Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Grabinschriften als Informationsquellen

Die mit individuellen, unverwechselbaren Lebensdaten beschrifteten Grabinschriften und Grabzeichen bieten wertvolle Hinweise über Menschen und Denkweisen, sowie die Zeit und die Gegend, in der sie entstanden sind, sei es in theologischer, demographischer, sozioökonomischer oder auch literarischer und künstlerischer Hinsicht – kritisch betrachtet können sie sowohl historisch wie auch gesellschaftlich Aufschluss über eine Epoche geben und zu ihrem besseren Verständnis beitragen.

Im Folgenden soll dies anhand konkreter, deutschsprachiger Beispiele aus den letzten drei Jahrhunderten illustriert werden.

I. Von sozialen Unterschieden

Prerow
Grabmal Busch in Prerow
Foto: Behrens

Die älteste hier vorgestellte Inschrift für den Schiffer Busch (1730) befindet sich 30 km nordöstlich von Rostock auf dem Kirchhof von Prerow. In unregelmäßigen, grob und unbeholfen in den Stein gemeißelten Großbuchstaben, steht auf dem schlichten Grabstein ohne Punkt und Komma der folgende Text:

ALHIER RUHET
IN GOTT DEN HERREN
SCHIEFFER ASMUS
BUSCH
ER HAT
GELEBET 70 JAHR
IST GESTORBEN
ANNO 1730

In zwei knappen Sätzen erfährt man gleich das Wesentliche über Glauben, Beruf, Namen, Alter und Sterbejahr des Verstorbenen.

Ribnitz
Grabmal Clasen in Ribnitz
Foto: Behrens

Südlicher davon steht an der inneren Wand der Kirche St. Marien in Ribnitz-Damgarten eine rechteckige Stele für den Probst Clasen (1775):

HIER.GRÜNEN.IN.HOFFNUNG.DER.UNVERGESSLICHKEIT.DIE.IN. VERWESLIGKEIT. GESAETEN. GEBEINE.EINES. 53JÄHR: LEHRERS. UND VATERS. DIESER GEMEINE ER WAR. DER.WEIL: GROSEHRWÜRD: HERR PRAEPOSITUS. JUL: THEOD: CLASEN.GEB: A° 1701. D:26. DECBR: GEST: A° 1775. D:26. MAY:

WIE DRÜCKTE MICH DER LEIB DER STERBLICHKEIT.HEIL.DIR.O.TOD.DURCH DEN.MEIN.GEIST BEFREIT.ZU.GOTT ALS SEINEN.URSPRUNG.WIEDERKEHRTE.
HALLELUIAH! DAS.WAS.ICH.GLAUBTE. LEHRTE. DAS.SCHAUE ICH.NUN. O RIBNITZ! FOLGE MIR WEH.DEM.DER.
WEICHT! HEIL: ÜBERWINDER:DIR!

Hier bietet sich ein Vergleich mit dem vorgenannten einfachen Seemann an: Auch vierzig Jahre später decken Großbuchstaben fast die ganze Stele – die Schrift wirkt allerdings ordentlicher, ist mit Satzzeichen versetzt, zentriert, sogar differenzierter, weil Anfangsbuchstaben und bestimmte Wörter größer eingemeißelt sind. Neben Beruf und Alter sind Geburts- und Todesdaten genauer angegeben.

Zugegeben, durch die längere Grabinschrift erfährt man nicht viel mehr über den Menschen Clasen: nur dass Anfang und Ende (in Form eines Gedichts) als letzte Predigt bzw. Mahnung an die Gemeinde dienen. Die Redensart "Hier grünt..." sowie die bildlichen Umschreibungen liefern gute Beispiele für die Euphemismen, die insbesondere später, im 19. Jahrhundert, weit verbreitet sind. Offen bleibt, ob diese Inschrift von seinem Nachfolger bzw. den Nachkommen niedergeschrieben wurde oder vom sicher hoch angesehenen, aber vielleicht auch etwas eitlen "grosehrwürdigen" Pastor selbst…

War vielleicht der Tod seiner Ehefrau vier Jahre zuvor Anlass, das eigene Grab gleich vorzubereiten und zu verfassen? Interessant ist nämlich der Vergleich mit der Grabinschrift seiner Ehefrau:

