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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Politische Friedhofskultur: Friedhöfe in Belfast (Teil 1)

1. Einleitung

Betrachtet man den Friedhof als "Spiegelbild der Gesellschaft"1, lassen sich historische, kulturelle, politische, wirtschaftliche und sozialgeschichtliche Phänomene darin wieder finden. West-Belfast war einer der Hauptschauplätze des Nordirlandkonfliktes; hier begannen die Unruhen und sind die meisten Todesopfer zu verzeichnen. Zwei benachbarte Friedhöfe in diesem Gebiet laden zu einem Vergleich ein, weil ihre Entstehung und Lage in der Falls Road2 den Ursprung, den Verlauf und die Komplexität des Konfliktes nachzeichnen und sie ganz unterschiedliche Positionen im Konflikt verdeutlichen: der vorwiegend protestantisch genutzte "Belfaster Stadtfriedhof" spielte in der Gründerzeit eine wichtige Rolle, während der Troubles war er jedoch unerreichbar, da das Gebiet abgeriegelt war. Der katholische "Milltown Friedhof" hingegen birgt nicht nur einen Teil der Toten des Konfliktes, er ist durch blutige Ereignisse, durch Rituale und Symbole, aber auch durch die Aktivitäten der Paramilitärs zu einem "Synonym für den Republikanismus"3 geworden. Der Konflikt beinhaltet mehr als die paramilitärischen Aktionen, die aus den Medien als "Nordirlandkonflikt" bekannt sind. Daher wird kein Vergleich der Friedhöfe angestellt, auf denen die Paramilitärs und Opfer beider Parteien beigesetzt wurden: Auf Seite der Republikaner4 ist dies der "Milltown Friedhof", auf der Seite der Loyalisten5 der "Rose Lawn Friedhof"6 im Osten von Belfast. Dies würde ein eigenes Thema darstellen. Stattdessen soll aufgezeigt werden, wie sich der Konflikt in Nordirland auf die Friedhofskultur ausgewirkt hat, ob es wechselseitigen Einfluss gab und welche Rolle die Friedhofskultur im Friedensprozess spielt. "Politische Grabmale und politische Totenrituale dienten zu allen Zeiten der Festigung von Herrschaftsverhältnissen"7, schreibt Stephan Hadraschek; doch wie vollzieht sich der Bedeutungswandel dieses "Gedächtnisortes", der beim Milltown Friedhof noch "Bezugspunkt einer sozialen politischen Gruppe" ist, die zwar nicht mehr der „Vergangenheits- und Zukunftsinszenierung” bedarf, aber sehr wohl noch der "identitätsstiftenden Erinnerung".8 Da der historische Kontext für die politische Dimension der Friedhofskultur in Belfast grundlegend ist, nimmt dieser Teil vorweg einen größeren Raum ein, bevor im Einzelnen auf die beiden Friedhöfe eingegangen wird. Der zeitliche Rahmen wird von der Gründungszeit der Friedhöfe um 1866 bis heute ausgedehnt und damit ein Bogen vom historischen zum aktuellen Konflikt geschlagen.

Milltown
Eingangsportal des Milltown-Friedhofs in Belfast/Nordirland. Foto: Claudia Schmidt

