Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Arbeiterbewegung und gemeinnützige Bestattungskultur im 20. Jahrhundert

Die gesellschaftlichen Veränderungen im Kontext von Industrialisierung und Verstädterung, insbesondere das Aufkommen und Erstarken von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, haben das Bestattungswesen im frühen 20. Jahrhundert grundlegend beeinflusst. Sie brachten solidarische Organisationsformen hervor, die auf zentralen Leitbildern der Arbeiterbewegung, insbesondere der Gemeinnützigkeit und genossenschaftlichen Selbsthilfe, basierten.

Verknüpft waren diese Entwicklungen mit der Einführung der Feuerbestattung und dem Bau von Krematorien als zentralem Katalysator einer um 1900 einsetzenden Bestattungsreform.1 Deren Praktiken, u.a. in Form der miniaturisierten Aschenbeisetzung, waren geeignet, die Kosten von Bestattungen zu vermindern. Auch die teils antikirchliche Ausrichtung der Feuerbestattung half bei der Akzeptanz innerhalb der Arbeiterbewegung, insbesondere der Sozialdemokratie.

Insgesamt wurde die Einführung der technischen Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert von der Arbeiterbewegung als fortschrittliches Projekt der Moderne aufgegriffen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstanden proletarische Feuerbestattungskassen. Dies entsprach den vielfältigen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Aktivitäten der Arbeiterbewegung, die als Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft einen eigenen sozialen Kosmos bildete.

Die Feuerbestattungskassen organisierten sich in diesem Milieu als nicht-kommerzielle, auf solidarische Unterstützung ausgerichtete Vereinigungen, die sich an den Praktiken des aufblühenden, gewerkschaftlich-sozialdemokratisch geprägten Genossenschaftswesens orientierten.2 Die größte unter diesen Kassen, die Berliner "Volks-Feuerbestattung", war ein "Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit" (V.V.a.G) - eine im Genossenschaftswesen übliche Organisationsform. Die zugrunde liegende Idee bestand darin, dass die Vereinsmitglieder gleichzeitig Eigentümer waren und unter dem Leitgedanken "Vereint nur sind die Schwachen mächtig" alle gemeinsam die Lasten trugen.3

Die Einführung der Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert in Deutschland - das erste Krematorium ging 1877 in Gotha in Betrieb, 1891 folgte Heidelberg, 1892 Hamburg - war sozialgeschichtlich zunächst ein Projekt des bürgerlichliberalen Milieus. Die Protagonisten dieser Bewegung entstammten in der Regel aufgeklärt-reformorientierten, säkularisierten bürgerlichen Kreisen mit typischerweise naturwis-senschaftlich-technisch orientierten Professionen.4 Die christlichen Kirchen wandten sich zunächst mehr oder weniger vehement - die katholische Kirche noch bis weit ins 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil - gegen diese als antichristlich betrachtete Bestattungsart.5


Das Wiener Krematorium von 1921

Mit einiger zeitlicher Verzögerung erreichte die Feuerbestattung noch vor dem Ersten Weltkrieg auch die Arbeiterbewegung. Zu dieser Zeit waren bereits etliche Trauerfeiern in den noch wenigen Krematorien weltlich ausgerichtet. Behindert wurde die Annäherung zwischen Arbeiterschaft und Feuerbestattung jedoch zunächst noch dadurch, dass wichtige deutsche Teilstaaten für ihr Territorium aufgrund des Widerstandes der Kirchen die Feuerbestattung erst sehr spät zuließen. Dies galt etwa für Bayern, aber vor allem für Preußen und damit auch Berlin als größter deutscher Stadt, wo Einäscherungen erst ab 1911 gesetzlich erlaubt wurden (bis dahin mussten sich preußische Feuerbestattungsanhänger kostenaufwändig in auswärtigen Krematorien einäschern lassen). Einschränkend für die Ausbreitung in der Arbeiterschaft wirkte auch, dass in der Frühzeit der Feuerbestattung die überwiegende Mehrzahl der Krematorien von Vereinen betrieben wurde, ihre Nutzung wegen der teils noch geringen Auslastung mit hohen Gebühren verbunden war und eine breite, die Kosten senkende Kommunalisierung erst in der Zeit um und nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte. Auch das 1911 erlassene preußische Feuerbestattungsgesetz behinderte aufgrund seiner restriktiven, die Kosten hochdrückenden Gebührenvorschriften - der politische Druck der Kirche spielte hier eine Rolle - die Nutzung der Krematorien durch die Arbeiterschaft.