AL'HIER RUHET IM HERRN.DIE HOCHWOHLGEBOHRNE.FRAU.PRAEPOSITIN CLASEN GEBOHRNE MAGDALENA SOPHIA VON GRAPEN UND SPRICHT MIT ESAIA CAP:LX V20 EINGESENCKT ANNO 1771 DEN 22 APRIL

Zwar bekam die "Hochwohlgebohrne" ihr eigenes Grab mit eigener Inschrift – dennoch gilt hier die Ehefrau nur in Bezug auf ihren Mann! Weder Geburtsdatum, Alter, noch genauer Todestag sind erwähnt (wahrscheinlich etwas früher als am Tag der "Einsenkung"); auch lohnte es sich offenbar nicht, die schöne Hoffnungsbotschaft des Propheten Esaia wörtlich zu zitieren, sei es aus Kosten- oder aus Platzgründen – bestenfalls kannte damals jeder die betreffende Stelle:"Deine Sonne wird nicht mehr untergehen und dein Mond nicht den Schein verlieren; denn der Herr wird dein ewiges Licht sein, und die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben."

Im nächsten Beispiel spiegelt sich die oberste Schicht der Gesellschaft wider – es handelt sich um den holsteinischen Herzog Georg Ludwig und seine Gemahlin Sophie Charlotte von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Beck, die beide 1763 verstarben. Das doppelte Grabmal steht in der Klosterkirche Bordesholm und besteht aus zwei großen, schlichten Sarkophagen. Beide gleich gestaltet, tragen sie jeweils vorne und hinten in Großbuchstaben eine Inschrift mit den Lebensdaten des Verstorbenen sowie einem Kommentar. Die auf der vorderen Seite stehende Grabinschrift des Herzogs lautet:

Georg Ludewig
Herzog von Holstein Gottorp
Gebohren 16 Merz 1719, bis 1761 Preussischer General,
Lieutenant und Oberster eines Dragoner Regiments,
1762 Russischer General-Feldmarschall, dann Statt-
halter der Grossfürstlichen Lande in Holstein, starb
in Hamburg 7 September 1763.

Auf der Rückseite heißt es:

Heiss war dein Lebenstag, du Redlicher: Thaten des Ruhmes,
Grössere Thaten des Wohls kranzten mit Lorber dein Haupt
Friedlich kam die Kühle des Abendes: ehe die Dämmrung
Schattete, führte der Tod dich zu den Lagen der Ruh.
Schlummere, heiliger Staub. Dein Geist umschwebe mich waltend,
Vater, und lehre den Sohn, bieder zu sein und gerecht.

Entsprechende Inschriften stehen für die einen Monat früher verstorbene, erst vierzigjährige (und hier gleich berechtigte!) Herzogin:

Sophia Charlotta
Herzogin von Holstein Beck,
gebohren 31 December 1722, vermählt 5 Ianuar 1738
mit Alexander Aemilius Burggrafen zu Dohna, verwit-
wet 30 september 1745, wieder vermählt 1 Ianuar 1750
mit Georg Ludewig Herzog von Holstein Gottorp, starb
in Hamburg 7 August 1763.

Und hinten:

Lebend warst du des Manns untrennbare treue Genossin
Unter Waffengetös, und an den Küsten des Nords.
Freundlich vereinte der Tod die Liebenden. Noch war die Fackel
Deines Sargs nicht verbrannt, als sie auch seinen beschien.
Aber ich, ein verwaistes Kind, in der Wüste des Lebens,
sehnte mich trostlos zu dir, zärtliche Mutter, ins Grab.

Tatsächlich hatte die Herzogin aus ihrer zweiten Ehe nicht nur einen, sondern drei Söhne bekommen; der erste 1751 geboren wurde nur ein Jahr alt, die folgenden kamen 1753 und 1755 auf die Welt. Als sie starb, waren diese beiden Söhne erst zehn und acht Jahre alt. Weder die reinen Fakten über das persönliche Schicksal noch die rührenden Erläuterungen dürften also von einem der beiden verwaisten Kinder selbst verfasst sein. Vielmehr sollen bei diesem doppelten Beispiel die poetischen Formulierungen der Grabinschriften – ganz wie eingangs für den Probst Clasen – allgemeine Trauer und Schmerz ausdrücken, so, wie es im späten 18. Jahrhundert typisch war.

