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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Bestattung nach Suizid

Der Suizid eines nahen Menschen kann aus verschiedenen Gründen sehr belastend sein. Der plötzliche Verlust löst oft Panik, Schockzustand, Leere, Wut und Bedürftigkeit aus.

Beim Suizid1 kommt erschwerend dazu, dass oft Schuldzuweisungen im Raum stehen. Manchmal geben sich Zugehörige offen oder verdeckt gegenseitig die Schuld ("wegen dir hat sie das getan") oder jeder und jede sucht selbst nach eigenen Versäumnissen, diesen Tod nicht verhindert zu haben. Das gedankliche Retten der Situation ("hätte ich nur") steht dabei dem Anerkennen und Annehmen des Geschehenen im Weg. Sich selbst zu verzeihen, ist meist ein langer Weg, der Zeit braucht. Trauern ist ein Prozess. Die eigentlichen Traueraufgaben oder Facetten der Trauer (Chris Paul), die ein Weiterleben ohne den geliebten Menschen ermöglichen, fangen zum größten Teil erst nach der Bestattung an. Trotzdem hat eine gute Bestattung eine große Auswirkung darauf, wie die nächsten Monate und Jahre erlebt werden.

Abschiednahme nach Suizid

Die meisten Suizidenten werden bereits nach wenigen Stunden gefunden. Die Polizei muss gerufen werden, um Mord oder Unfall auszuschließen. Dafür wird der oder die Tote polizeilich sichergestellt (umgangssprachlich beschlagnahmt). Ob eine Obduktion erfolgt, entscheidet die Staatsanwaltschaft. Nach einigen Tagen sind die Ermittlungen abgeschlossen und der oder die Tote wird freigegeben und darf abgeholt werden.

Meist haben die Zugehörigen erst dann die Gelegenheit, sich in Ruhe und mit genügend Zeit von dem toten Körper zu verabschieden. Das ist der erste Schritt, um das, was nicht in den Kopf geht, wirklicher werden zu lassen. Ich rate eigentlich immer zu einer Abschiednahme, auch wenn der Körper verletzt ist. Die Verletzungen sind äußerlich meist viel weniger sichtbar, als wir uns das vorstellen. Versehrte Körperteile können außerdem mit einem Tuch oder mit Kleidungsstücken abgedeckt werden. Viele Zugehörige imaginieren die letzten Minuten und Sekunden vor dem Suizid. Bei der Abschiednahme bekommen sie neue Bilder und können spüren, dass der unruhige Körper "zur Ruhe gekommen" ist.

Ich habe Eltern begleitet, die ihr siebzehnjähriges Kind gemeinsam intensiv gewaschen haben. Die vernähten Obduktionsnarben haben sie mit Blütenblättern und einer wohlriechenden Salbe verschlossen. Bei einer anderen Familie haben erwachsene Kinder ihrer Mutter das schönste Kleid ausgesucht und angezogen und sie in den Sarg gebettet. In einem anderen Fall hat der Bruder des Toten – stellvertretend für alle Zugehörigen – Briefe und andere Sargbeigaben gebracht und wunderschöne Detailfotos von ihm gemacht. Indem die Zugehörigen etwas Konkretes für die Toten tun konnten, haben sie sich handlungsfähig erlebt. Die allermeisten Zugehörigen haben im Vorfeld Angst vor der Abschiednahme und sind hinterher sehr froh, sie gemacht zu haben


Abschiednahme mit Zugehörigen, Zeichnung von Joris Bas Backer

Die Trauerfeier

Zugehörige sind dem erweiterten Bekanntenkreis nichts schuldig. Sie dürfen selbst entscheiden, was sie über den Suizid kommunizieren möchten, und auch, wen sie auf der Trauerfeier dabei haben wollen. Viele Zugehörige entscheiden sich mittlerweile für einen offenen Umgang. Eine Trauerfeier, bei der die Todesumstände gar nicht angesprochen werden oder gar als tragischer Unfall getarnt sind, ist wesentlich bedrückender als der offene Umgang mit dem Suizid.

Die Angst vor schlechtem Gerede ist nicht unberechtigt, aber die Zeiten ändern sich und Suizid wird zunehmend enttabuisiert. Das klare Benennen eines Suizids - beispielsweise schon in der Trauerkarte - erleichtert es Außenstehenden, angemessen zu reagieren. Auf diese Weise kann leichter gemeinsam getrauert werden.

