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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Nekropolis - Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden - Vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert

Vom 7. bis 9. November 2003 wurde auf einer von rund 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmern besuchten interdisziplinären Tagung im Kloster Irsee die Funktion des Friedhofs in Gesellschaft, Kultur und Religion beleuchtet sowie gegenwärtige Tendenzen der Erinnerungskultur skizziert.

Konzipiert und geleitet wurde die Tagung von Norbert Fischer (Universität Hamburg) und Markwart Herzog (Wissenschaftlicher Bildungsreferent, Schwabenakademie Irsee).

Im einleitenden Vortrag untersuchte Reiner Sörries, Leiter des Kasseler Zentralinstituts und Museums für Sepulkralkultur, das Erscheinungsbild sowie die religiöse und soziale Funktion des mittelalterlichen christlichen Kirchhofs. Sörries wies darauf hin, dass in den mittelalterlichen Quellen nicht vom „Kirchhof”, sondern vom „coemeterium” (Ruhestätte) gesprochen wurde. Die Hauptaufgabe des Coemeteriums war die Befriedung des im alten Glauben spannungs- und konfliktreichen Verhältnisses zwischen Lebenden und Toten. Die wachsende Dominanz hygienischer Erkenntnisse führte dann im Zeitalter von Aufklärung und Reform zu einer umfassenderen Welle von Friedhofsverlegungen, die in fast allen deutschen Städten früher oder später zur Anlage außerstädtischer Begräbnisplätze in der Ära um 1800 führte. Dieses Phänomen untersuchte die Kulturwissenschaftlerin Barbara Happe (Universität Jena) vor allem am Beispiel des Dessauer Neuen Begräbnisplatzes. Dieser 1787 eingerichtete Friedhof bietet nicht nur ein frühes instruktives Beispiel für ästhetisch gepflegte Begräbnisplätze, sondern er zeigte auch – zumindest vorübergehend – Formen der im Zeitalter von Aufklärung und Revolution propagierten „anonymen Beisetzung”. Auf die sich im 19. Jahrhundert vollziehende „Ästhetisierung der Friedhöfe” ging die Hamburger Kunsthistorikerin Barbara Leisner ein. Sie wies nach, dass die amerikanische „rural cemetery”-Bewegung wichtige Einflüsse auf die deutsche Friedhofsgeschichte ausübte und die Gestaltung der frühen deutschen Parkfriedhöfe in Kiel, Bremen und vor allem in Hamburg-Ohlsdorf prägte.

In der Sektion „Der besondere Friedhof” untersuchte Helmut Schoenfeld (Hamburg) die Wechselwirkungen zwischen den Soldatenfriedhöfen und der Friedhofsreformbewegung im frühen 20. Jahrhundert. Er stellte einen grundlegenden Einfluss der frühen Friedhofsreform auf die Gestaltung von Soldatenfriedhöfen des Ersten Weltkriegs fest. Namhafte Persönlichkeiten der Friedhofsreformbewegung beteiligten sich an den Entwürfen für Soldatenfriedhöfe. Die Kieler Kunsthistorikerin Michaela Henning berichtete aus ihren Forschungen über Privatfriedhöfe und Mausoleen in Schleswig-Holstein und Hamburg. Diese sich an romanischen, gotischen und klassizistischen Stilformen orientierenden Bauten standen – unter dem Einfluss der englischen Parkästhetik – häufig in landschaftlich prominenter Lage. War der Mausoleumsbau lange Zeit ein Privileg des ländlichen Adels gewesen, so ließen Ende des 19. Jahrhunderts auch großbürgerliche Auftraggeber stattliche Mausoleen errichten. Norbert Fischer untersuchte den Wandel des Umgangs mit dem Tod in den „hydrografischen Gesellschaften” der Nordseeküste. Am Beispiel der Namenlosenfriedhöfe für nicht identifizierbare Strandleichen konstatierte er einen im 19. Jahrhundert hegemonial werdenden Einfluss der bürgerlich-städtischen Kultur auf die zuvor relativ autonomen Küstengesellschaften – wichtigste Katalysatoren waren das aufkommende Seebäder- und Seenotrettungswesen. Der Volkskundler Michael Prosser (Universität Würzburg) erläuterte die Bestattungsorte totgeborener Kinder vor dem Hintergrund der christlichen Frömmigkeitspraxis und des sie tragenden Jenseitsglaubens. Da den totgeborenen oder kurz nach der Geburt verstorbenen Kindern die Taufe verwehrt wurde, blieb ihnen auch die christliche Bestattung innerhalb des Friedhofs versagt. Deshalb versuchten die Eltern bis ins 19. Jahrhundert hinein, z.B. durch die Anrufung der Fürbitte von Heiligen, ein kurzzeitiges mirakelhaftes Wiederaufleben ihrer Kinder herbeizuführen, so dass diese getauft und in geweihter Erde beigesetzt werden konnten.