II. Von Kindersterblichkeit und Epidemien

Grabinschrift Permin
Grabmal Catharina Permin in Prerow
Foto: Behrens

Anders als bei den kurzen Lebensinschriften der beiden genannten Frauen wird beim nächsten Beispiel – einer Stele aus Prerow, 40 Jahre später entstanden – die gesamte Fläche dem Leben der einfachen Seemannsfrau Catharina Permin (1813) gewidmet; dort findet sich, wieder vollständig in Großbuchstaben notiert, der folgende Text:

"Hier schlummert Catharina Permin gebor: den 19 October 1733 auf den Zingst, verehelichte sich den 15 November 1754 mit dem Schiffer Hans Schultz von Zingst, zeügte in dieser Ehe 7 Söhne und 6 Töchter wo von für ihr 6 Söhne und 4 Töchter verstorben und 1 Sohn und 2 Töchter noch am Leben sind, war Grosmutter zu 33 Kinder und Eltermutter zu 5 Kinder, starb den 4 April 1813 in einem Alter von 79 Jahr 5 Monat 16 Tage."

Welche Informationsdichte über Geburtenrate, Kindersterblichkeit, Herkunft, Lebensdauer! Bei der damaligen Hygiene war eine Frau, die dreizehn Kinder zur Welt gebracht und zehn davon verloren hatte, mit fast 80 Jahren uralt! Das erklärt, weshalb es üblich wurde, die gelebte Zeit nicht nur in Jahren, sondern auch in Monaten, sogar Tagen akribisch festzuhalten.

Ob Unfälle, Pest, Cholera oder einfach "böser Husten" – in Grabinschriften finden sich ebenso greifbare wie erschütternde Spuren für die mangelnde Hygiene aller sozialen Schichten und das noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein. Ein oft zitiertes Beispiel hierfür1 liefert auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg die Grabanlage der wohlhabenden Familie Philippi; dort lautet eine kleine Inschrift "Hier ruhen drei geliebte Kinder"– nachdem im Winter 1902 die drei Geschwister (im fünften, siebten und neunten Lebensjahr) nacheinander und nur innerhalb von sechs Wochen verstorben waren.

Grabinschrift Hoffmann
Textfeld am Familiengrabmal Hoffmann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, Berlin
Foto: Behrens

Ein ähnliches Schicksal findet man in Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof bei der prunkvollen Familienanlage Hoffmann (Erfinder der Ringöfen). Folgende Inschrift aus Keramik hält den Scharlach-Tod der vier kleinen Geschwister – im Laufe eines einzigen Monats im Alter von sechs, fünf, drei Jahren und neun Monaten verstorben – fest in Erinnerung:

VIER LIEBE KINDER DES KOENIGLICHEN BAURATHS
FRIEDRICH HOFFMANN U. SEINER EHEGATTIN BERTHA GEB. FLÜGEL
– OPFER DES SCHARLACHS – DECKT DIESES GRAB:
AGATHE * 27 MAI 1848 †16 FEB.1855
FRITZ *17 MAI 1851 †15 MÄRZ 1855
EDA *14 AUG.1849 † 14 FEB. 1855
HANS *15 MAI 1854 †24 FEB.1855
JOH. 14 V.2 PSALM 60 V.19
JAC.6 V.16 PSALM 103 V.8

Grabinschrift Filtsch
Grabmal Karl Filtsch in Venedig
Foto: Behrens

Viele, auch einzelne Schicksale dieser Art sind nicht nur auf jedem älteren Friedhof zu finden. Allerdings waren die früheren Gräber zumeist viel aufwändiger gestaltet als sie es heutzutage sind. Erwähnt sei hier einmal mehr Venedig2, und dort – das schöne Beispiel der großen Biedermeierstele aus weißem Marmor für den fast fünfzehnjährigen Karl Filtsch, gestorben 1830. Unter seinen Lebensdaten liest man folgende Inschrift:

DER KÜNSTLER SCHLAEFT ES RUHN DIE THEUREN HAENDE
DIE MAECHTIG EINST BEHERRSCHT DER TÖNE MEER
DOCH IMMER WACHE TIEFE HERZENS SEHNSUCHT
NENNT SEINEN NAMEN SEGNET IHN UND WEINT

Leichter zu verstehen ist der Text, wenn man das feine Relief in der oberen Hälfte des Grabes betrachtet. Wie auf einer Bühne, eingerahmt von einem offenen Vorhang und der knienden Mutter links, wird in der Mitte der schwebende Junge von einem großen Engel auf dem Weg zur oben rechts wartenden Himmelsschar abgeholt. Unten rechts steht ein Klavier, davor einen leeren Stuhl mit einem großen Kissen: Das Kind muss sehr begabt gewesen sein.

