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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Friedhof für die Sünder - Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der unehrlichen Bestattung

Dass Friedhöfe die Orte sind, auf denen die Toten in allen Ehren ruhen, traf bis in das 19. Jahrhundert nicht für alle Verstorbenen zu. Es gab Individuen wie auch gesellschaftliche Gruppen, die durch die sogenannte unehrliche Bestattung diskriminiert wurden und im Abseits begraben werden mussten.

Am Beispiel der holsteinischen Stadt Oldesloe soll gezeigt werden, wer aus welchen Gründen gänzlich von der Gemeinschaft der Toten ausgeschlossen oder zumindest zu einem Begräbnis mit reduzierten Riten an einem unwürdigen Ort auf dem Friedhof verurteilt wurde.

1824 beschwerte sich der Oldesloer Hauptpastor Hansen beim Magistrat über Tagelöhner, die bei Planierungsarbeiten auf dem vor wenigen Monaten aufgehobenen Friedhof um die Kirche angeblich Skelettteile einfach über den Zaun geworfen und dort verscharrt haben sollten. „Außer dem Bezirk des Friedhofs in einem Hohlweg begraben zu werden, hat allerdings etwas Ehrenrühriges,“ lautete die Klage. Der Bezug auf die Ehre befremdet in diesem Zusammenhang: Was meinte Pastor Hansen, als er diesen Begriff verwandte?

Verstarb ein Oldesloer Bürger, so erhielt er ein Begräbnis, das seinem sozialen Rang entsprach. Die 1627 gegründete Höker-Totengilde, die Totengilde der Schuster oder der Travenfahrer sicherten den Verstorbenen ein Begräbnis, an dem das soziale Umfeld, in dem der Lebende sich bewegte, teilnahm. Feste Bestandteile waren Sargträger aus der Gilde oder Zunft, die Aufbahrung in der Kirche, das Trauer-Glockengeläut und die Begleitung des Sarges durch den Prediger und geistliche Lieder singende Schüler bis zum Grab. Der Tote wurde also mit „Gefolg und Gesang“ zur Erde bestattet. Eine Leichen-Predigt, Trauermusik in der Kirche, die Anzahl der singenden Schüler und die Dauer des Glockengeläutes waren ebenso wie der Ort der Bestattung abhängig vom finanziellen Vermögen der Familie. Am wertvollsten war ein Grab in der Kirche, dann folgten die „eigenthümlichen“ Familien-Gräber auf dem Friedhof, schließlich die einfachen, der Reihe nach belegten Grabstellen. Die Armen wurden in Oldesloe lange auf einem gesonderten Begräbnisplatz außerhalb der Stadt beerdigt, dem St.-Jürgen-Friedhof. So spiegelte der Friedhof die soziale Gliederung der Gesellschaft wieder. Alle Toten aber ruhten in geweihter Erde, in einem umfriedeten Bezirk.

Nicht alle Verstorbenen wurden in diese Gemeinschaft aufgenommen. In einer ständisch-organisierten Gesellschaft war es für jedes Individuum überlebenswichtig zu einer Gruppe zu gehören, die seine soziale und ökonomische Existenz sicherte. Ein Ausschluss hatte schwerwiegende Folgen und wurde als Verbannung oder Kirchenbann von weltlichen und geistlichen Herrschaften als Strafe verhängt. Besonders die Zünfte machten die „Ehrlichkeit“ zu dem entscheidenden Merkmal, mit dessen Hilfe sie Mitglieder ein- und ausschließen konnten. Eine eheliche Abstammung, ein sittlich-konformes Verhalten, die Berührungsvermeidung mit unehrlichen Personen und Gegenständen waren die Bestandteile, aus denen sich Ehrlichkeit ableiten ließ. Auch in Oldesloe achteten die Zünfte sorgfältig auf die Ehrlichkeit ihrer Mitglieder, denn die „Vier Ämbter [müssten] rein und sauber gehalten werden.“ 1689 wurden die Schmiede per königlichem Befehl in einem langen Rechtsstreit gezwungen, Jobst Hildebrandt als Meister aufzunehmen, dem sie die Zeugung eines unehelichen Kindes vorwarfen.1 Die gleiche Zunft nahm 1776 Jürgen Steinberg das Amt und den Kirchen-Stuhl, weil er auf einem benachbarten Gut geholfen hatte, einen sogen. „Spanischen Mantel“ mit Eisen zu beschlagen.2 Claus Dwenger sollte 1794 aus der Böter-Totengilde ausgeschlossen werden, weil er geholfen hatte, ein Scharfrichterkind zu Grabe zu tragen.