Die nächste Sektion befasste sich mit den Friedhöfen anderer Kulturen und Religionen. Der Islamwissenschaftler Thomas Lemmen (Berlin) widmete sich den vielfältigen Schwierigkeiten moslemischer Bestattungs- und Friedhofskultur in Deutschland. Alfred Etzold (Berlin) berichtete über jüdische Friedhöfe in Berlin, über Bestattungstraditionen und die Bedeutung hebräischer Inschriften. An ausgewählten jüdischen Friedhöfen in Berlin, darunter auch Weißensee als derzeit größtem jüdischen Friedhof Europas, stellte er deren Erhaltenszustand vor. Der Historiker Karl Schlögel erläuterte an Hand von Beispielen aus dem osteuropäischen Raum, warum Friedhöfe „Dokumente sui generis” sind und sich als aussagekräftige historische Texte bzw. Palimpseste lesen und auswerten lassen. Schlögel befragte sie zum Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit, Multiethnizität und Multikulturalität – der Friedhof als „Vielvölkerstaat”. Die Ethnologin Dorle Dracklé (Universität Bremen) stellte die Bestattungskultur einer sozialschwachen Region in Portugal, dem Alentejo, vor. Die soziale Topographie des Friedhofs entspricht jener der dazugehörigen Stadt.

Die abschließende Sektion widmete sich neuen Formen des Totengedenkens und der Erinnerungskultur. Gudrun Schwibbe und Ira Spieker (Universität Göttingen) stellten am Beispiel der seit Anfang der 1990er-Jahre eingerichteten sog. „Internet-Friedhöfe” repräsentative Formen digitalen Erinnerns und Gedenkens und deren soziokulturelle Bedeutung vor. Andrea Gerdau (Frankfurt a.M.) referierte neue Resultate ihrer Forschungen über „Kreuze am Straßenrand”, eine verbreitete Form moderner Trauerkultur für Verkehrstote. Markwart Herzog untersuchte – u.a. am Beispiel des 1. FC Kaiserslautern – wie Sportvereinsgemeinschaften in ihre generationenübergreifende Kontinuität das Gedächtnis an verstorbene Spieler, Fans und Funktionäre einbeziehen. Zur Darstellung kamen traditionelle Medien der Totenmemoria wie z.B. Kriegerdenkmäler und deren sich ändernden Funktionszuschreibungen, Todesanzeigen, Gedächtnisfeiern und (Mannschafts-)Fotos. Gerhard Robert Richter beschäftigte sich im abschließenden Vortrag mit aktuellen Tendenzen der Friedhofs- und Bestattungskultur. Im Rahmen veränderter gesellschaftlicher Bedürfnisse und den damit verbundenen neuen Todesbildern werden die klassischen Familiengrabstätten zunehmend verschwinden und neuen Beisetzungsformen, wie besonders gestalteten Gemeinschaftsanlagen, Platz machen. Die Integration der Friedhöfe in die Wohngebiete wird eine größere Rolle spielen als bisher. Zugleich werden Beisetzungsorte außerhalb des Friedhofs (Beispiel „Friedwald”) an Bedeutung gewinnen.

Resümierend kann man festhalten, dass der Paradigmenwechsel, der im spätantiken Christentum eingesetzt hatte, heute immer mehr zurückgefahren wird: Die Trennung der Toten von den Lebenden wird dadurch relativiert, dass die Memorial- und Bestattungsorte in öffentliche Räume eindringen, die eigentlich anderen Zwecken gewidmet sind. Obendrein werden kollektive Zuständigkeiten zunehmend abgelöst durch die Familien. Individuellere Formen und Initiativen der Sorge um die Verstorbenen, und auch deren Finanzierung (Abschaffung des Sterbegeldes), sind signifikante Belege für diesen Entwicklungstrend. Die für den Druck überarbeiteten Ergebnisse der Tagung sollen im Herbst 2004 – herausgegeben von den Berichterstattern – als Band 10 der Reihe „Irseer Dialoge: Kultur und Wissenschaft interdisziplinär” im Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, erscheinen.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Baumbestattungen (Februar 2004).
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