Da die Geschichte eine extrem wichtige Rolle für die Konfliktparteien spielt, soll der historische Kontext kurz erläutert werden. In Irland existieren seit dem 12. Jahrhundert zwei Gesellschaften und zwei Kulturen parallel nebeneinander, die ein gänzlich eigenes Geschichtsbild besitzen.9 Die Gründung der Stadt Belfast erfolgte 1603 nach dem neunjährigen Krieg infolge der so genannten "Plantations", der Besiedlung durch englische Siedler und schottische Presbyterianer, um weitere Aufstände zu verhindern.10 Die Stadt erlebte in der viktorianischen Zeit einen rasanten ökonomischen Aufschwung durch die Leinen- und Schifffahrtsindustrie. Dass in Belfast um die Jahrhundertwende höhere Löhne als in Irland und im Vereinigten Königreich gezahlt wurden, darf nicht über gravierende Ungleichheiten zwischen Arm und Reich hinweg täuschen: Zwar boten die Werften den protestantischen Facharbeitern hohe Einkommen11, doch die überwiegend katholischen Flachs-Spinnerinnen erhielten die geringsten Löhne in der Textilindustrie des Vereinigten Königreichs.12 Die konfessionelle Teilung der Stadt begann in den 1860ern mit der Ansiedlung der Arbeiter in der Nähe der Leinenindustrie: Die Katholiken bezogen Siedlungen im Westen, die Protestanten im Norden. Die protestantischen Werftarbeiter wohnten im Osten der Stadt, in der Nähe der Werften, und die Reichen im Süden. Dem ökonomischen Boom der 1850er Jahre folgten eine rasante Bevölkerungsexplosion und Immigration, die die Belfaster Bevölkerung innerhalb von 50 Jahren vervierfachte.13 Den großen Bedarf an Arbeitskräften in der Leinenindustrie deckten die Iren aus dem katholischen Süden, die ihre eigene Sprache und Kultur mitbrachten und deren Bevölkerungsanteil innerhalb kurzer Zeit von 6 % auf ein Drittel anstieg, was zu einer Verschiebung der konfessionellen Machtverhältnisse führte. Die protestantische Oberschicht der Industriellen bis hinunter zur protestantischen Arbeiterschicht verfolgten gemeinsame ökonomische Ziele durch die weitere Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich: "In keiner anderen britischen Stadt – Liverpool ausgenommen – funktionierte das Konzept der 'Tory-Demokratie', bestehend aus einer Mischung von Religion, Patriotismus und patriarchalischem Sozialdenken, so brillant wie in Belfast."14 Daher hatte die katholische Bevölkerung weder einen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt noch politischen Einfluss. Das Viertel der Falls Road im Westen Belfasts war einer der Hauptschauplätze des nordirischen Bürgerkriegs. Die Auswirkungen zeigen sich noch in der Gegenwart, denn noch 1996 schreibt Schulze-Marmeling: "West-Belfast zählt zu den sozial depriviertesten Gegenden Westeuropas. In einigen Vierteln beträgt die Arbeitslosigkeit um die 80 %."15 Auch wenn sich viel verbessert hat, war die Wohnanschrift in bestimmten Vierteln und sogar einzelnen Straßen ausschlaggebend für die Arbeitsplatzvergabe.

3.1 Der Konflikt in Nordirland

Der Nordirlandkonflikt hat national-koloniale Wurzeln, die Jahrhunderte zurück reichen. Der irische und vorwiegend katholische Süden wurde als Kolonie durch kulturelle und wirtschaftliche Unterdrückung sowie fehlende Integration im Rückstand gehalten und war Nährboden für militante Rebellen. Als "Nordirlandkonflikt" oder im englischen auch "Troubles" wird die Zeit von 1969 bis 1998 bezeichnet, in der es immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen militanten Gruppen der Katholiken und Protestanten kam.16 Offiziell beendet wurden sie 1998 durch das so genannte "Karfreitagsabkommen". Sowohl "Konflikt" als auch "Troubles" mit "Unruhen" übersetzt sind euphemistisch und werden der politischen Dimension des Konflikts nicht gerecht: "Dieser Begriff soll einen Zustand beschreiben, der zwar von ständiger Unruhe und einem sporadischen Guerillakrieg gekennzeichnet ist, aber nicht das Niveau eines massiven militärischen Schlagabtausches und offenen Bürgerkriegs erreicht."17 Die große Anzahl an 3.528 Toten18 und bis 47.541 Verletzten19 sowie die Bürgerrechtsbewegung seit dem 18. Jahrhundert legen den Begriff Bürgerkrieg nahe. Da jedoch die britische Regierung die Auseinandersetzungen nicht als Bürgerbewegung, sondern als terroristische Gewaltakte ansah, hat sich im Sprachgebrauch der "Konflikt"-Begriff durchgesetzt. Der Begriff "Nordirlandkonflikt" zeigt an, dass nach der Spaltung Irlands von Großbritannien 1921 eine Auseinandersetzung fortbestand, die zwar weiterhin beide Nationen betraf, aber nur noch im Norden ausgetragen wurde bzw. politisch so gesteuert wurde, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen in dieser Region auswirkte.20 Ungeachtet der politisch-rechtlichen Dimension der jeweiligen Begrifflichkeiten, werden im Folgenden "Konflikt", "Bürgerkrieg" oder "Troubles" benutzt. Die deutschsprachige Version von Wikipedia bezeichnet den Nordirlandkonflikt als "Identitäts- und Machtkampf"21. Burleigh führt die Begriffe "Identität, Tradition und Situation" von denen es "überall nur so wimmelt", als die "Lieblingswörter von Terroristen-Politikern" an.22 Dies ist nicht korrekt, da sowohl Republikaner wie Loyalisten diese Begriffe häufig verwenden und sie im Alltagssprachgebrauch von Kindergartenkindern ebenso wie von Politikern präsent sind.