III. Von Beruf und Reisen

Alle obengenannten Grabinschriften hatten den Beruf der Männer mehr oder weniger nebenbei erwähnt. Im Gegensatz dazu werden auf nordfriesischen Grabsteinen ganze Geschichten aus dem Leben der Verstorbenen erzählt, wie Beispiele auf der dafür berühmten Insel Föhr es illustrieren.

Grabinschrift Faltings
Grabmal für Kapitän Faltings auf der Insel Föhr
Foto: Behrens

Folgendermaßen lautet (hier in Frakturschrift, Namen und Daten kursiv) auf dem Kirchhof St. Laurentii in Süderende der Werdegang des Kapitäns Faltings (1851) – damals eine der angesehensten Persönlichkeiten der Gemeinde – der aus Not schon mit 12 Jahren zur See fuhr, 23 für die Zeit ungewöhnlich schnelle Fahrten nach Westgrönland überstand und danach zu den größten Landeigentümern in Oldsum gehörte:

Dem Andenken des Schiffskapitains
Früd Faltings und seiner Gattinn Ingke, geb.
Olufs in Oldsum.
Früd Faltings wurde geboren in Klintum
am 23 Decbr. 1783. Er verband sich am 20 Decbr. 1811 ehe-
lich mit Ingke Olufs, geboren in Oldsum am 28 Oct.
1786. Aus ihrer Ehe stammen 3 Söhne. Von früher Ju-
gend an sich der Seefahrt widmend, stieg er bis zum Schiffs-
kapitain, und führte 23 Jahre lang ein Schiff von Kopen-
hagen. Nachdem er im Jahre 1839 aus dem Berufe
geschieden war, wirkte er bis zu seinem Lebensende als thäti-
ger und umsichtiger Landwirth. Er sah seine Familie in
13 lebenden Enkeln aufblühen. Am 20 April 1851 rief
der Todesbote ihn aus dem Kreise der Seinigen ab im
Alter von 67 Jahren 3 Monaten und 28 Tagen.
Seine Gattinn Ingke Faltings lebte nach
dem Scheiden ihres Gatten im Witwenstande, bis sie
durch den Tod wieder mit ihm vereinigt wurde am 11. Juli
1869 alt 82 Jahre 8 Monate 13 Tage.

Auf diese ausführliche Schilderung des Lebenslaufs folgt noch ein Gedicht; es erläutert allegorisch die drei Berufssymbole (Oktant, Fernrohr und Getreidegarbe) am Kopfstück der Stele, welche Früd Faltings beiden Berufen entlehnt sind:

Schiffer aus des Erdenlebens Wellen,
Ermiß der Pflichten Höhe mit der Christenlieb' Octant,
Und schau, wie hoch aus Leidenfluhten schwellen,
Stets mit des Glaubens Fernrohr nach der Christenhoffnung Land.
So wirst du sicher nach dem lichten Hafen steuern,
Und sammeln wird Gott dich als Garb in seine Scheuern.

Franta
Grabinschrift Franta, Wien, St. Marx
Foto: Behrens

Insgesamt werden im 19. Jahrhundert die Grabinschriften zumeist stark verkürzt und in ihren Formulierungen kaum variiert. Auf dem Biedermeierfriedhof St. Marx in Wien sind jene aus der Zeit um 1850 kurz und viel kleiner gesetzt, ihr Anfang ("Hier ruhet") und Ende ("Friede seiner Asche!") ist erkennbar standardisiert.

Grabinschrift Hummelberger
Grabinschrift Hummelberger, Wien, St. Marx
Foto: Behrens

Nach dem Namen und vor den Lebensdaten werden hier jedoch zwei interessante Informationen genannt: zum einen der Beruf und – für uns neu – gleich im Anschluss oft der Wohnsitz. Man erhält so einen guten Überblick über die Arbeitswelt im Wien der Kaiserzeit und über Berufe, die es teilweise nicht mehr gibt.

