Eine schmale Achse, vormals augenfällig als Allee gestaltet, lenkt die Besucher, von der Schulstraße kommend, vom Eingangstor der letzten Ruhestätte für Angehörige der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Clausthal geradezu auf die beigegestrichene, hölzern beschlagene Friedhofskapelle hin.
Sie setzt sich hinter derselben fort und führt die Besucher sodann den milde ausgebreiteten Armen einer Christusfigur zu, die in ihrem gesamten Habitus und insbesondere dem Gestus ihrer gesenkten und geöffneten Hände an Thorvaldsens zur Trostspende einladenden Heiland von 1821 erinnern muss, wie er besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach kopiert wurde: "Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken" (Mt 11, 28).
Kultivierte Begräbnisstätten, also sichtbare und sichtliche Anlagen der Bestattung, stellen eine äußerliche Verbindung der Lebenden mit den Toten dar, die sich der innerlichen anzunähern und mit ihr zu korrespondieren sucht. Künstlerische Elemente der äußeren Gestaltung zeigen den Bedeutungsgehalt der Beziehung zwischen dem Verstorbenen und den Hinterbliebenen an - die Sepulkralkunst will dem Beziehungsgeflecht zwischen Hiersein und Jenseitigkeit Rechnung tragen, indem sie bildhaft ausspricht, was mündlich ausgedrückt ungehört, zumindest unerwidert verbleiben muss.
Bergmännische Sinnbilder, wie sie an vielen Begräbnisstellen auf dem Clausthaler Friedhof offensichtlich sind, veranschaulichen die Verbundenheit der Verstorbenen und der um sie trauernden Angehörigen mit dem Bergbau, aber auch mit der belebten (Ober-) Harzer Heimat in ihrem natürlichen Gefilde wie in ihrem kulturellen Gebilde, in überkommenem Wuchs und Blütentrieb.
Obzwar der Bergbau auf dem Oberharz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitestgehend eingestellt wurde (in Grund erst 1992), ist augenscheinlich, dass noch weit über diesen einschneidenden Zeitpunkt hinaus bergmännische Symbole und Motive gewählt werden, die im Gedächtnis an die beruflich bestimmendste und prägendste Tradition der Heimat das Gedächtnis an Verstorbene und diese metaphysisch in der transzendenten Welt selbst begleiten sollen. So finden sich auf Grabsteinen der letzten 25 Jahre unterschiedliche Hinweise auf die Beziehung des jeweiligen Begrabenen zur Bergbautätigkeit.
Das Gezähe des Bergmanns in der Form von Schlägel und Eisen, deren Verrichtungsbestimmung maßgeblich in Vortrieb und Abbau besteht, versinnbildlicht das Bergwesen schlechthin. Es verweist auf den beruflichen und damit gesellschaftlichen Stand des Bestatteten - oder zumindest auf dessen anderweitige Identifikation mit dem Berufsstand des Bergmanns und ganz allgemein mit dem Bergbau, der in der eigenen Heimat wurzelt, während die eigene Heimat ihrerseits in ihm wurzelt.
Das Geleucht scheint als des Bergmanns kleine Sonne, die das Feuer des Augenlichts entfacht. Sinkt der Stern, erstirbt der Blick im Dunkel. Die Grubenlampe als Sinnbild in der Sepulkralkunst verweist zudem auf Christus als "Licht der Welt" (vgl. Joh 8, 12: "Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben."). Wird es auf den Grabstein graviert oder appliziert, erhält der Tote gleichsam ein Licht im Übergang von der diesseitigen in die jenseitige Welt, mitgegeben, um den Weg durch Nacht zum ewigen Licht, zu Christus in Ewigkeit, zu überdauern - oder er wird - anders gedeutet - vom Licht Christi höchstselbst geleitet. In einem der "Geistlichen Berggesänge" aus dem "Oberharzer Schichtsegen" von 1899 heißt es:
"Wenn wir im dunklen Schachte fahren,
so fährst du, Gott und Vater, mit;
du willst uns überall bewahren,
drum gehst du mit uns Schritt vor Schritt,
und leitest uns an deiner Hand
in unser tiefes Schauerland.
