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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Baruh hagozer: Gesegnet sei Er, der Verhängnis verhängt. Anmerkungen zu zwei Grabinschriften auf dem Neuen Portugiesenfriedhof in Ohlsdorf

Baruh hagozer (ךורב רזוגה: Gesegnet sei Gott, auch wenn er mir ein Unglück verordnet hat). Diesen traditionellen Segensspruch, der die Unterwerfung unter Gottes Willen im Sinne einer negativen Situation ausdrückt, erwähnen die Hebräische Bibel, Tosefta, Talmud und Midrasch sowie das Morgengebet, das vor den Dezmera-Versen gesprochen wird. Der Segen baruh hagozer ist seit dem 17. Jahrhundert als Eingangszeile besonders auf den jüdischen Friedhöfen des Balkans und des Osmanischen Reiches populär.

So finden sich auf den 61.022 erfassten Grabsteinen in der Türkei genau 14.647 Grabsteine mit diesem Segensspruch.1 Und nordafrikanische hahamim (Rabbiner und Gelehrte) des 19. Jahrhunderts zitieren den Segen ebenso, wie im 20. Jahrhunderts der Segensspruch die Grabsteine ihrer Gemeindemitglieder ziert.
Auf aschkenasischen Friedhöfen in Deutschland ist baruh hagozer nicht nachgewiesen. Die exzellente Friedhofsdatenbank EPIDAT verzeichnet den Segensspruch nicht, allein das Wort hagozer erscheint auf einer Grabinschrift des 1703 verstorbenen und auf dem aschkenasischen Teil des Jüdischen Friedhofs Altona begrabenen Shmuel Sanwel ben Juspa Hekscher.2
Auf den ca. 2000 sefardischen Grabsteinen der vier sefardischen (Teil)-Friedhöfe in Hamburg und Altona (Portugiesenfriedhof Altona3 Portugiesenfriedhof Bahrenfeld, Portugiesenfriedhof Grindel4, Neuer Portugiesenfriedhof Ilandkoppel)5 ist der Segensspruch nur auf zwei Grabsteinen des Neuen Portugiesenfriedhofs nachgewiesen. Und zwar auf Steinen der im 19. und 20. Jahrhundert aus dem Osmanischen Reich nach Hamburg eingewanderten Sefarden (Spaniolen) bzw. auf dem Grabstein einer Aschkenasin, die mit einem sefardischen Levantekaufmann aus Smyrna (Izmir) verheiratet war. Im Gegensatz zu den Portugiesen, die sich als Nachfahren zwangskonvertierter iberischer Juden Ende des 16. Jahrhunderts in Hamburg niederließen und ihre Grabinschriften überwiegend auf Hebräisch und Portugiesisch verfassten, sind die Sefarden (Spaniolen) Nachkommen von iberischen Juden, die nach der Vertreibung aus Spanien (1492) vor allem in Italien und im Osmanischen Reich eine neue Heimat fanden.6 Ihre Grabsprache ist Hebräisch und Spanisch (bzw. Judenspanisch) und Französisch.7 Auf dem Neuen Portugiesenfriedhof Ilandkoppel (Ohlsdorf) befinden sich unter den 143 Grabsteinen nur sechs spaniolische Steine: Salomon Alcalai
(1896-1896), Jacob Eskenazi (Konstantinopel 1879-1914), Nachman Raimund Ergas (Ploieşti 1877-1919), David Benezra (Konstantinopel 1866-1926)8, Moise Jacques Rosanis (Sofia 1897-1932)9 und Fanni Cori (1873-1937).

[1]
Jacob Eskenazi
geb. 19. August 1879, gest. 20. Januar 1914/22. Tevet 5674

Jacob Eskenazi, Sohn des Haim Baruch Eskenazi und Bruder von Rafael Eskenazi, der sich 1896 in Leipzig niederlässt, erkrankt während eines Aufenthaltsin Hamburg und verstirbt im Krankenhaus Eppendorf.10 Die hebräisch-französische Inschrift lautet (in freier und kommentierter Übersetzung): [Hebräisch] Gesegnet sei ER der (Verhängnis) verhängt. Tränen rinnen jedem, der vorübergeht, über den Tod eines Mannes, eines Redlichen und Aufrechten (?). Die, die ihm nahe, sind fern von ihm, im fremden Land, und krank ist er, in seiner Blüte gepflückt, seine Tage nicht vollendet. [vgl. Hiob, 8, 12]. 35 Jahre betrugen die Tage seines Lebens. Am 2. Tag, dem 22. des Monats Tevet des Jahres [5]674, am 20. des Monats Januar 1914, erlosch sein Docht (Jesaia 43, 17). Jacob Eskenazi ward er genannt, Sohn des vornehmen Haim Baruch, der bekannt war in den Toren. Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens.

[Französisch]11
Jacob Eskenazi, Sohn des Haim Eskenazi. Geboren am 19. 8. 1879 in Konstantinopel, gestorben am 20. 1. 1914.



