"Mein Vater, der immer lacht, der immer schwankt. Der mit dem längsten Sterben der Welt. Der lebendigste Tote, den es je gab. Der, dessen größtes Verdienst es ist, dass er trotz allem lebt. Der, auf dessen Tod ich mich gründlich vorbereitet hatte. Mein Vater. Der leise weint und sehr viel lacht. Der sehr oft schweigt. Und gerne erzählt ... Mein Vater hat Krebs!" So beginnt der autobiografische Roman "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" von Mely Kiyak, einer deutschen Autorin mit kurdisch-alevitischen Wurzeln.
Das Buch ist aus der Perspektive der Tochter geschrieben. Sehr lebendig und berührend werden die Wut und Verzweiflung geschildert, die Trauer und die Angst vor dem bevorstehenden Abschied des Vaters. Gleichzeitig aber herrscht auch Leben und Humor. Man schmunzelt, wenn der Vater Bett und Beet verwechselt und sich wundert, warum es ein Schild gibt, worauf steht, "dass die Patienten ihre Zigarettenstummel nicht ins Bett werfen sollen". Geschildert werden auch Abenteuer-Geschichten aus der kurdischen Heimat des Vaters, die von Entführungen, Blut-Fehde, Mord und Totschlag handeln.
Gerade diese verschiedenen Stimmungen machen diesen Text besonders, in dem der palliative Alltag widergespiegelt wird. Mit genauer Beobachtungsgabe wird der Krankenhaus-Aufenthalt, der eigentlich nur 3 Tage dauern sollte, und sich dann über Wochen hinstreckt, geschildert. Eigentlich möchte der Vater sterben, einen schnellen und schmerzlosen Tod. In bedingungsloser Liebe kämpft die Tochter für
ihren Vater, überredet ihn zu notwendigen medizinischen Therapien bis hin zur Chemotherapie. Sie scheut nicht die Konfrontation mit dem Pflegepersonal und den Ärzten. In dem Krankenhaus wird viel therapiert - aber wenig kommuniziert. Darunter leidet der Vater sehr. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er krank geworden ist, und meint, seiner Tochter damit zur Last zu fallen. Nur der Krankenhaus-Psychologe Herr Wächter findet einen guten Draht zur Familie. "Fürsorglicher Belagerungszustand", so beschreibt er die Situation des Vaters. "Wir stehen ihm bei, obwohl er uns nicht bittet. Aber wir tun es aus Fürsorge."
Mely Kiyak findet wunderbare Metaphern, um den Gefühlszustand, die Sprachlosigkeit der verzweifelten Tochter zu beschreiben, und hält uns gleichzeitig einen Spiegel vor, wie wir mit unserem "molekularem Geschwätz" vielleicht das Hirn erreichen, aber nicht den Verstand.
Man kann aus diesem Buch viele wertvolle Erfahrungen mitnehmen, die wesentliche palliative Themenbereiche ansprechen: interkulturelle Aspekte, Kommunikation, Trauer, Angst, Umgang mit Angehörigen, Humor und Hoffnung. Bei aller Kritik am Gesundheitswesen, den Abläufen im Krankenhaus, den wenig empathischem, vor allem mit sich selbst beschäftigtem Krankenpflegepersonal und den um die richtigen Worte ringenden Ärzten, ist die Tochter auch zur Selbstreflexion und Selbstkritik fähig. Dies macht das Buch außerordentlich lesenswert.
Mely Kiyak, Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an. Hanser Verlag, 2024