Als wir auf Todesstrecken fuhren,
in Nacht umgeben von Gefahr,
da zeigtest du der Gnade Spuren,
wenn das Verderben nahe war,
und halfst uns durch die Nacht so dicht
zum lieben, schönen Sonnenlicht!"
Ein weiterer Berggesang fasst daselbst schließlich die eschatologischen Gedanken eines lyrischen Sprechers, seines Zeichens wiederum ein frommer Bergmann, in Gebetsworte, in denen Gezähe und Grubenlicht ein besonderer, da geistlicher Deutungsgehalt zuerkannt wird, indem dem profanen Werkzeug eine sakrale Strahlkraft innewohnt:
"1. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.
Ein Grubenkleid - ein Totenkleid.
Drum falt ich betend meine Hände
und flehe um Barmherzigkeit.
O Herr, du meine Zuversicht:
verlaß, verlaß den Bergmann nicht!
2. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!
Ein Grubenschacht - des Todes Schacht.
Wohin ich meine Augen wende,
nur schweres Graun, nur tiefe Nacht.
Mein Heil, mein Licht, Immanuel,
komm, mache du mein Dunkel hell!
3. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!
Ein Grubenlicht - mein Lebenslicht.
Ein Tropfen löscht es gar behende,
wie bald verwehts der Zugwind nicht!
Herr Gott, in Not und in Gefahr
nimm meines Lebens gnädig wahr!
4. Gieb mir, o Herr, zum selgen Ende
ein wachend und ein betend Herz,
dein Wort als Leuchte in die Hände
zur Fahrt hinauf= und niederwärts.
Kommt dann die allerletzte Schicht,
dann zag ich nicht, dann klag ich nicht.
5. Still leg ich dann am selgen Ende
das schwarze Kleid der Grube ab;
man legt die ausgelöschte Blende
und mein Gezähe mir aufs Grab;
mir reicht der Herr das weiße Kleid
der himmlischen Gerechtigkeit.
6. Einst fahr ich dann am selgen Ende
herauf aus meines Grabes Schacht;
hell leuchten alle Bergeswände;
des Himmels Glanz durchbricht die Nacht;
es steigt die Gnadensonne auf,
und alles jauchzt: Glück auf! Glück auf!"
(aus "Geistliche Berggesänge", in: Oberharzer Schichtsegen. Zwei Jahrgänge Bergandachten für Grube und Haus nebst einem Anhange von Berggesängen. Herausgegeben von der Inspektionskonferenz der Geistlichen des Oberharzes. Hannover 1899. S. 480, 481 und S. 490)
Auffällig erscheint insbesondere die für den bergmännischen Berufsstand so bedeutsame, da im harten Arbeitsalltag voller Gefahren Trost und Zuversicht schenkende Lichtmetaphorik: "Immanuel", mit dem Jesus identifiziert wird, als "Licht" des Sprechers, das "Grubenlicht" als Licht des Lebens, Jesu Gebote und Verheißungen als wegweisende und Hoffnung spendende "Leuchte", die "ausgelöschte Blende" (analog zur verlöschenden Lebensfackel in der Antike), die "Bergeswände", die "leuchten" vom Abglanz des dereinstigen Weltenrichters - "Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit" (Hebräer 13,8; vgl. Tübke-Altar in der St.-Salvatoris-Kirche in Zellerfeld, obwohl später entstanden) -, der "Glanz" des "Himmels", welcher nächtlicher Düsternis eine Grenze setzt, schließlich die "Gnadensonne", von der sich der unter ihr sündhafte Mensch, wenngleich simul iustus et peccator, gleichsam den Freispruch, das göttliche Erbarmen und die Aufnahme in den Frieden der himmlischen Ewigkeit erhofft.
Der Leser kommt zudem nicht umhin, hier die berühmten Worte der Kantate für den 16. Sonntag nach Trinitatis von Johann Sebastian Bach, BWV 27, zu erinnern:
"Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?
Das weiß der liebe Gott allein,
Ob meine Wallfahrt auf der Erden
Kurz oder länger möge sein.
Hin geht die Zeit, her kommt der Tod,
Und endlich kommt es doch so weit,
Daß sie zusammentreffen werden.
Ach, wie geschwinde und behende
Kann kommen meine Todesnot!
