Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Zweites Empfehlungsschreiben zur Aufnahme der "Friedhofskultur in Deutschland" in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes

Der Verfasser ist Professor am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg und Mitglied im Vorstand sowie Beirat für Grundlagenforschung der AG Friedhof und Denkmal e.V. in Kassel.

Friedhöfe sind seit Jahrhunderten zentrale Orte der Erinnerungskultur. Sie sind Schauplätze von Ritualen und Abschiedskultur am konkreten Ort der Bestattung. Darüber hinaus haben sie eine hohe symbolische Bedeutung im gesellschaftlichen und kulturellen Sinn – denn Friedhöfe sind Orte des Gedächtnisses. So lässt sich Friedhofskultur als eine immaterielle "Gedächtnislandschaft" lesen, die Zeugnis ablegt von kulturellen und gesellschaftlichen Zäsuren und Verwerfungen, von Traditionen und Utopien.

Friedhofskultur repräsentiert auf dieser immateriell-symbolischen Ebene den historisch wechselvollen Umgang mit dem Tod und den Toten. Sie sagt etwas aus über Bestattungs- und Trauerkultur in verschiedenen Epochen, welche Muster dabei entwickelt wurden und in welcher Beziehung sie zur jeweiligen Gesellschaft standen. In ihr lässt sich, wie es Hermann Lübbe formulierte, "Vergangenes gegenwärtig" halten. Im sepulkralen Raum speichert Friedhofskultur als Gedächtnislandschaft Biografien, Mentalitäten, konfessionell unterschiedliche Religionen und Glaubensformen, gesellschaftliche Strukturen, Geschlechterbeziehungen sowie nicht zuletzt lokale und regionale Spezifika.

So kann die Friedhofskultur als Geschichte eines Raumes interpretiert werden, der – ursprünglich "leer", bisweilen weit vor den Toren der Städte gelegen – im Lauf der Zeit je nach gesellschaftlichem Kontext mit immateriellen Inhalten gefüllt wurde. Deren Interpretation wiederum verweist auf soziale, wirtschaftliche, religiöse, technische oder gartenarchitektonische Entwicklungen. Sie gibt zugleich Aufschlüsse über historische Perioden in Bezug auf Gefühlsstrukturen und Machtverhältnisse einerseits und ästhetische Gestaltungsvorlieben und Zeitströmungen andererseits. Kurz gesagt, sind Friedhöfe zu einer "Schatzkammer" für Kultur und Gesellschaft geworden.


Jüdischer Friedhof in Hannover. Foto: Norbert Fischer

Dies gilt auch für die Gegenwart. Die wachsende Vielfalt unterschiedlicher Bestattungsstile im frühen 21. Jahrhundert führt zum Wandel der Friedhofskultur. Eine wichtige Rolle spielt dabei die stetig steigende Zahl von Feuerbestattungen und Aschenbeisetzungen. Die Aschenbeisetzung ist zum sepulkralen Signet der postmodernen Gesellschaft mit ihren flexibleren gesellschaftlichen Strukturen geworden. Die platzsparende Urnenbestattung eröffnet neue Gestaltungsmöglichkeiten jenseits des klassischen Reihen- oder Familiengrabes. So sind ganz unterschiedlich geformte Gemeinschaftsfelder entstanden – als jeweils mit besonderer Symbolik versehene Miniaturlandschaften. Der "Friedgarten Mitteldeutschland" und der "Naturfriedhof Fürstenzell" bei Passau haben die herkömmliche Friedhofsstruktur vollkommen aufgegeben und stattdessen intime Gemeinschaftsfelder mit namentlich gekennzeichneten Erinnerungsorten geschaffen. Auch naturlandschaftlich orientierte Themenfelder wie der "Schmetterlings-" oder "Apfelgarten" verweisen auf gemeinschaftsorientierte Symbolik.

Viele gewachsene Friedhöfe sind in ihrem Bestand gefährdet. Die Substanz alter Grabsteine ist häufig angegriffen, innerstädtische Friedhofsflächen werden nicht selten zu anderen Zwecken begehrt. Der Untergang historischer Friedhöfe würde den unwiderruflichen Verlust repräsentativer Zeugnisse vergangener Zeiten und Kulturen bedeuten. Vielleicht ist es gerade das Wissen um ihren drohenden Untergang, warum sich – nicht nur in Deutschland ¬– vielerorts zivilbürgerliche Initiativen ehrenamtlich um den Erhalt der Friedhofskultur bemühen.

Die drohende Verflüchtigung historischer Gedächtniskultur verleiht nicht nur den historisch gewachsenen Friedhöfen ihre Faszination. Sie ist zugleich Mahnung, auch künftigen Generationen diesen Blick zurück zu ermöglichen und sich in der Jetztzeit der Bedeutung der heutigen Friedhofskultur für das Gedenken von morgen bewusst zu sein. In diesem Sinne gilt es besonders, sich aktuell für den Erhalt des Kulturraumes Friedhof als auch künftiger Gedächtnislandschaft einzusetzen.

Hamburg, 19. Oktober 2015
Foto: Norbert Fischer

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Friedhof als "Immaterielles Kulturerbe" (Mai 2020).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).