Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Transmortale X: Neue Forschungen zum Tod - ein Tagungsbericht

Zum zehnten Mal kamen am 26.03. und 27.03.2021 im Rahmen der transmortale Wissenschaftler*innen verschiedener Fachrichtungen zusammen, um neue Forschungen zu den Themen Sterben, Tod, Trauer und Erinnern vorzustellen.

Aufgrund der Covid-19-Pandemie fand die Tagung in diesem Jahr online statt. Veranstalter war wiederum der Arbeitskreis transmortale X des Museums für Sepulkralkultur und der Universität Hamburg: Moritz Buchner, Berlin; Norbert Fischer, Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Hamburg; Anna-Maria Götz, Stadtteilarchiv Ottensen e.V., Hamburg; Marlene Lippok, Universität Augsburg; Jan Möllers / Stephan Hadraschek, Berlin; Dirk Pörschmann / Dagmar Kuhle, Museum und Zentralinstitut für Sepulkralkultur, Kassel.

Eröffnet wurde die Tagung von Dirk Pörschmann, dem Direktor des Museums für Sepulkralkultur. Im Vortrag der Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Anke Offerhaus (Bremen) zu digitaler Unsterblichkeit waren die Begriffe "digitale Unsterblichkeit" und "digitaler Nachlass" auf digitale Objekte und Kommunikationen bezogen, die den Tod einer Person überdauern. Diese böten aus der Perspektive der Lebenden relativ neue Möglichkeiten, einem Vergessen der Verstorbenen entgegenzuwirken. Die Referentin illustrierte dies mit der Technik, die sich hinter einer Begegnung mit einer verstorbenen Person via Virtual-Reality-Brille verbirgt. Zugleich sei diese Technik aber auch ein Versuch, digitale Unsterblichkeit zu kommerzialisieren.

Die Soziologin Sabine Krauss (Augsburg) präsentierte Forschungsergebnisse zum Thema spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Dabei handelt es sich um eine neue Form der palliativen Versorgung für Schwerstkranke und Sterbende. Im Rahmen des Verbundprojekts SAVOIR ("Evaluierung der SAPV-Richtlinie: Outcomes, Interaktion, Regionale Unterschiede") wurden mithilfe von problemorientierten Leitfadeninterviews bundesweit zehn SAPV-Dienste untersucht. Neben teaminternen Personen (Ärzt*innen, Pflegefachkräften, Sozialarbeiter*innen) wurden Mitarbeiter*innen externer Institutionen wie beispielsweise ambulanter Hospizdienste und Pflegeheime befragt.

Die Auseinandersetzung mit den Opfern von terroristischen Angriffen stellt in der historischen Terrorismusforschung ein recht junges Phänomen dar. Der Geschichtswissenschaftler Kevin Lenk (Berlin) behandelte die politische Instrumentalisierung von Toten im Kontext des deutschen Linksterrorismus in den 1970er-Jahren. Die Konstruktion von Toten als Opfer, Märtyrer*innen oder Held*innen sei dabei immer als machtstiftender Prozess zu betrachten, bei dem es um die Gewinnung von politischen Machtressourcen gehe. Der Referent konzentrierte sich auf die politischen Sinnzuschreibungen an die Opfer der RAF und arbeitete heraus, wie diese sowohl von linken Gruppen als auch von Medien- und Regierungsseite instrumentalisiert wurden.

Die Osteuropaforscherin Svetlan Boltovska (Berlin) lud das Publikum zu einer näheren Betrachtung der Trauerkultur in Polesien ein, einer historischen Region, die sich heute in Teilen der Ukraine, Polens, Belarus' und Russlands befindet. Ausgehend von der Christianisierung Polesiens im 10. Jahrhundert, zeichnete sie die Entstehung vorchristlich-slawischer, christlich-orthodoxer, jüdischer, sowjetischer und post-sowjetischer Bestattungskulturen nach. Seit der Atomkatastrophe 1986 regelt eine Zonenverwaltung den Zugang zur Sperrzone, und ehemaligen Bewohner*innen und Hinterbliebenen ist der Zutritt nur an bestimmten Feiertagen gestattet. In der ukrainischen Stadt Slavutitsch, die nach der Atomkatastrophe in der Nähe von Tschernobyl erbaut wurde, hat sich eine besondere Praxis des Gedenkens entwickelt. Jedes Jahr wird die Nacht der Atomexplosion nachgestellt: Die Bewohner*innen kleiden sich in Schutzanzüge, die ganze Nacht über ertönen Sirenen, und authentische Nachrichtendurchsagen werden per Lautsprecher abgespielt.

Die Psychologin Manpreet Blessin und die Archäologin Nataliia Chub (Frankfurt am Main) referierten den Stand ihrer zusammen mit Kerstin P. Hofmann erarbeiteten interdisziplinären Forschungen zu Tod und Resilienz in der Vorgeschichte und Gegenwart. Aus diachroner und interkultureller Perspektive untersuchen sie verschiedene Resilienzfaktoren mit Blick sowohl auf trauernde Individuen als auch - oftmals heterogene - Bestattungsgemeinschaften. Der Begriff der Resilienz sei dabei als travelling concept zu verstehen, das in verschiedenen Disziplinen zur Anwendung komme. Die Frage, wie Resilienzfaktoren auch anhand materialisierter Praktiken der Vergangenheit analysiert werden können, ist hier von zentraler Bedeutung.