Wer weiß, ob heute nicht
Mein Mund die letzten Worte spricht.
Drum bet ich alle Zeit:
Mein Gott, ich bitt durch Christi Blut,
Machs nur mit meinem Ende gut!"
Die Bergleute waren beseelt von Gottesglaube und erfüllt von Gottesfurcht - denn schließlich befand der allerhöchste Bergherr darüber, ob man das Tageslicht wieder erblicken durfte oder die Flamme des Augen-Geleuchts im Diesseits für immer erlosch. Die noch heute gepflegte kirchliche Tradition des Bergdankfestes legt Zeugnis von dem barocken Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit und der Ergebenheit unter einem Schöpfergott ab, welcher gibt und nimmt, welcher Ausbeute gewährt oder versagt, welcher kraft seiner ihm eigenen Allmacht seine Menschengeschöpfe in der irdischen Wirklichkeit bewahrt und belässt oder sie aus ihr zu sich abberuft.
So finden sich auf vielen Gedenksteinen in den Gräberreihen des Clausthaler Friedhofs die bergbaulichen Sinnbilder von Gezähe und Geleucht; auf manchen sind sogar beide in Verbindung zu erblicken. Meist ist hierbei der Haken der Lampe eingehängt in die Schnittstelle der Überkreuzlegung von Schlägel und Eisen.
Die Identifizierung mit dem Bergbau stellt sich dadurch als potenziert vor: "Ich bin ein Bergmann" - "Dies war ein Bergmann".
Ein Grabstein, der den Berufsstand als Bergmann vom Leder oder von der Feder verkündet, zeugt vom Selbstbewusstsein des Verstorbenen wie vom Stolz der Hinterbliebenen auf die vormalige berufliche und damit gesellschaftliche Stellung des beerdigten Angehörigen gleichermaßen. Auf ihm angebrachte Berufs- und Amtsbezeichnungen bringen dies zum Ausdruck. Die Berufsidentität der lutherischen Bergleute reichte über eine bloße Pflichterfüllung zum Broterwerb hinaus - dem zugrunde liegt Martin Luthers verknüpfende Auffassung von Berufung und Beruf. Und nicht zuletzt war Luther selbst Sohn eines mansfeldischen Hüttenmeisters, Hans Luder, gewesen. Die Blicke der - vormals bergmännischen, heute touristischen - Gemeinde bündelt, wenn sie in der Betstube im Schaubergwerk des Oberharzer Bergwerksmuseums in Zellerfeld Platz nimmt, ein mittig angebrachtes, lorbeerumranktes Bildnis des Reformators, unter dessen Augen Andacht, Fürbitte und Lobpreis verrichtet werden.
Die Angabe, die den Toten als Angehörigen des Bergmannstandes ausweist, ist als Ausdruck von (Gruppen-) Kohäsion zu begreifen, des Bewusstseins nämlich, beitragender Teil einer beruflichen Gruppe und (Schicksals-) Gemeinschaft zu sein, deren Mitglieder für eine gleiche Sache, nach gleichen Wertmaßstäben und möglicherweise, je nach hierarchischem Rang, in vergleichbaren sozialen Verhältnissen leben. Zusätzlich an den Grabstein angebrachte Zeichen von Gezähe und Geleucht sind hier durchaus auch als Statussymbole im guten Sinn des Wortes zu verstehen.
Als der Großvater väterlicherseits des Autors, einer alteingesessenen Bergmannsfamilie entstammend, obzwar selbst nicht im Bergbau tätig gewesen, im Januar 2019 im Alter von 100 Jahren auf dem Friedhof zu Clausthal wortwörtlich zu Grabe getragen wurde, bestellten dies vier über das Bestattungsinstitut beauftragte Sargträger, angetan mit schwarzem Clausthaler Bergkittel und grüner Mooskappe. Auf diese beeindruckende Weise wird auch noch in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts im Bestattungsritual zu Clausthal sehr würdevoll dem Verstorbenen die letzte Ehrbezeugung und zugleich der alten Bergmannsitten Erinnerung getan.