Dies war nicht zuletzt ein Grund, warum die Anfänge proletarischer Feuerbestattungskassen aus Berlin stammen. Die größte unter diesen neuen Organisationen, die auf eine Popularisierung der Feuerbestattung in den Arbeiterschichten zielten, war die 1913 gegründete "Volks-Feuerbestattungsverein Groß-Berlin V.V.a.G" (V.V.a.G. = "Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit"; später Volks-Feuerbestattung V.V.a.G.). Hier sollte eine auf gegenseitiger Unterstützung basierende Organisation die Kosten der Feuerbestattung zu mindern helfen, der Grundgedanke der genossenschaftlichen Selbsthilfe stand im Vordergrund.

So entstanden vor dem Ersten Weltkrieg im Umfeld von Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung neuartige Organisationsformen eines nicht-profitorientierten Bestattungswesens. Die Gründungsversammlung der Volks-Feuerbestattung fand am 19. Januar 1913 statt. In einer späteren Festschrift heißt es über die sozialen Intentionen und konkreten Ziele: "Der soziale Charakter des Vereins war in seiner Geburtsstunde vorgezeichnet: sein Zweck und seine Aufgabe sollten darin bestehen, für die minderbemittelten Bevölkerungsschichten die dereinst anfallenden Kosten 'für die Durchführung ihrer Feuerbestattung schon bei Lebzeiten gegen Zahlung äußerst geringer Beiträge sicherzustellen'. Die 'Sachleistungen' sollten sich auf die Beschaffung der amtlichen Atteste, des Sarges, auf die Überführung zum Krematorium, die Einäscherung und auf die Beisetzung der Urne beziehen. ... Mit Hilfe der zu schaffenden Vereinseinrichtungen wollte man allen Mitgliedern eine würdige und pietätvolle Einäscherung gewährleisten."6


Gedenkstein für Wiener Vorkämpfer, auch hier gab es enge Bande zur Arbeiterbewegung

In der Berliner Volks-Feuerbestattung zeigte sich also von Anfang an die programmatische Verknüpfung sozialpolitischer Vorstellungen mit der Feuerbestattung. Gegen monatliche Beiträge von zunächst 20 bis 65 Pfennig gewährte der Verein nach mindestens einjähriger Mitgliedschaft eine kostenlose Feuerbestattung. Die gemeinnützigen Bestrebungen blieben nicht ohne Widerstand des Staates: Auf Druck des Kaiserlichen Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherungen musste sich der Verein, der ursprünglich als "gegenseitige Hilfe für den besonderen Zweck" gegründet worden war, als "Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit" (V.V.a.G.) gerichtlich eintragen lassen. Außerdem wurde der Verein unter Reichsaufsicht gestellt. Immerhin blieb auch mit der neuen Rechtsform der Grundgedanke der genossenschaftlichen Selbsthilfe gewahrt.7

Zu Beginn wurden nur (frei-) gewerkschaftliche Mitglieder aufgenommen. Zahlstellen wurden in den einzelnen Berliner Stadtbezirken eröffnet, meist in gewerkschaftsnahen Gastwirtschaften - was zugleich die soziale Milieubindung erhöhte. Bereits kurz nach Gründung zählte die Volks-Feuerbestattung über 1 000 Mitglieder. Die Bestattungen wurden zunächst von gewerkschaftsnahen Bestattungsunternehmern praktiziert. Berlin verfügte im Gründungsjahr der Volks-Feuerbestattung, also zwei Jahre nach Verabschiedung des preußischen Feuerbestattungsgesetzes über die beiden Krema-torien Gerichtstraße (Wedding, eröffnet 1912) und Baumschulenweg (Treptow, 1913). Ein drittes Berliner Krematorium entstand nach dem Ersten Weltkrieg unter finanzieller Mitwirkung der Volks-Feuerbestattung 1922 im Stadtteil Wilmersdorf.8