Grabstein für Jacob Eskenazi, Grablage: Reihe 6, Nr. 17. Schriftplatte: 1,46 x 0,60 x 0,045; Sandstein; Dekor: Grabsteintumbe aus acht Teilen; Sprachen: Hebräisch/Französisch (Fotos 1-4: M. Halévy (1 und 2)

[2]
Fanny Cori
Fanny Cori, geb. am 17. November 1873 / 27. Heshvan 5634 in Karlsruhe, gest. am 11/12. Februar 1937/1. Adar 5697 in Hamburg

Fanny Cori ist die Tochter des wohlhabenden und religiösen Kaufmanns Isaac Abraham Ettlinger-Halpern, gest. 1912 in Frankfurt am Main, und Rosalie Halpern, gest. 1908 in Frankfurt am Main, beide bestattet auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Frankfurt. Fanny Ettlinger-Halpern heiratet am 12. Januar 1900 in Frankfurt am Main den in Smyrna/Izmir geborenen Rafael Cori y Rodi[t]ti, Importeur von landwirtschaftlichen Naturprodukten aus der Türkei, bis 1913 (?) wohnhaft in Hamburg, Schlüterstrasse 44.12 Seine Frau Fanny, von der er wohl getrennt lebt, ist bis 1936 Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde, dann Mitglied der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde. Die in hebräischer und spanischer Sprache verfasste und anspielungsreiche Grabinschrift lautet:

[Hebräisch]
Gesegnet sei der, der (Verhängnis) verhängt.
Hier ist verborgen die ehrenwerte, die züchtige Frau Fanny Cori, ihre Seele möge im
Glück wohnen. Von der Frucht ihrer Hände gebet ihr. Ein wackeres Weib ist die Krone
ihres Mannes. Geboren am 27. Heshvan [5]634. Ihre Seele verschied am Roshodes
Adar [5]697 nach der kleinen Zählung). Rühme meine Seele den Ewigen. Es treten
ihre Söhne auf und preisen sie, ihr Mann, und weint über sie. Viele Töchter haben
sich wacker erwiesen. Es rühmen sie in den Toren ihre Werke.

[Spanisch]
Fanny Cori
Frau von Tugend
5634 – 5697



Grabstein und Traueranzeige für Fanny Cori, geb. Ettlinger-Halpern, Grablage: Reihe 5. Maße: 1,48 x 0,79 x 0,675; Grauer Granit; Dekor: Tumbe aus sieben Teilen; Sprachen: Hebräisch/Spanisch (3 und 4)

Anmerkungen
1 Minna Rozen (Bearb.), A World beyond: Jewish cemeteries in Turkey, 1583-1990, Tel Aviv, https://
jewishturkstones.tau.ac.il.
2 http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat
3 Michael Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon der Hamburger Sefarden, Hamburg: Christians,
2000; idem, Der Hamburger Portugiesenfriedhof. Ein Weltkulturerbe, Berlin-Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2023.
4 Michael Studemund-Halévy, Überführte sephardische Grabmale ohne Umbettungen, in: Der Grindel-Ersatzfriedhof (Hg. Gil Hüttenmeister & E. Kändler), Hamburg: Hamburgischer Merkur, 2013, S.
423-466.
5 Michael Studemund-Halévy, Der Neue Portugiesenfriedhof Ilandkoppel [MS], im Auftrag der Kulturbehörde Hamburg.
6 Michael Studemund-Halévy, Die Sepharden des Sultans, in: ZENITH 3, 2003. S. 46-47.
7 Michael Studemund-Halévy, Wer Französisch spricht, braucht keinen Fez. Die Alliance Israélite Universelle und die Juden in Hamburg und Altona, in: LISKOR VI, 22, 2021,12-21; LISKOR, VI, 24, 2021, S.
21-31
8 Michael Studemund-Halévy, in: ZENITH 3, 2003. S. 46-47; idem, Türkische Juden in Hamburg, Teil 2:
Was die Frage des Wechsels der Staatsangehörigkeit betrifft, in: LISKOR VI, 23, 2021, S. 11-19.
9 Michael Studemund-Halévy, Tod im Wasser: Ertrunken im Hafen, in der Alster und in der Elbe, in:
Maajan 75, 2005, S. 2573-2575.
10 Michael Studemund-Halévy, Türkische Juden in Hamburg, Teil 3: Ein Arzt, ein Grabstein, ein Wanderer,
in: LISKOR, VI, 24, 2021, S. 21-31.
11 Jacob Eskenazi war wohl Schüler der Alliance Israélite Universelle in Konstantinopel/Istanbul.
12 Der Kaufmann Rafael Hayim Cori y Rodi[t]ti, Sohn des Hayim Cori und der Niama Roditti, wird am 22.
Januar 1868 in Smyrna/Izmir geboren. Ende der 1890er Jahre wird er Mitglied der Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde in Hamburg und zahlt 1898 einen Gemeindebeitrag von Mark 15. Der Importkaufmann erwirbt zusammen mit seinen Kindern in den 1920er-Jahren die spanische Staatsbürgerschaft(?) und lebt zeitweise in Spanien und in Frankreich, hält aber den Kontakt mit der Hamburger Gemeinde aufrecht. 1935 vertritt er die Hamburger Gemeinde bei der Maimonides-Tagung in Córdoba. Aus diesem Anlass veröffentlicht er 1935 in Madrid einen kleinen Druck über den berühmten
spanischen Arzt und Philosophen Rambam. Moses Cordubensis), die er Niceto Alcalá Zamora y Torres,
bis 1936 erster Staatspräsident der Zweiten Republik, widmet; idem, "Rettung in weiter Ferne: der
Amsterdam Sephardenkongress von 1938, Portugal und die Hamburger Portugiesen", in: Lusorama
31, 1996, pp. 89-113; idem, Salvação no Longínquo Distante: O Congresso Sefardita de Amesterdão
em 1938, Portugal e os Portugueses de Hamburgo, in: Revista de Estudos Judaicos 3, 1996, S. 61-82.

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