Ein ehemaliger Nachbar des Autors, unwesentlich jünger als er selbst, verstarb im Jahr 2019. Dem Verstorbenen wurde, offenbar von Freunden, die ihn mit seinem Spitznamen anreden, auf einer umfunktionierten Weihnachtsbaumkugel ein letzter Gruß, der Bergmannsgruß entrichtet und mit ihm gleichsam eine Art bergmännischer Valetsegen erteilt, obgleich der Betrauerte beruflich in keiner Beziehung zum Bergbau gestanden hatte. "Glück auf" - mit diesem Glück- beziehungsweise eher Segenswunsch befehlen ihn die Hinterbliebenen dem Frieden der göttlichen Allmacht an, sie erweisen ihm einen letzten Freundschaftsdienst. Offensichtlich spielte bei der Wahl des Abschiedsgrußes die Verbindung zur Oberharzer Heimat eingedenk der in ihr gemeinsam verbrachten Zeit die entscheidende Rolle. In dieser Kontexterweiterung (Bergmannsgruß → allgemeiner Alltagsgruß unter Freunden), wie sie mitunter in lokalen Jugendsprachen vorkommen kann, mag sich der bergmännische Bezug vornehmlich aus den erinnerten gemeinschaftlichen Erlebnissen und Erfahrungen während einer an einem gemeinschaftlichen Ort verbrachten gemeinschaftlichen Zeit speisen - "zum Raum wird hier die Zeit."
"Glück auf", das mag in diesem Zusammenhang so viel bedeuten wie "Herr, nimm ihn auf in die Schar Deiner Vollendeten, begleite ihn mit Deinem Segen, lasse ihn Dein Angesicht schauen und sei ihm gnädig."
Neben den Zeugnissen bergmännischer Kultur erblickt der Autor zum Abschluss seines Erkundungsganges die Applikation eines Schmetterlings auf einem Grabstein.
Die biologische Metamorphose des Tagfalters wird in religiös-metaphorischer Anschauung übertragen auf den biochemischen Prozess des menschlichen Gestaltwandels nach dem Tod. Goethe dichtete in seinem "Vermächtnis": "Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen! Das Ew'ge regt sich fort in allen." Den Sockel des Denkmals für Robert Mayer auf dem Heilbronner Marktplatz sich anschauend, liest der Betrachter die Verse:
"Wo Bewegung entsteht
Wärme vergeht.
Wo Bewegung verschwindet
Wärme sich findet.
Es bleiben erhalten
Des Weltalls Gewalten,
Die Form nur vergeht,
Das Wesen besteht."
Wenn also das Wesen unvergänglich ist, so ändert es bloß die Form. Schon in der Antike galt das Seelentier Schmetterling als Sinnbild für menschliche Reinkarnation - der flatternde Falter entfaltet sich, sobald er dem Kokon entschlüpft und entpuppt ist, der ihn zur Verwandlung umfangen hatte; es endet seine Entwicklung durch die unterschiedlichen Daseinsformen Ei, Larve, Puppe. Die Figur der lieblichen Psyche wird in der bildenden Kunst entweder mit dem Attribut des Schmetterlings oder selbst mit schillernden Schmetterlingsflügeln versehen dargestellt. Bei Betrachtung oben abgebildeter Applikation eines hell beflügelten Schmetterlings fallen einem unweigerlich Eichendorffs Verse aus seiner "Mondnacht" ein:
"[...] So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus."
Letzter Bergsegen
Dich, Bergmann, aus der Kluft
Dein Oberbergherr ruft,
Zu ruhn in warmer Gruft.
Geborgen aus dem Reich der Erze
Trittst du nach harter Schicht ans Licht
Und blickst in JESU Angesicht,
Wenn Er hebt an zum Weltgericht.
Es pocht nicht mehr dein braves Herze
Und Schlägel schlägt auf Eisen nicht,
Vorbei ist all der Mühen Schmerze,
Wenn JESU ewig Schicht anbricht.
Bis CHRIST dir wi(e)derfährt,
Dein Untertage kehrt
Und deinen Schichtlohn mehrt,
Zutag aus klammer Kluft
Dein höchster Bergherr ruft
Zur Ruh in warmer Gruft,
Die, nach deines Lebens Lauf,
Tannreis säumet grün zuhauf:
Glück auf, Glück auf, Glück auf.
Fotos: Holger Eisfelder