Fromm
Grabinschrift Fromm, Wien, St. Marx
Foto: Behrens

Da versammeln sich ein "bürgerlicher (in bgl., brgl., bürgl.... abgekürzt) Brandweiner", ein "bgl. Lust- und Ziergärtner u. Hausinhaber Wieden N°80", "bürgl. Kanalräumer Landstrasse N°570", "Magiestratischer Markt-Ober-Comissär", "Adjunkt der k.k. Staats-Schulden-Direktion und Secretär der k.k. Gartenbau-Gesellschaft", "k.k. Hof-Musikalienhändler und Compositeur" (der Komponist Diabelli); da liegen weiter eine "k.k. Hofopernsängerin", eine "bgl. Fischhandlerswittwe" oder, knapp und schlicht, ein "Bürger von Wien".

Förster
Grabinschrift Förster, Wien, Zentralfriedhof
Foto: Behrens

In dieser glorreichen Zeit konnten auch die angehäuften Titel so lang werden, dass sie stark abgekürzt werden mussten, wie hier für Max Ritter von Förster (1917):

k.u.k. Korvettenkapitän d.R. Stabschef der Donauflotille
Ritter des Leopoldordens m. d. K. u. d. Schw.
Ritter des Eisernen Kronenordens III. Kl. M. d. Schw.
etc. etc. etc.
Ritter des Eisernen Kreuzes I. u. II. Kl. Besitzer des bulg.
Kommandeur-Kreuzes III. Kl. U. d. Alexander-Kreuzes
m. d. Schw. Ritter des Eisernen Halbmondes, etc. etc.
Fand am 22.IX.1917 bei Braila den Heldentod

Aber nicht nur der Offiziersstand, auch andere Berufe verpflichteten zum Reisen. Wunderbar erzählen deutschsprachige Grabinschriften von der Mobilität der früheren Generationen und ihren Reisen rund um die Welt – sei es veranlasst durch Handelsinteressen, die Kolonialpolitik, aus Gesundheitsgründen oder aufgrund von Emigration.

In Venedig liegen auf dem evangelischen Rechteck des Friedhofs S. Michele – neben dem jungen, "aus Mühlbach in Siebenbürgen" stammenden, obengenannten Karl Filtsch – auch andere Deutsche, wie der Hamburger Schües (1817) und Alessander Paul "gest. 8.III.1938", der unter einer sich auf einer halben Säule stützenden Trauernden mit Rosen den heute etwas abgegriffenen Satz hat schreiben lassen: "Wer im Gedächtnis seiner Liebe lebt, der ist nicht tot, er ist nur fern".

Desgleichen finden sich auf dem protestantischen Friedhof der französischen Stadt Bordeaux etliche Grabinschriften aus dem 19. Jahrhundert mit Migrationshintergrund; darunter sind auch deutsche Namen zu lesen wie Berendes (1785) und Reinhard Streckeisen (1820) oder mehrfach der Name Kressmann – eine Familie, deren Urgroßvater aus Stettin übersiedelte und 1857 seinen eigenen Weinhandel gegründet hatte.3

Grabinschrift Schnitgers
Grabinschrift F. W. Schnitgers, Macau
Foto: Behrens

Reisen oder Emigration führten auch in fernere Kontinente. Selbst in China kann man deutschsprachige Grabinschriften entdecken: Auf dem 1814 von der East India Company gegründeten, alten protestantischen Friedhof des ehemaligen portugiesischen Macau, finden sich zwei schöne Beispiele:

"Dem Staube des F. W. Schnitgers gebohren zu Pleuhn in Holstein 31 May 1773 nach vielen Leiden in Macao gestorben 30 May 1807 ist diese Ruhestatte und seinem Andenken dieser Stein von dankbaren Freunden gewidmet" oder "Hier schlummert Christian Johann Friedrich Ipland, Geboren zu Apenrade den 30 Juni 1818, Gestorben zu Macao den 5. October 1857, Sanft ruhe deine Asche du müder Wanderer".