Zur Legitimation eines vermeintlichen "historischen Rechtes" argumentieren sowohl katholische "Ureinwohner" als auch nicht-katholische "Eroberer" mit Ereignissen, die Jahrhunderte zurückliegen und der geografischen Randlage der Insel und ihrer strategischen Bedeutung geschuldet sind. Das diese Argumentationsmuster immer noch wirkmächtig sind, ließ sich auf einer Exkursion nach Nordirland und in Gesprächen selbst beobachten. So antworteten Interviewte selbst mit auf die Gegenwart bezogenen Fragen in folgendem Muster: "Vor 300 [, 600 oder 900] Jahren, da haben die Anderen […] gemacht und darum …"23 Dabei wurden historische Ereignisse unterschiedlich ausgelegt und damit auch instrumentalisiert. Auch im späten 19. Jahrhundert war die irische Geschichte und ihre Auslegung bereits Gegenstand vieler Diskussionen, während kaum reflektiert wurde mit welcher Absicht dies geschah. Hoare zeigt, wie die unterschiedlich ausgelegte Geschichte schon in dieser Zeit an Bedeutung gewann und den Geschichtsunterricht und die Literatur beeinflusste. Damals nutzten Unionisten und Nationalisten für ihre politischen Zwecke die Diskurse von Akademikern und Populärwissenschaftlern, also "historians of repute" und "those who used history to enflame men´s passions".24

Milltown
Grabskulpturen auf dem Milltown-Friedhof in Belfast/Nordirland. Foto: Claudia Schmidt

3.2 Belfast und sein Stadtfriedhof

Die historischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts – Industrialisierung und Migrationsprozesse sowie die damit einhergehende Bevölkerungsexplosion – hatten Auswirkungen auf die vormals konfessionelle Sepulkralkultur. Zur Situation in Großbritannien stellt Litten fest: "Until the foundation of the private cemeteries in the 1820s and 1830s and the town cemeteries of the 1850s, the majority of the populace were buried in the graveyards surrounding the parish church."25 Im Gegensatz zu anderen europäische Ländern gab es in Großbritannien erst ab 1850 ein Gesetz, das die Beisetzungen innerhalb stark bewohnter Gebiete verbot, wobei die Justiz damit nur den rechtlichen Rahmen festschrieb für den bereits bestehenden Trend der Friedhofsverlegungen außerhalb der Städte.26 Die vorhandenen Friedhöfe in Belfast waren massiv überbelegt und zudem entwickelte sich immer stärker ein neues Gesundheits- und Hygienebewusstsein. Zu den Motiven schreibt Rugg: "As will be seen, motivations for opening new sites for burial included fears relating the security of the corpse; a desire for religious independence (von der Anglikanischen Kirche; C.S.); a wish to make financial gain from what was evidently a profitable exercise; a growing civic ethos, particularly in the provinces; and public health concerns."27
Die Sterblichkeitsrate im Armenviertel der Katholiken war aufgrund der schlechten Lebensbedingungen und fehlenden medizinischen Versorgung deutlich höher, so dass der Stadtfriedhof sinnvoller Weise in der Nähe sein musste, um die kommunalen Kassen nicht übermäßig mit Transportkosten zu belasten und die Verbreitungsgefahr der Seuchen zu minimieren. Die große Hungersnot infolge der Kartoffelmissernten von 1846-1851 und der sozialen und politischen Misswirtschaft forderten allein in Nordirland ca. 224.000 Opfer.28 Kartoffeln waren Hauptnahrungsquelle der Armen, während gleichzeitig ein Vielfaches an Getreidemengen nach Großbritannien und in die Kolonien exportiert wurde. Irland wurde nicht als Teil des englischen Wirtschaftssystems sondern als zuliefernde Kolonie genutzt. Der Hafen war nicht nur positiv für den wirtschaftlichen Aufschwung, er brachte auch Seuchen mit sich wie Typhus, die Spanische Grippe, oder die Choleraseuchen von 1832, 1834, 1845-1849, 1853-1854 und 1866, die unzählige Opfer forderten.29 Der erneute Ausbruch erfolgte durch die Passagiere eines Schiffes, das von Liverpool nach New York aufgebrochen war, wegen Fiebererkrankungen aber in Belfast hielt. Selbiges wiederholte sich 1853 mit erneut 2.000 Toten.