Zu einem ehrlichen Leben gehörte als Abschluss ein ehrliches Begräbnis, das sämtliche oben angeführte Elemente enthielt. Wurde es verweigert – entweder von der weltlichen Obrigkeit oder dem Klerus – so bedeutete es sowohl für den Verstorbenen wie für die Angehörigen eine schwerwiegende Kränkung und unter Umständen auch nicht unerhebliche ökonomische Bedrohung, weil Kinder unehrlich Beerdigter nicht mehr in Zünfte aufgenommen wurden. Mit der Zuweisung eines Begräbnisplatzes außerhalb des Friedhofes oder der Verweigerung der vollständigen Begräbnisriten wurden auch Tote aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder zumindest stigmatisiert.

Die Anwesenheit von Straftätern, Selbstmördern oder „unehrlichen“ Leuten wie den Scharfrichten konnte auf dem Friedhof entweder überhaupt nicht geduldet oder nur am Rande, „an einem Aborte, eben neben dem Beinhaus, an der Stakette“ hingenommen werden. Das unehrliche Begräbnis geschah auf unehrlichen Plätzen: in Heiden, Mooren, an Kreuzwegen und im schlimmsten Falle in „Schinderkuhlen“ oder auf den Galgenplätzen. Diesen Toten wurden die christlichen Riten verweigert. Ihre Körper wurden nicht von ehrlichen Leuten, die dem gleichen sozialen Status angehörten, sondern entweder vom Scharfrichter oder Abdecker und seinen Knechten oder von armen, dafür bezahlten Leuten, getragen und verscharrt. Ausgeschlossen waren Verbrecher, die eines Kapitalvergehens angeklagt und zum Tode verurteilt wurden, und Selbstmörder, deren Tat als Mord gewertet wurde. Für sie gab es in Oldesloe einen besonderen Ort, der außerhalb der Einfriedung des Kirchhofes „an dessen Wasserseite lag.“ Als „locus peccatorum“ wurde er „zum Eingraben solcher Leute, die „unter bedenklichen Umständen eines gewalthsamen und unnatürlichen Todes gestorben sind, gebraucht.“ Hier wurde im Juli 1793 der Handschuhmacher Johann Hinrich Braun von Tagelöhnern und armen Leuten verscharrt. Er hatte im März zuerst seine Frau umgebracht und sich dann selbst getötet. Sein Leichnam wurde auf königlichen Befehl in seine und seiner Frau blutige Kleider gewickelt und in einem zusammengeschlagenen Kasten beerdigt.3

An dieser Abseite wurden auch Selbstmörder begraben, deren Tat als schwere Sünde galt. Allerdings haben sich in Oldesloe hierfür keine Belege erhalten, sondern besonders im Umgang mit Selbstmördern zeigt sich, dass die Bereitschaft, diese Menschen nicht mit der vollen Härte zu bestrafen, groß war. In Oldesloe ertranken zahlreiche Menschen in den beiden Flüssen Trave und Beste. Neben eindeutigen Unfällen fallen doch einige Umstände auf, die den Verdacht aufkommen lassen, die Ertrunkenen hätten ihren Tod freiwillig gesucht, also Selbstmord begangen. Als der gerade arbeits- und wohnungslos gewordene Arbeitsmann Gatermann im Februar 1834 in der Beste ertrank, sagte sein Schwager sofort aus, an ihm keinen „Mismuth“ gefunden zu haben; die Wirtin, bei der er sich zuletzt aufhielt, fand ihn dagegen „auffallend stille, da er sonst gesprächig gewesen wäre.“4 Der Maler Lenau, der 1820 ertrunken aufgefunden wurde, lebte zwar in der „größten Armuth“, aber da man über die „Veranlassung des Hineinfallens“ nichts wisse, „könne man den Verstorbenen auch nicht als Selbstmörder betrachten.“5 Er wurde nicht auf dem „locus peccatorum“, sondern „ganz im Stillen“ auf dem Friedhof beerdigt. Ähnlich verfuhr man auch 1779 mit dem jugendlichen Jürgen Heuermann, weil er seiner „genugsam bekannten Wildheit und Unbändigkeit“ wegen seinen Tod „muthwillig“ herbeigeführt hatte – er war über ein geöffnetes Grab gesprungen und dabei in die Grube gestürzt und kurz darauf gestorben. Sein Tod wurde als „Selbstmord“ geahndet.6

Stille Beerdigungen, die ohne Geläut und ohne Gesang vollzogen wurden, erhielten auch Menschen, deren Tod als Ergebnis eines von ihnen begangenen Vergehens oder Verbrechens angesehen wurde. Elisabeth Hadeler, die 1714 kurz nach der verheimlichten Geburt ihres unehelichen Kindes starb, wurde zu einem Begräbnis auf der Abseite des Kirchhofes, ohne Gesang und Gefolg und in der Dämmerung, verurteilt.7 Ebenso wurden nicht konventionelle Lebenswege geahndet. Der Böterknecht Johann Burmester wurde still beerdigt, weil er – obwohl getauft und konfirmiert – Zeit Lebens nicht in die Kirche gegangen und sich der „Völlerey ergeben“ hatte. Er wurde auf Anweisung des Kirchenkonvents nicht nur ohne Geläut und Gefolg, sondern auch „an einem Aborte, eben neben dem Beinhause und der Stakette, oder wo es ohne jemandes Anstoß, jedoch andern zur nötigen Warnung, geschehen kann,“ beerdigt, obwohl sich der Magistrat ausdrücklich für ihn verwandte.8