Nicht vergessen seien die Spuren der Kolonialzeit unter anderem in den ehemaligen deutschen Kolonien Togo, Kamerun und Südwestafrika. Auf dem Friedhof von Lome, das 1897 Hauptstadt der "Musterkolonie" Togo war4, trifft man heute noch alte Grabstätten mit Inschriften wie diese:

"Hier ruhet Christian Buchholz, geb. 29. August 1888 zu Pinneberg, gest. 12. Januar 1908 an Bord des Dampfers Lucie Woermann".

Weitere deutsche Friedhöfe findet man im Osten Ghanas, das dem westlichen Drittel der ehemaligen deutschen Kolonie Togo entspricht; so etwa in der Hauptstadt der heutigen Volta-Region Ho, wo zwei kleine Grabkissen mit alten Inschriften in deutscher Schrift auf Porzellan-Ovalen liegen:

"Hier ruht in Gott Johanna Ros. Kath. Binetsch, geb. den 10. Dez. 1857, gest. den 15. Dez. 1880, Hebr. 13, 14 Off. 21, 4"

und

"Hier ruht in Gott Margarethe Dieöl, geb. d. 4. März 1866, gest. d. 25. Juli 1897".

Allesamt junge Menschen, deren europäische Konstitutionen nicht für die tropischen Breiten gemacht waren.

Berücksichtigt man außerdem die vielen neugegründeten Ortschaften, die nach dem Herkunftsort deutscher Auswanderer getauft wurden, mag es weniger überraschen, wenn man in der Fremde auf Namen wie Carl Meyer oder Wollenschlaeger stößt, wie etwa auf dem verlassenen Friedhof eines ganz verträumten Ortes am indischen Ozean in Südafrika namens "Hamburg"!

Abschließend soll noch kurz eine Gruppe von Grabinschriften erwähnt werden – jene mit den komischen Sprüchen, deren Inhalt den Leser zum Schmunzeln bringt. Unvergessen bleibt in diesem Kontext wohl die über ein Jahr lang vor dem Ohlsdorfer Museum ausgestellte Sammlung von Grabmalen aus dem "lustigen Friedhof" des Freilichtmuseums Kramsach in Tirol. Dort fanden sich Leihgaben von beispielhafter Heiterkeit! Ob unfreiwillige oder gewollte Komik, ob Frömmigkeit oder Eitelkeit – alle Denkweisen bleiben geistliche Zeugnisse einer bestimmten Gesellschaft aus einer bestimmten Zeit.

Grabinschrift Röseö
Grabinschrift Samuel Rösel, Potsdam
Foto: Behrens

Hierzu aus dem Bornstedter Friedhof bei Potsdam ein letztes Beispiel, geschaffen für den Landschaftsmaler und Professor an der Berliner Kunstakademie Samuel Rösel (1759-1843), Zeichenlehrer von König Friedrich Wilhelm IV. ebenso wie von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sein Grab, bepflanzt mit Efeu, besteht einzig aus einem soliden Gitter mit einer eisernen, beidseitig lesbaren Tafel – innen die Lebensdaten, außen folgende Inschrift:

"Er war ein Mensch zum Leben von Gott ausgerüstet, er genoss es dankbar, nützte gerne dem Andern und starb in dem Bewusstsein, wahrhaft gelebt zu haben und in der beglückenden Hoffnung, geistig fortleben zu dürfen"…

Angesichts solcher Beispiele und Sprüche – wiederholter Denkanstoß für den Betrachter – kann man die steigende Armut und Namenlosigkeit der heutigen Trauerkultur mit ihren See- und anonymen Bestattungen nur zutiefst bedauern. Vor dem Rasen eines Gemeinschaftsgrabs auf dem Kirchhof der Luisengemeinde in Berlin-Charlottenburg wusste eine Trauernde sich mühsam dagegen zu helfen – auf dem weißen Übertopf der mitgebrachten Pflanze stand dieser mit Marker handgeschriebene Satz:

"Mein Dicker Du fehlst mir so
Deine Gisela"

1 siehe auch "Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur", Nr. 74, Thema "Kind und Tod"

2 siehe auch "Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur", Nr. 106, S. 38, "Tod in Venedig"

3 siehe auch "Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur", Nr. 71, S. 8-12, "Der protestantische Friedhof in Bordeaux"

4 siehe auch "Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur", Nr. 71, S. 13-19, "Trauerkulturen in Westafrika"

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Grabmalinschriften (März 2010).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).