Wichtige Faktoren für die Neugründung des Stadtfriedhofs waren – neben der bereits bestehenden Überfüllung der vorhandenen Friedhöfe – die Bevölkerungsexplosion, die sich trotz der Hungersnot und der Seuchen zwischen 1841 und 1871 fast verdoppelte.30 Die Friedhöfe der Stadt, wie Friar‘s Bush, waren gänzlich überbelegt: Die Grabhügel türmten sich bereits über dem normalen Bodenniveau, so dass Beisetzungen direkt unter der Oberfläche erfolgten.31 Erst unter dem daraus resultierenden Druck erfolgte die Planung für den Friedhof und mündete nach Verhandlungen mit dem "Westminster Parlament" 1866 in den "Belfast Burial Ground Act", einem lokalen Gesetzentwurf. 1866 wurde eine Fläche von 101 Acres angekauft, von der 17,5 Acres protestantisch, 15 Acres katholisch und 13,5 Acres staatlich genutzt werden sollten. Eine Erweiterungsfläche von 57 Acres wurde in einen Park umgewandelt. Am 1.8.1869 wurde "The Belfast Cemetery" als "the city‘s first municipal burial ground"32 mit 44 Acres eröffnet. Gleichzeitig durften auf anderen Friedhöfen innerhalb der Stadt keine weiteren Beisetzungen stattfinden. 1874 wurde ein jüdischer Friedhofsteil mit separatem Eingang neben dem "poor ground" angegliedert.

Mit der Gestaltung des Stadtfriedhofs wurde 1867 William Gay of Bradford33 beauftragt, der neben der Topografie nicht eine religiöse Teilung, sondern die Zweiklassengesellschaft berücksichtigen musste, denn: "For rich Victorians death provided another way to display their wealth and personal power; they gave enormous consideration to the location of a grave and size and design of a monument or headstone."34 Die teuren Plätze wurden versteigert, der Rest je nach Lage in sechs Preiskategorien unterteilt. Eine religiöse Separierung sollte durch getrennte Eingänge erfolgen: Der Haupteingang sollte den Protestanten vorbehalten bleiben, der Südeingang, ebenfalls an der Falls Road gelegen, den Katholiken und ein Eingang im hinteren Bereich für die Armen. Der Stadtfriedhof war als kommunaler Friedhof geplant, der konfessionell durch eine unterirdische Mauer geteilt werden sollte, die nach Angaben der Homepage vor der Eröffnung 1869 gebaut wurde.35 Zwar wurde der Religionsstreit über geweihte und ungeweihte Erde damit im wörtlichen Sinne begraben: Mit neun bis 10 Fuß, umgerechnet 2,74 bis 3 Metern, entspricht sie der Tiefe der Gräber.36 Der Kompromiss ließ jedoch grundsätzliche Fragen offen, welche Entscheidungsbefugnis dem katholischen Bischof auf seinem Teil des Friedhofs zugestanden werden sollte.37 Der Streit entbrannte an der Frage, wie auf dem katholischen Teil des Friedhofs mit Exkommunizierten, Selbstmördern oder Totgeborenen, die ungetauft waren, verfahren werden sollte. Die Erde würde durch solche Beisetzungen aus Sicht der katholischen Kirche entweiht. Der Bischof stellte Forderungen: Erstens sollten die für den katholischen Teil zuständigen Friedhofsangestellten dem Bischof direkt unterstehen. Zweitens wollte er einen Teil der kommunalen Gebühren, um einen Geistlichen für die Beisetzungen anstellen zu können. Drittens forderte er eine verbindliche Zusage, dass geweihte Erde nicht wegbefördert werden durfte. Der Streit wurde am 23.6.1869 in Dublin vor Gericht verhandelt. Dass es sich um einen politischen Machtkampf handelte, zeigt sich auch daran, dass der Rechtsanwalt des katholischen Bischofs eine führende Rolle in der Bürgerrechtsbewegung spielte.38 Die Gemeinde zahlte dem Bischof 4.000 Pfund und erwarb damit das Recht, auf dem für Katholiken geplanten Teil Protestanten beerdigen zu können. Der Bau der Mauer wurde, soweit dies aus dem Plan ersichtlich ist, entweder kurz nach Baubeginn gestoppt, oder sie wurde wieder abgetragen und nur ein kleines Stück belassen.

