Scharlach, Keuchhusten, Lungen- oder Blinddarmentzündung im Kindesalter: Heute kaum noch ein Problem. Doch vor hundert, hundertfünfzig Jahren hielt der Tod reiche Ernte in den davon betroffenen Familien.
Gelegentlich sind in Ohlsdorf noch Grabsteine aus jener Zeit zu finden, auf denen gleich die Namen mehrerer Geschwister verzeichnet sind, oft in kurzen Abständen gestorben. So zum Beispiel das beeindruckende, von einem sitzenden, die Totenwache haltenden Engel in Knabengestalt gewissermaßen beschützte Grabstätte der Familie Carl Martin und Auguste Philippi innerhalb der stattlichen Gemeinschaftsgrabanlage des gleichnamigen Familienverbandes bei Kapelle II. "Hier ruhen drei geliebte Kinder", heisst es auf der bronzenen Platte des Steines: Hermann, Carl Martin und Helene, 1902 innerhalb von nur sechs Wochen im fünften, im siebten und im neunten Lebensjahr verstorben.
Wurde der Tod der Jüngsten in den Familien zwar nicht als selbstverständlich, so doch als immer währende Bedrohung gesehen? Wurde er als nicht abwendbares Schicksal hingenommen? Und tröstete man sich mit den weiteren Kindern in der Familie? Wie Kindestod und Trauer zumindest in den gutbürgerlichen und überzeugt evangelisch geprägten Familien Hamburgs empfunden und ausgelebt wurde, hat die 1808 in Hamburg geborenen Elise Averdieck beschrieben – in ihren Kinderbüchern "Karl und Marie", "Roland und Elisabeth" und "Lottchen und ihre Kinder". Die Verfasserin begeisterte sich für die pietistische Erweckungsbewegung, war mit dem Initiator der Inneren Mission, Johann Hinrich Wiechern, befreundet und gründete eine christliche Elementarschule für Jungen.
In "Karl und Marie", einem innig verbundenen Geschwisterpaar, erschienen um 1850, werden die jungen Leser am Schluss der "Sammlung von Erzählungen" mit dem Tod von Marie konfrontiert. Sie stirbt zu Hause an "heftigen Kopfschmerzen" und folgt dem zuvor jung gestorbenen Bruder Edmund. Gemeinsam legen Eltern und vier Geschwister das kleine Mädchen in den Sarg, schmücken den Leichnam mit Blumen und betten Marie mit dem Choral "Fahr’ hin, du theures Kind, fahr’ hin" im eigenen Garten neben Edmund zur letzten Ruhe. Dann wird es für lange Zeit im Elternhaus ruhig. Die Mutter geht ihren Verpflichtungen nach "... sehr freundlich, wenn sie auch oft Thränen in den Augen hat". Und Karl "sitzt oftmals allein in einer Ecke auf der Treppe oder hinter dem großen Schrank und weint ..." Getröstet werden die jungen Leser vor 150 Jahren am Schluss des Buches damit, dass die Mutter über die Seligkeit und Fröhlichkeit von Marie im schönen Himmel berichtet – verknüpft mit der Ermahnung, wie das selige Schwesterchen fleißig und folgsam sei.
Im nach "Roland und Elisabeth" übernächsten Folgeband "Lottchen und ihre Kinder", erschienen um 1860, geht die Mutter in einem Brief an den inzwischen zum Jüngling gewordenen Karl auf den gestorbenen älteren Bruder Edmund ein, der zu jener Zeit 18 Jahre alt geworden wäre. Ganz besorgt, so schreibt sie in der Erzählung ihrem Sohn, habe er nach Karls Geburt gefragt, ob der liebe Gott das Brüderchen auch wieder abhole. Auf die Antwort der Mutter "Wir wollen ihn bitten, dass er das noch lange nicht thut", habe der damals dreijährige Edmund gebetet: "Lieber Heiland, bitt, hol’ den kleinen Bruder nicht wieder ab, wir wollen ihn so gern behalten".
Auch dieses Buch endet mit dem Tod eines nicht zur Familie gehörenden Kindes, eines an Blattern erkrankten kleinen Mädchens. Sollte es gesunden, würde es, so der Arzt, das Augenlicht verloren haben. Doch nach einer schweren Fiebernacht, "als die Sonne ihre ersten Strahlen ins Zimmer wirft" ruft es "Mama! Mama! Ich seh’ ihn, ich seh’ ihn, ich seh’ ihn, und mit weit ausgebreiteten Armen springt sie im Bette auf und sinkt tot ins Kissen zurück; aber die Augen sind weit geöffnet und leuchten in seliger Verklärung. Die Eltern sind all’ ihrem Schmerz doch fröhlich, sie wissen ihr Kindlein so selig bewahrt ..."
Diese Schilderungen lassen den Schluss zu, dass der Tod von Kindern und Geschwistern ebenso zu jener Zeit von inniger Trauer begleitet war, auch, wenn es nicht selbstverständlich gewesen ist – siehe das Gebet des kleinen Edmund –, dass Kinder erwachsen werden. Daraus mag sich auch die Stärke und die Zuflucht in den Glauben erklären.
Auf eine harte Probe wurden in dieser Hinsicht Friedrich und Ida von Bodelschwingh gestellt. Als der Geistliche 1872 die Leitung der Anstalt Bethel in Bielefeld (heute 14.000 Betreute, 11.000 Mitarbeiter) übernahm, ließ das Ehepaar in Dellwig an der Ruhr die Gräber seiner vier ältesten Kinder zurück. Sie waren 1869 innerhalb von zwölf Tagen nach heftigem Fieber an "bösem Husten" gestorben – im Alter von 13 Monaten, drei, viereinhalb und sechs Jahren; eine tragische Parallele zur zuvor genannten Familie Philippi. Tief erschüttert von diesem Schicksalsschlag schrieb von Bodelschwingh seine Erinnerungen und Empfindungen unter dem Titel "Vom Leben und Sterben vier seliger Kinder" nieder. Dass der frühe Tod auch ihnen nicht fremd gewesen sein mag, schildert der Vater am Beispiel seines ältesten Sohnes Ernst, der Weihnachten 1868 "einem schwerkranken lieben Kinde in der Nachbarschaft, das sich auf den Heimweg zum Himmel bereitete", noch ein kleines Geschenk brachte: drei Wochen vor dem eigenen Tod. Sätze wie "Nun durfte er als der erste sein himmlisches Gloria anstimmen und in die Perlentore einziehen" zeugen von einem unerschütterlichen Glauben an Wiedersehen und Auferstehung.
Der frühe Tod von Kindern mag bis Anfang des vorherigen Jahrhunderts, wenn auch unbewusst, zur Lebenserwartung gehört haben. Die Bücher von Elise Averdieck, die dieses Thema ihren jungen Lesern ja nicht vorenthielt, erschienen über mehr als 50 Jahre in mehr als 17 Auflagen. Sie selber starb, fast hundertjährig, 1907 in Hamburg. Ihre Ruhestätte ist auf dem Althamburgischen Gedächtnisfriedhof Ohlsdorf, Grab 52.