In der bereits erwähnten Festschrift der Berliner Volks-Feuerbestattung hieß es rückblickend: "Was 1913 geschaffen wurde, war schließlich ... nicht irgendein Versicherungsverein. Er hatte wohl die Rechtsform, aber er wurzelte klar und eindeutig in einer Idee, in einem Programm, das ihm den Namen gab: Volks-Feuerbestattungsverein Groß-Berlin. Sein Ziel war die Förderung der Feuerbestattung; seine besondere Aufga-be erblickte er darin, sie allen, auch den sozial schwachen, wirtschaftlich benachteiligen Bevölkerungskreisen zu ermöglichen."9

Im Jahr 1918 kam die erste Ausgabe der Vereinszeitschrift "Die Volks-Feuerbestattung" heraus, der Verein zählt nun etwa 3 000 Mitglieder. Angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Not in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Mitgliederzahl rasch an: 1920 auf 49 543, 1921 auf 89 895 und 1922 auf 153 628 Mitglieder. Ab 1921 wurden die Bestattungen nicht mehr an andere Bestattungsunternehmen delegiert, sondern selbst unter gemeinwirtschaftlichen Leitbildern durchgeführt. Ein eigener Fuhrpark wurde aufgebaut, Sägewerk und Schreinerei schufen die Voraussetzungen für die eigene Sargproduktion.10

Im Jahr 1922 wurde die Beschränkung auf Groß-Berlin aufgegeben und der Verein in "Volks-Feuerbestattungs-Verein V.V.a.G." umbenannte. Eigene Geschäftsstellen entstanden in allen deutschen Großstädten und anderen Krematoriumsorten. Dies bildete einen weiteren Schritt der Expansion: Ende 1925 hatte der Verein rund 600 000 Mitglieder. Neue Dienstleistungen im Bestattungswesen kamen hinzu: die Anlage eigener Aschenbeisetzungsanlagen auf Friedhöfen, das Angebot musikalischer Untermalung der Trauerfeier sowie die Mitwirkung von Trauerrednern bei Bestattungszeremonien.11

Anmerkungen

1Tade M. Spranger/Frank Pasic/Michael Kriebel (Hg.), Handbuch des Feuerbestat-tungswesens, München 2021 (2. Aufl.); Norbert Fischer, Zwischen Technik und Trauer, Berlin 2002.
2 Zur Genossenschaftsgeschichte neuerdings Gisela Notz, Genossenschaften: Geschichte, Aktualität und Renaissance, Stuttgart 2021.
3 Walther G. Oschilewski, Vereint nur sind die Schwachen mächtig. Zum 50. Gründungstag des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit "Volks-Feuerbestattung", Berlin 1963; Gert Andreas Benkel, Der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, München 2002 (2. Auflage); siehe auch zum damaligen historischen Kontext Edmund Fischer/Kurt Bärbig, Die Sozialisierung des Bestattungswesens, Dresden 1921.
4 Norbert Fischer, Geschichte der modernen Feuerbestattung und Krematorien, in: Tade M. Spranger/Frank Pasic/Michael Kriebel (Hg.), Handbuch des Feuerbestattungswesens, München 2014, S. 15-32.
5 Axel Heike-Gmelin, Kremation und Kirche. Die evangelische Resonanz auf die Einführung der Feuerbestattung im 19. Jahrhundert. Berlin 2013; zeitgenössisch Karl Sartorius, Die Leichenverbrennung innerhalb der christlichen Kirche. Eine historisch-theologische Studie, Basel 1886.6 Ebd., S. 54.7 Ebd., S. 56-57.8 Ebd., S. 58-61.9 Oschilewski, Volks-Feuerbestattung, S. 7.10 Theodor Weinisch, Die Feuerbestattung im Lichte der Statistik. Zirndorf 1929, S. 27; Oschilewski,Volks-Feuerbestattung, S. 63-65.11 Oschilewski, Volks-Feuerbestattung, S. 65-66.

Fotos: Norbert Fischer

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Gemeinnützige Bestattungskultur (März 2022).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).