Der literaturwissenschaftliche Vortrag der Medizinethikerin Karla Alex (Heidelberg) galt Arbeiten Rainer Maria Rilkes, in dessen Werk der Tod, und insbesondere der Kindstod, eine besondere Stellung einnimmt. So analysierte die Referentin verschiedene Gedichte und Erzählungen. In den beiden Gedichten "Der Engel" und "Allerseelen" sei ein Ausbruch aus dem Ritualisierten zu beobachten. Das "Familienfest" behandelt ein alljährliches Fest zum Gedenken an ein verstorbenes Familienmitglied. Für Rilkes Frühwerk lasse sich feststellen, dass die Problemstellung des Umgangs mit dem Kindstod gesellschaftskritisch behandelt werde.

Die Historikerin Carolin Kosuch (Göttingen) beschäftigte sich in ihrer Spurensuche in der modernen Feuerbestattung mit Zuordnungen zwischen Technik und Geschlecht. Der Säkularismus des 19. und 20. Jahrhunderts sei stark männlich und hauptsächlich bürgerlich geprägt gewesen. Dem sehr heterogenen Begriffsfeld der Säkularisten lasse sich übergreifend eine kritisch-ablehnende Einstellung gegenüber der institutionalisierten Religion, vor allem dem Katholizismus, zuordnen. Es seien Männer gewesen, die den Diskurs prägten, die die Techniken der Feuerbestattung entwickelten und die architektonische Gestaltung der Krematorien bestimmten. Hingegen habe sowohl eine Instrumentalisierung als auch Ästhetisierung derjenigen Frauen stattgefunden, die sich für die Feuerbestattung aussprachen und diese im Todesfall wahrnahmen.

Der Medienwissenschaftler Lorenz Widmaier (Limassol) stellte erste Erkenntnisse aus seiner Studie zum Thema "Erinnerung und Tod in der digitalen Gesellschaft" vor. Qualitative Interviews mit Hinterbliebenen erfassen neben den Emotionen und Geschichten, die sie mit dem digitalen Erbe der Verstorbenen verbinden, auch Aspekte, die schwerer zugänglich sind. Hierzu zählen u.a. Einblicke in nicht öffentliches digitales Erbe (z.B. Whatsapp-Verläufe) oder die Frage, warum manche Hinterbliebene nicht online trauern. Besondere Bedeutung kommt dem sogenannten aufgezeichneten Alltag zu, dokumentiert vor allem durch Whatsapp-Verläufe. Ein weiterer zentraler Gegenstand wird unter dem Schlagwort "learning about the deceased" erfasst: Was können Hinterbliebene aus dem digitalen Nachlass über das Leben der Verstorbenen lernen? Darunter fallen teilweise sehr persönliche Einblicke, z.B. in das Leben von Personen, die durch Suizid gestorben sind, oder auch die Rekonstruktion von Todesumständen.

Ausgangspunkt der qualitativen Forschungen der Kulturwissenschaftlerinnen Melanie Hühn und Miriam Schreiter (Chemnitz) ist die besondere und mehrfache Belastung von alten und hochaltrigen Menschen durch die Covid-19-Pandemie (u.a. geringere Überlebenschancen, Isolation, Abwertung ihres Lebens). Während der ersten und zweiten Pandemie-Welle (März-Oktober 2020 und November 2020-Februar 2021) wurden Interviews mit älteren Menschen und deren Angehörigen sowie Pflegenden geführt. In der ersten Welle ließen sich die Spannungsachsen zwischen Nähe und Distanz sowie Sicherheit und Freiheit nachweisen. Als zentrales Motiv erscheine die Angst vor dem sozialen Tod. Erste Ergebnisse der Befragungen während der zweiten Welle weisen unter anderem darauf hin, dass alte Menschen sozusagen zu "Unberührbaren" wurden, indem sie beispielsweise ohne Nähe zu anderen Menschen alleine auf Intensivstationen starben. Es lasse sich eine Neubewertung des Alterns hin zu einer Abwertung nachweisen.

Zum Schluss stellte Dirk Pörschmann zusammenfassend fest, dass die Themenkomplexe Resilienz und (Gedenk-)Rituale sich als zentral sowohl für die Pandemie als auch für die diesjährige transmortale herausarbeiten lassen. Norbert Fischer ging auf das Forschungsfeld Agency ein und stellte die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten des Individuums und der sozialen Gruppe gegenüber bürokratischen Strukturen. Er wies darauf hin, dass sich auch in diesem Jahr qualitative Forschungsdesigns - oftmals basierend auf der Grounded Theory - großer Beliebtheit erfreuten. Zu vermuten sei, dass Themen aus dem Bereich des Digitalen auch in zukünftigen transmortalen in den Vordergrund rücken.

Anm. der Redaktion: Der vorliegende Text ist die redaktionell gekürzte Fassung eines auf verschiedenen wissenschaftlichen Plattformen veröffentlichten Beitrages.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Bildhauer Richard Kuöhl (August 2021).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).