe 1920, Hamburg 1921
2 Statistisches Jahrbuch für die Freie und Hansestadt Hamburg 1925, Hamburg 1926
3 Neue Hamburger Zeitung, 21. Oktober 1918
4 General-Anzeiger für Hamburg-Altona, 24. Oktober 1918
5 Hamburger Anzeiger, 23. Oktober 2018
6 Klaus Eichler, Albert Ballin – Vater Unternehmer Visionär, Hamburg 2018
7 StaH 361-3 Schulwesen Personalakten A 1253
8 StaH 362-9/2 Gesamtschule Poppenbüttel Abl. 2004/3, Nr. 20 Manuskript von Imke Wendt: „Heinrich Kitt-ler – Ein Schicksal im Dritten Reich“

Literatur:- Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber: Wie die Spanische Grippe die Welt veränderte, Darmstadt 2018

Fotos: Petra Schmolinske

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