Vielen Zugehörigen hilft es, die Trauerfeier selbstbestimmt zu gestalten, anstatt sie passiv über sich ergehen zu lassen. Ich rate dazu, nicht den erstbesten Geistlichen oder Trauerredner zu nehmen, sondern die Leitung der Trauerfeier einem Menschen anzuvertrauen, der die richtigen Worte findet und dem Suizid vorurteilsfrei begegnet. Im Vorfeld der Trauerfeier kann gemeinsam überlegt werden, welche Trauerrituale passend sind. Das kann zum Beispiel ein großer Kreis um die Urne oder den Sarg sein, ein gemeinsames Gebet, das Vorlesen von gesammelten Wünschen oder Erinnerungen, gemeinsames Singen oder Musikhören. Eine Trauerfeier darf vielstimmig sein und so den unterschiedlichen Bezügen der oder des Verstorbenen gerecht werden.

Die Anderen

Zugehörige fühlen sich oft nicht nur von dem geliebten Menschen verlassen, sondern auch von Freund_innen und Bekannten, die der Situation hilflos gegenüberstehen. Für viele Außenstehende ist es schwer, die richtigen Worte zu finden. Vielleicht, weil es die richtigen Worte nicht gibt. Trost und Beistand kann auch konkret in ganz praktischer Hilfe angeboten werden:

Regelmäßiges Bekochen, Begleiten zu Terminen, Übernehmen von Büroaufgaben wie Steuererklärung oder Waisenrentenantrag, Hilfe beim Umgestalten der Wohnsituation, gemeinsamer Sport etc. Manche Freund_innen initiieren regelmäßige Treffen am Grab oder anderswo oder begehen gemeinsam bewusste Gedenktage.

Selbsthilfegruppen/ Beratungsangebote/ Trauerbegleitung

In Deutschland gibt es eine Vielzahl von (Selbsthilfe-)Initiativen, die Zugehörigen beratend zur Seite stehen. Stellvertretend sei der Verein AGUS e.V. genannt, der Zugehörige berät und Selbsthilfegruppen vermittelt und unterstützt.

Die Gemeinschaft mit Betroffenen kann sehr heilsam sein. Der Austausch hilft vielen, die Verlassenheit zu überleben. Für die Hürde des ersten Treffens kann auch eine vertraute Begleitperson mitgenommen werden. Viele Zugehörige suchen sich außerdem therapeutische Hilfe oder eine professionelle Trauerbegleitung, denn dies können auch enge Freund_innen nicht leisten.

Nicht wenige Betroffene engagieren sich nach einiger Zeit selbst in der Suizidprävention oder bei Beratungsstellen.

Anmerkung
1 Ich meine hier nicht den assistierten Suizid, der im geschützten Rahmen von Ärzt*innen oder Sterbehilfeorganisationen geschieht und der in der Regel in Absprache mit den Zugehörigen begangen wird und die Vorausplanung der eigenen Bestattung umfasst.

Literatur
Dioda, Carin/ Gomez, Tina: Warum konnten wir dich nicht halten? Wenn ein Mensch, den man liebt, Suizid begangen hat, Stuttgart 2008.
Gill, Peter: Suizid. Wie weiter? Trauern und Abschiednehmen bei Suizid und plotzlichen Todesfallen, Basel 2014.
Jungnikl, Saskia: Papa hat sich erschossen, Frankfurt am Main 2014.
Jungnikl, Saskia: Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden, Frankfurt am Main 2017.
Macho, Thomas: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne, Berlin 2017.
Otzelberger, Manfred: Suizid. Das Trauma der Hinterbliebenen Erfahrungen und Auswege, Berlin 2013.
Paul, Chris: Warum hast du uns das angetan? Ein Begleitbuch für Trauernde nach einem Suizid, Gutersloh 2018.
Paul, Chris: Ich lebe mit meiner Trauer, Gutersloh 2017.
Paul, Chris: Wir leben mit deiner Trauer: Für Angehörige und Freunde, Gutersloh 2017.
Paul, Chris: Schuld - Macht – Sinn. Arbeitsbuch fur die Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess, Gutersloh 2010.
Rinder, Nicole/ Rauch, Florian: Damit aus Trauma Trauer wird. Weiterleben nach dem Suizid eines nahestehenden Menschen, Gütersloh 2016.
Stork, Maira: Seitdem ist alles anders: Wegweiser nach dem Suizid eines Angehörige, 2018.
von Stulpnagel, Freya: Ohne dich. Hilfe fur Tage, an denen die Trauer besonders schmerzt, Kosel 2012.
von Stulpnagel, Freya: Warum nur? Trost und Hilfe fur Suizid-Hinterbliebene, Kösel 2013.
Terhorst, Eva: Ich konnte nichts für dich tun. Trauern und weiterleben nach einem Verlust durch einen Suizid, Freiburg/ Brsg. 2017.

Redaktionelle Anmerkung: Dr. Julian Heigel hat das Bestattungsinstitut "Thanatos" in Berlin gegründet: https://www.thanatos-berlin.de/

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