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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

"Erinnere Dich der Nichtigkeit des Lebens": Die Epitaphien in St. Marien zu Stendal

Stendal in Sachsen-Anhalt, zur Zeit der Hanse eine wirtschaftlich blühende Stadt, dokumentiert ihre Vergangenheit nicht nur in fünf Kirchen - dem Dom, der Marienkirche, St. Petri, St. Anna und St. Katharinen.

In Gestalt von mehr als 200 vorzüglich erhaltenen Totengedenktafeln (Epitaphien) in diesen Gotteshäusern verfügt sie über höchst eindrucksvolle und vortrefflich erhaltene Zeugnisse der bürgerlichen Sepulkralkultur aus dem 16. bis 19. Jahrhundert.

Allein in der spätgotischen (erneuerten), 1447 ihrer Bestimmung übergebenen Marienkirche sind 55 dieser Epitaphien zu finden. In bewegenden Texten erinnern sie nicht nur an die Toten, denen meist kein langes Leben beschieden war, sondern mahnen den Betrachter an die Endlichkeit ihres irdischen Daseins.

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"Epitaphien in St. Marien in Stendal" (Foto: Schreiber)

Es sind, wie gesagt, Gedenktafeln, keine Grabsteine. Wie die Historikerin Dr. Martina Gaß aus Detmold, die sich viele Jahre wissenschaftlich mit den Kirchen Stendals beschäftigt hat (und der an dieser Stelle für ihre Hilfe zu danken ist) dazu schreibt, wurde in Stendal bis Mitte des 19. Jahrhunderts im unmittelbaren Umkreis der Kirchen beerdigt. Möglicherweise dienten aber auch die 26 Kapellen der Marienkirche als Erbbegräbnisstätten, denn die räumliche Enge im unmittelbaren Umkreis der stattlichen Backstein-Hallenkirche ließ wahrscheinlich nur wenige Grabstätten zu. Ab dem genannten Zeitpunkt jedoch fanden die Toten auf einem großen Friedhof vor der Stadt ihre letzte Ruhe.

Die Grabplatten der innerstädtischen Friedhöfe fanden sodann zum Teil höchst profane Verwendungen. Die Domgemeinde Stendals veräußerte sie als Baumaterial; sie sind, in Fragmenten, noch heute als Treppenstufen in Privathäusern der Innenstadt zu finden. Die Mariengemeinde nutzte die Platten jedoch zur Auspflasterung des Kircheninnern. Zuweilen hat es sich gefügt, Bruchstücke zusammenzubringen und so Einzelheiten wie Namen, Lebensdaten und Näheres über den gesellschaftlichen Stand dessen zu erfahren, dem das Monument einst galt.

Die Epitaphien in St. Marien zu Stendal indes befinden sich der Historikerin zufolge schon seit ihrer Herstellung (16. bis 19. Jahrhundert) an Ort und Stelle. So ist es zu erklären, dass sie - im Schutze des geschlossenen Raums - sämtlich in einem herausragend guten Zustand sind. Martina Gaß zufolge lässt sich keine Restaurierung an ihnen dokumentieren - ein Beweis für die hohe Handwerksqualität der Steinmetze, die sich besonders in den so gut verständlichen und ohne Schwierigkeiten zu lesenden Inschriften äußert.

So heißt es zum Beispiel am Epitaph der Geschwister Krütze:

Sei stille, Wandersmann, und betrachte allhier zwei unverwerfliche Zeugnisse des menschlichen Lebens.
Dieser Stein zeigt Dir die betränte Gruft zweier junger Persohnen,
nehmlich eines Jungherrn und einer Jungfer,
die beide in der besten Blüthe ihrer Jahre haben verwelcken müßen.
Daniel Friedrich Krütze
Kauff- und Handelsmann allhier
28. Marty 1723
19. April 1750
Jungfrau Dorothea Elisabeth Krütze
eine würdige Convutalin des Klosters zu St. Annen in Stendal
23. Sept. 1721
eine Verlobte Jesu des Bräutigams der Seelen
Aufnahme in das sel. Himmelskloster 13. Aug. 1750

Gehe nun hin, o Leser, und erinnere Dich zu allen Zeiten hiebey der Nichtigkeit des Lebens denn es fähret schnell dahin als flögen wir davon.

Welchen Schicksalsschlägen Familien in den vergangenen Zeiten hierzulande ausgesetzt gewesen sind, zeigt unter anderem die Inschrift eines weiteren Epitaphs in St. Marien zu Stendal:

Unter diesem Stein ruhen sechs erblaßte Brüderlein und zarte Kinder christlicher Eltern
Herrn Jacob Werckenthin und Frau Dorothea Struven nehmlich

Joh. Jacob, gebohren d. 15. October 1725 gestorb. d. 8. Jan. 1726
Joh. Friedrich, gebohren d. 28. Dec. 1726 gestorben d. 16. April 1728
Joh. Christian, gebohren d. 7. April 1736 gestorben d. 25. Febr. 1737
Joh. Christian, gebohren d. 15. Sept. 1737 gestorben d. 10. April 1738
Joh. Christian, gebohren d. 1. Sept. 1740 gestorben d. 21. Dec. 1740
Joh. Friedrich, gebohren d. 26. Nov. 1734 gestorben d. 7. April 1745

welche alle nach Gottes heiligen Willen bald vollkommen worden und wovon die fünf ersteren ihrem seeligen Vater in die Ewigkeit vorgegangen wozu uns alle der Herr bereiten wolle

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"Epitaph der Stendaler Familie Werckenthin" (Foto: Schreiber)

Wenn auch die Epitaphien für den "Ohlsdorf"-Leser von besonderem Interesse sind: Mit den Apostelfiguren (um 1230), den Chorschranken (um 1490), der hochgotischen Kreuzigungsgruppe aus dem 14. Jahrhundert, der bronzenen Taufe (1474) und der astronomischen Uhr aus dem späten 16. Jahrhundert - um nur einiges zu nennen - verdient St. Marien einen aufmerksamen Aufenthalt darüber hinaus. Und nicht nur die Selbstbewusstsein repräsentierenden stattlichen sakralen Backsteinbauten erinnern an den einst so mächtigen Bund der Hanse, sondern auch die Kopie der Rolandsfigur (1525), die direkt vor St. Marien die Wacht hält. Und zu erinnern ist an den französischen Schriftsteller Marie Henri Beyle (1783 - 1842), der sich nach dem damals so geschriebenen Namens der Stadt Stendhal nannte.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Urne im Wohnzimmer? (Mai 2003).
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