Der Ohlsdorfer Friedhof war im 19. Jahrhundert nicht nur Begräbnisstätte für die Einwohner der wachsenden Stadt, sondern bildete auch – lange vor dem Stadtpark – die erste große öffentliche Grünanlage Hamburgs.
Schon bald nachdem die anfänglichen Beerdigungsflächen hergerichtet und der schützende Wald im Norden und Osten hochgewachsen war, wurde er daher zum sonntäglichen Ausflugsziel der Großstädter. Als er um die Jahrhundertwende weitgehend fertig gestellt war, wuchs die Besucherzahl so stark an, dass die Straßenbahn zum Friedhof sonntags im Minutenrhythmus fahren musste.
Im Jahr 1904 erschien sogar ein Artikel im "Hamburger Correspondenten", in dem über die große Zahl jener Menschen geklagt wurde, die auf dem Friedhof keine eigenen Gräber besuchten. Schon damals fühlten sich die Leidtragenden belästigt; ein Problem, das noch heute besteht. Die damalige Auseinandersetzung macht auch heute noch eine ungelöste Diskrepanz in der Wahrnehmung des "Stadtgrüns" Ohlsdorfer Friedhof deutlich: Da gibt es zum einen die Bedürfnisse aller jener, die nach Ohlsdorf kommen um einen Angehörigen oder Freund zu bestatten; die nach der Trauerfeier hinter dem Sarg zum Grab gehen; die kommen, um am Grab zu trauern und/oder sich ihrer verstorbenen Angehörigen zu erinnern. Zum anderen aber sehen viele Menschen den Friedhof nur als grüne Oase oder touristische Besonderheit an und wollen sich dort auf alle mögliche Weise erholen – mit, aber immer öfter auch ohne Rücksichtnahme auf Trauernde, Gräber und Leichenzüge.
Für Wilhelm Cordes, den ersten Friedhofsdirektor und Schöpfer der Anlage, und seine Zeitgenossen gab es dabei noch weitere Aspekte, die den Besuch eines Friedhofs begleiteten. Nach Überzeugung des Bürgertums konnte die Schönheit der Natur "mildtätig auf die Rohheit des Geistes" gerade der unteren Bevölkerungsschichten einwirken. Die Gräber berühmter Persönlichkeiten sollten zur Nachahmung aufrufen. Das gestalterische Programm, mit dem Cordes eine "Natur im Kleinen als poetisches Ideal" schaffen wollte, sollte dem Besucher wie in einem botanischen Garten verschiedene Gegenden der Welt mit ihren Pflanzen- und Baumarten vor Augen führen. Das heißt, dass der Friedhofsdirektor den Friedhof in der Nachfolge der amerikanischen Landschaftsfriedhofsbewegung als moralische Instanz ansah, die nicht so sehr der Erholung, sondern vielmehr der Erbauung und der Belehrung seiner Besucher dienen sollte. Diese Tendenz wäre noch durch die Aufstellung von Statuen am Haupteingang verstärkt worden: Cordes plante eine Reihe von Plastiken auf hohen Sockeln, die aus Engeln, Allegorien der geistigen und der körperlichen Arbeit, sowie den Personifikationen Fleiß, Mäßigkeit, Treue, Wahrheit und Liebe bestehen sollten – also vorwiegend Hinweise auf jene Tugenden, die dem Bürgertum besonders wichtig waren.
- Partie am "Stillen Weg" im Cordesteil des Friedhofs. Foto: H. Schoenfeld
Cordes war nicht nur für die Planung und Ausführung der Anlage zuständig. Er sorgte auch dafür, dass sein Werk immer bekannter wurde. Schon für die Gartenbauausstellung von 1897 gab er einen ersten Friedhofsführer heraus. Die Grundlagen der Anlage beschreibt er darin zuerst von der technischen Seite her. Zum Beispiel geht es dabei um die zum Beerdigen benötigte Trockenheit des Bodens, die durch umfangreiche Drainagen und die Ableitung des Wassers in Teichanlagen erreicht wurde. Erst nach der Ausführung aller zum Beerdigen "zweckmäßigen" Einrichtungen wendet Cordes sich in seinem Führer der künstlerischen Gestaltung der neuen Anlage zu, wobei er schreibt, dass er wie ein Maler Landschaftsbilder schaffen will. Später ist ihm angekreidet worden, dass er die großen "allgemeinen" Grabfelder mit ihren langen, eng nebeneinander liegenden Grabreihen hinter dichtem Strauchwerk vor den Blicken der Vorübergehenden verborgen hat. Doch um die Jahrhundertwende wirkte seine Friedhofsanlage stilbildend und die Hamburger waren stolz auf sie. In der Bürgerschaft war von einem Abgeordneten zu hören: "Ich hoffe nämlich, daß Sie alle es ebenso machen wie ich, daß Sie zuerst Fremden den Friedhof zeigen und dann das Rathaus. … Ein schönes Rathaus kann nämlich noch manche Stadt zeigen, aber einen solchen Friedhof nicht!".