Die räumliche Aufteilung und Gestaltung des Stadtfriedhofs lässt eine konfessionelle Trennung nicht erkennen. Da der Landschaftsarchitekt 1867 mit der Planung beauftragt wurde, ist anzunehmen, dass die gleichseitige Parkanlage eine neutrale politische Entscheidung war, die sich an der bis dahin liberalen Haltung der Oberschicht orientierte. Da sich kaum ein Katholik die teuren Gräber entlang der Mittelachse leisten konnte, war die Achsensymmetrie ohnehin obsolet und die seitlich versetzte Randlage den finanziellen Möglichkeiten der katholischen Bevölkerung entsprechend. Wirtschaftliche und nicht konfessionelle Gründe scheinen die Gestaltung des Parkfriedhofs und die Lage der geplanten Mauer mitbestimmt zu haben, wobei der britische Architekt die kolonialistisch-rassistischen Tendenzen scheinbar ignorierte. In den Jahren 1857, 1864 und 1872 kam es zu schweren sektiererischen Ausschreitungen, die die Trennung von Katholiken und Protestanten weiter verstärkte. Die Diskrepanz zwischen der politischen Planung eines konfessionsübergreifenden Stadtfriedhofs mit dem Kompromiss einer unterirdischen Mauer und die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz, die sich letztlich in konfessionell getrennten Friedhöfen niederschlägt, zeigt, dass sich die starken "ethnisch-religiösen Spannungen"39 in Belfast auf alle Bereiche auswirkten. Nach der Erweiterung des Friedhofs von 1912 auf 101 Acres erfolgte ein Jahr später die Umbenennung vom "Belfast Cemetery" in "Belfast City Cemetery".40

3.3 Milltown Friedhof

Ungefähr 400 Meter südlich vom Stadtfriedhof entfernt, erwarb der Bischof 1868 für 4.200 Pfund eine Fläche von ebenfalls 15 Acres und eröffnete den größten privaten katholischen Friedhof der Stadt, der ab November 1869 genutzt wurde.41 Er wird von den "Trustees of Milltown" verwaltet. Die Anlage ist streng geometrisch und platzsparend angelegt. Während beim Stadtfriedhof vier Jahre von der Planung bis zur Eröffnung vergingen, blieben dem Milltown Friedhof knapp drei Monate vom Streit vor Gericht am 23.6.1869 für den Kauf des Landes bis zur ersten Beisetzung am 15.11.1869.42 Hintergrund für diese Kurzfristigkeit war die Schließung der innerstädtischen Friedhöfe zum 31.7.1869, die für den völlig überfüllten und seit 1829 rein katholischen innerstädtischen Friedhof "Friar‘s Bush"43 eine Ausnahmeregelung bis zum 25.11.1869 zuließ.44 Eine architektonische Planung war aufgrund des Zeitmangels kaum möglich, für die landschaftliche Gestaltung fehlten vor allem die finanziellen Mittel. Auf der 55 Acres (220.000 m2) großen Fläche wurden ca. 200.000 Menschen beerdigt.45 Eine große Zahl der über 85.00046 Armenbestattungen des Milltown Friedhofs sollen auf die spanische Grippe von 1919 zurückzuführen sein.47 Für den Milltown Friedhof liegen keine genauen Daten vor, aber allein auf dem Stadtfriedhof erfolgten in diesem Jahr 1.038 Beisetzungen mehr. Laut Tom Hartley wäre ein Vergleich mit den anderen Friedhöfen sehr interessant, da ebenso wie beim "Genozid"48 der Hungersnot ebenfalls die arme katholische Bevölkerung den Hauptanteil der Opfer ausmachte.

