An oder ab?
Wir sind schon eine Weile mit der Gruppe auf dem Friedhof unterwegs und stoppen nun an einem Grab, das nach den vielen Engeln und monumentalen Marmorskulpturen einfach und schmucklos erscheint. Was gibt es hier zu sehen?
Der Führende, geschätzte 75 Jahre alt, bittet ein wenig verlegen um Verzeihung. Denn er hat hier etwas Privates zu erzählen. Er muss ein wenig ausholen: er ist Schüler und sitzt auf der Mauer des Schulhofes neben einem fast gleichaltrigen Mädchen – im Gespräch, in der großen Pause, sehr schüchtern. Da kommt sein Freund Hans durch den sommerlichen Staub des Schulhofs, fragt mit Blick auf die beiden: "an oder ab?" "An" bedeutet, dass die beiden in zarter Verbindung stehen. "Ab" – nur ein Gespräch, ohne Bedeutung. Schneller als der Junge ist sie mit ihrem eindeutigen "An!". Hans trollt sich. In den verbleibenden Schulstunden kann sich der damals 13-Jährige kaum konzentrieren – das Herzklopfen ist lauter als die heute chancenlosen Unterrichtversuche der Lehrer. Da die Sache nun geklärt ist, können sie nun Hand in Hand durch Hamm nach Hause gehen und haben es dabei nicht eilig.
Auf dem Grabstein, neben dem wir stehen, steht ihr Name: Margreth Vondey und das Sterbedatum: 27./28. Juli 1943. Wenige Wochen nach dieser sommerlichen Szene starb sie in den Hamburger Bombennächten des Zweiten Weltkriegs, an welchem Tag genau, weiß man nicht. Den Namen des Führenden sollte ich noch häufiger hören: Jens Marheinecke. Er starb knapp 60 Jahre später, ihre Gräber liegen heute fünfzig Schritte auseinander.
Seine Führung hat vor 11 Jahren stattgefunden. Von den Engeln und den Prominentengräbern weiß ich fast nichts mehr, sein Bericht am Grab von Margreth Vondey ist mir geblieben.
Führen ist ein Handwerk
Inzwischen habe ich selbst mit wechselndem Erfolg einige Gruppen über den Friedhof geführt. In meinen ersten Führungen fühlte ich mich den Gästen gegenüber überlegen, ich hatte ja die wichtigen Eckdaten gelernt. Wie tief liegt der Sarg, wie alt ist der Friedhof, wer war Wilhelm Cordes… Nach einer Weile bemerkte ich die Vielfalt der Themen und dass ich in der Anfangszeit nur mehr das Inhaltsverzeichnis eines dicken, ungelesenen und unverstandenen Buches dargeboten hatte. In dieser zweiten Phase fühlte ich mich entsprechend ahnungslos. Ich las also nach: im Schoenfeld-Buch, bei Leisner, bei Marheinecke. Die folgenden Führungen wurden länger und länger. Bis zu vier oder fünf Stunden und so lange, bis ich schließlich meine Route teilte. Aber nicht die Ausdauer des Führenden und die Masse und Ausführlichkeit der angebotenen Kenntnisse machen gute Qualität aus. Es ist besser, die Bedürfnisse der Gruppe genau herauszufinden und die Präsentation diesen Bedürfnissen anzupassen.
Die Methode dazu ist die Wiederholung. In der Wiederholung ändert sich zwar nicht der Friedhof mit seinen Grünanlagen, Gräbern, Brunnen, Prominenten. Aber die eigene Sichtweise und Darstellung verändern sich Schritt für Schritt, so wie ein Handwerker sein Handwerk langsam durch allmähliche Verbesserung erlernt. Und zwar durch Beobachten und Nachlesen in sicherlich guten Büchern. Eine Audio-Führung, wenn es sie irgendwann geben sollte, wird das Abstimmen auf die Gäste niemals leisten können. Insofern wird es immer Menschen geben müssen, die Führungen anbieten.
Ein Beispiel? Ich kann einen Landschaftsgarten dadurch erklären, aus welchen Elementen er sich zusammensetzt (Wasser, Wiesen, Wälder, Architektur …) – oder ich kann die Gruppe herausfinden lassen, wie all diese Elemente wirken, wie der Landschaftsgarten funktioniert. Dies Arrangement von Selbsterfahrungen ist der Kern einer guten Führung. Dabei ist es wichtig, das Sichtbare wirken zu lassen und das Nichtsichtbare zu erläutern. Zum Beispiel stoßen die Ohlsdorfer Wege immer wieder auf Objekte: Gärten, Brunnen, Gräber mit besonderer Gestaltung. Diese "Endpunkte" des Weges symbolisieren Endpunkte des Lebens-Weges, die besonders schön gestaltet sein sollen. Symbolisch bedeutet dies, dass auch das eigene Lebensende gestaltet werden muss – nach den Gesichtspunkten des Gartens.
Durch den Garten …
Eine Führung durch einen Garten ist eine unvergleichliche Erfahrung. Denn hier verdichtet sich, was Menschen in, mit – und manchmal gegen die – Natur schaffen.
Zunächst: Ein Garten ist mit einem bestimmten Ziel angelegt. Aber er ist zugleich ein Lebewesen, das eigene "Ziele" verfolgt, das wächst und "verwächst". Dieses Eigenleben macht die Sache spannend und lohnend für Menschen, die bereit sind, seine Entwicklung wahrzunehmen und zu verfolgen. Eine Ohlsdorf-Führung ist eine Entdeckungsreise für denjenigen, der geführt wird, und immer auch für denjenigen, der führt. Insofern bleiben der kulturelle und grüne Reichtum unerschöpflich und, sehr technisch gesprochen, die Führungen ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit, das sich künftig stärker dem Erholungsaspekt und dem Wert als Park widmen wird.
Die Größe und pathetische Einfachheit der Marheinecke-Erzählung ist schwer zu erreichen. Als Handwerker hat er hohe Meisterschaft erreicht, wenn er bei den Menschen über ein Jahrzehnt später eine Auseinandersetzung mit unseren berühmten Führungsthemen auslöst: frühen Tod, Gewaltherrschaft und ihre üblen Folgen, den biographischen Bruch und die schwer heilenden Wunden, die historischen Ereignisse und seine innige Erinnerung an einen geliebten Menschen. Aber die Geschichte von Margreth Vondey erzähle ich selbst auf meinen Führungen nicht. Beim Führen muss jeder seinen eigenen Weg finden, den richtigen Ton, um die Menschen zu erreichen.