Dieser Stolz ließ auch nicht nach, als Otto Linne neuer Gartendirektor in Hamburg wurde und für den neuen Erweiterungsteil im Osten der Cordes‘schen Anlage die in seinen Augen veraltete landschaftliche Gestaltungsweise durch einen neuen gartenarchitektonisch durchgestylten Friedhofplan mit klarer axialer Straßenführung ersetzte. Inzwischen war die Kritik immer lauter geworden und man ritt immer mehr auf den Mängeln der Anlage herum, wie zum Beispiel darauf, dass Besucher sich dort nur schwer orientieren konnten. Linne setzte seine neuen Ideen nicht nur in den Flächen des neuen Erweiterungsteiles durch, sondern legte seine neuartigen "Grabquartiere", die mit gerade geschnittenen Hecken sozusagen "ummauert" wurden, auch innerhalb des Cordesteiles an, wenn dort eines der großen Reihengrabfelder geräumt werden konnte, weil die Ruhezeit abgelaufen war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten neue Gartenarchitekten, die ihre zeitgenössischen Gestaltungsvorstellungen in den Friedhof einbrachten. Da nun keine neuen Flächen mehr aptiert, das heißt als Friedhofsflächen hergerichtet werden konnten, konnte man nur abgelaufene und neu zu belegende Grabfelder umgestalten. Den Stil der 50er Jahre mit seinen nun wieder geschwungenen Wegen, nach Art der Nierentische gestalteten Brunnen und kurvigen Grabmalen findet man daher nur in einzelnen Feldern innerhalb der beiden Teile der Friedhofsanlage wieder. Neben solchen aufwendig gestalteten Flächen entstanden zugleich immer mehr Felder, in denen sich jene gleichförmigen Typengrabsteine aneinander reihten, die man in der Nachfolge der Reformideen der 20er Jahre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf fast jedem Friedhof propagierte. Erst seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrtausends beginnt sich eine neue Gestaltungstendenz auszubreiten. Die strenge Beschränkung der Grabmale auf bestimmte Größen und Materialien durch sogenannte Grabmalrichtlinien wird immer mehr aufgegeben. Eine größere individuelle Wahlmöglichkeit und die neue Hinwendung zu einer symbolischen Aufladung bestimmt jetzt jene "Miniaturlandschaften", zu denen zeitgenössische Grabfelder – nicht nur in Ohlsdorf – ausgebildet werden.
Wenn jetzt "100 Jahre Stadtgrün" in das Bewusstsein der Hamburger gerückt werden, so kommt dabei auch die Entwicklungsgeschichte der verschiedenen Grünanlagen der Stadt ins Blickfeld. Dabei sollte gerade beim Ohlsdorfer Friedhof nicht vergessen werden, dass sich in ihm mehr als hundert Jahre wiederspiegeln und, dass die unterschiedlichen Vorstellungen der vergangenen Jahrzehnte in seiner Anlage mancherorts noch im Original erhalten sind. Doch diese "Zeitzeugenschaft" ist ein Alleinstellungsmerkmal, das immer mehr verloren geht. Gerade Garten- und Parkanlagen wandeln sich im Laufe der Zeit unmerklich und verlieren dabei ihren ursprünglichen Charakter. Deshalb muss der Ohlsdorfer Friedhof durch die strikten Vorgaben eines Parkpflegewerks geschützt werden, für das nicht nur der gegenwärtige Ist-Zustand erhoben, sondern auch die jeweiligen historischen Zustände erforscht und ihre Bedeutung für den Friedhof eingeschätzt werden müssen. Dieses Friedhofs-Pflegewerk ist ein Desiderat, dessen Erstellung nicht eindringlich genug gefordert werden kann. Mit ihm lassen sich zugleich jene Werte festschreiben, die den täglichen Betrieb, die Pflege und die Erhaltung der Anlage bestimmen sollen. Erst wenn diese Werte – wie zum Beispiel ein Schwerpunkt auf der Stille und Ruhe dieses Ortes, der sich vom Verkehr und Getriebe der Stadt unzweideutig abhebt – deutlich kommuniziert werden, lässt sich auch die Dissonanz zwischen Trauernden und distanzlosen Friedhofsbesuchern abmildern.