Der Oldesloer „locus peccatorum“ wurde vermutlich nicht sehr oft benutzt – die Bereitschaft, ein stilles Begräbnis zu gewähren war offensichtlich weit verbreitet, so dass zum Ende des 18. Jh. sogar die Aufhebung des Platzes erwogen wurde, um ihn einzufrieden und als Armenbegräbnisplatz zu verwenden. Sicherlich musste vom Kirchenjuraten davon ausgegangen werden, dass wohlsituierte, ehrliche Oldesloer Bürger diesen Ort niemals als Grabstelle angenommen hätten. Als 1824 der neue Friedhof außerhalb des Stadtbezirks eingeweiht wurde, verzichtete man grundsätzlich auf einen besonderen Sünderplatz.

In schwerwiegenden Fällen aber bestand die Gemeinschaft nachdrücklich auf einem Ausschluss des Toten. Dies war 1812 bei Andreas Peter Höpfner der Fall. Dieser Tagelöhner hielt in der einen Hand noch ein zusammengenähtes Stück blauen, angebrannten Zuckerpapiers, als er tot auf der Diele eines Kuhstalles gefunden wurde. In der Tüte fanden sich schwarze, mit Schwefel getränkte und in Pulver gewendete schwarze Fäden, die den schnell erhobenen Verdacht der versuchten Brandstiftung erhärteten. Vermutlich war er durch „einen Fehltritt durch die Bodenluke auf die harte Lehmdiele mit dem Gesichte voran von etwa 11 Fuß Höhe gestürzt“ und hatte sich dabei das Gesicht zerschmettert. Der Magistrat wollte ihn still auf einer Abseite des Kirchhofes beerdigen lassen, aber die Bürgerschaft intervenierte und verlangte, dass der Leichnam vom Schinder im Schinderkarren transportiert und abends auf dem Galgenberg verscharrt wurde. Der Magistrat stimmte dem „mit Rücksicht auf sein (Höpfners) früheres Betragen und auf die ihn diesmal gravirenden Umstände“ zu. Die hier genannten „gravirenden Umstände“ wiesen Andreas Peter Höpfner als vermuteten Mordbrenner, also als Brandstifter, aus. Obwohl die Beweggründe für die versuchte Tat unklar bleiben, lässt sich aus den Akten das Bild eines Menschen gewinnen, der finanziell zunehmend in Bedrängnis geriet und offenbar mit einem aufbrausenden Charakter versehen war. Höpfner wurde mehrmals zu Gefängnis- und Geldstrafen wegen Diebstählen und Beleidigungen verurteilt. Dies erklärt wohl den ausdrücklichen Willen der Bürgerschaft zu der extrem unehrenvollen Bestattung.

Die Berührung durch den Schinder, die Wahl einer ungewöhnlichen Beerdigungszeit, die Verweigerung aller Riten und der Galgenplatz begründeten die Unehrenhaftigkeit von Höpfners Beerdigung. Und so schließt sich der Kreis zu Pastor Hansens Beschwerde: Wenn Leichenteile außerhalb des Kirchhofes verscharrt wurden, so erhielten sie eine Behandlung, wie sie sonst nur Mördern und Dieben zu Teil wurde. Deshalb waren die Oldesloer Bürger über das die Verstorbenen entehrende Verhalten der Arbeitsleute empört.

1 Stadtarchiv Oldesloe (StAOD), Bestand I, Acta XX, Nr. 12, 100, Glückstadt, den 14.11.1689.
2 StAOD, Bestand I, Acta XX, Nr. 32, Klageschrift undatiert, 1776. Der spanische Mantel war in den Augen der Zunft „unehrlich“, weil er als Folterinstrument zu den Requisiten des Scharfrichters gehörte.
3 StAOD, Bestand I, Acta VII, Nr. 183.
4 StAOD, Bestand I, Acta VIII, Nr. 157: Actum Oldesloe, den 5. und 7.2.1834.
5 StAOD, Bestand I, Acta VIII, Nr. 157, Pro Memoria Oldesloe, den 18. October 1820.
6 StAOD, Bestand I, Acta XXII, Nr. 153: Bürgermeister Noodt, Schreiben vom 23.12.1779.
7 StAOD, Bestand I, Acta VII, Nr. 73.
8 StAOD, Bestand I, Acta XXII, Nr. 153: Ita decretum Bramstedt und Segeberg den 6.1.1780, von Visitations wegen Hasse.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Begraben im Abseits (November 2004).
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