Im Gegensatz zur großzügigen Parkanlage des Stadtfriedhofs mit seinen Grünflächen gibt es hier kaum Pflanzen, sondern einen steinernen Wald aus Keltenkreuzen, Statuen und großfigurigen Kreuzigungsszenen. Durch ein großes Eingangsportal gelangt man auf der Hauptachse hinunter zum politisch relevanten Teil des Friedhofs, der rechts außen am Rand liegt und modern schlicht gehalten ist im Vergleich zur eindrucksvollen Friedhofsarchitektur der vergangenen Jahrhunderte. Auf dem "republican plot" sind die Prominenten der Troubles begraben: die Hungerstreikenden, bedeutende Mitglieder der IRA oder anderer Splittergruppen, sowie die Opfer der gewalttätigen Auseinandersetzungen. Vor allem auf diesen Teil des Friedhofs bezieht sich das Zitat: "The cemetery, located in the heart of West Belfast has become synonymous with Irish republicanism."49 Aber auch drei politisch relevante Ereignisse sind mit der Geschichte des Friedhofs verknüpft: Das Wichtigste war das Staatsbegräbnis von Bobby Sands 1981, zu dem 100.000 Menschen kamen, etwa ein Fünftel der nordirischen katholischen Bevölkerung.50 Sands wurde als IRA-Mitglied zu einem Symbol für den Protest politischer Gefangener gegen die Bedingungen britischer Haft und starb als erster an den Folgen des Hungerstreiks. Er und die weiteren Opfer sind in der Ehren-Urnen-Grabanlage des "republican plot" beigesetzt.

Daneben war der Friedhof selbst auch Schauplatz von zwei blutigen Auseinandersetzungen.51 Ein Attentat ereignete sich am 16.3.1988 bei der Beerdigung von drei IRA-Aktivisten. 52 Diese waren wenige Tage zuvor auf Gibraltar von der britischen Spezialeinheit "Special Air Service" (SAS) erschossen worden, was ein Gericht später als gesetzwidrig verurteilte. Der Attentäter Michael Stone, ein Anhänger des loyalistischen Lagers, schlich sich unter die Trauergäste und schoss mit einer Pistole um sich und warf Handgranaten auf die Friedhofsbesucher, die hinter den Grabsteinen und parkenden Autos Schutz suchten. Dabei starben drei Trauergäste, weitere sechzig wurden verletzt. Auf dem Grabstein ist der Zug "Volunteers" zu lesen, darunter die Namen Mairéad Farrell, Dan Mc Cann und Seán Savage. Auf einer steinernen Vase vor dem Grabstein steht "Executed by S.A.S 6th March 1988 Gibraltar". Die Person mit Lebens- und Sterbedaten tritt hinter der Todesursache und seiner Bedeutung für die Gemeinschaft als Freiwilliger stark in den Hintergrund. Da die Polizei Michael Stone festnahm, entging er dem Lynchen durch die Menge. Ein Schicksal das zwei britische Soldaten, David Robert Howes, 23 Jahre, und Derek Tony Wood, 24 Jahre, nur drei Tage später erlitten, als sie zivil gekleidet in einen Trauerzug des IRA-Volunteers Caoimhín Ó Brádaigh fuhren.53 Die Trauergäste waren noch geschockt und vermuteten einen erneuten Anschlag, so dass sie das Auto attackierten, aus dem einer der Soldaten mit einer Pistole Warnschüsse abgab. Beide Ereignisse wurden von internationalen Journalisten dokumentiert und auf Video festgehalten, so dass sie weltweit Aufsehen erregten.

(Zweiter und letzter Teil mit dem Literaturverzeichnis folgt im nächsten Heft)

Kontakt zur Autorin per E-Mail: [email protected]

1 Sörries, Lexikon Bd. I, "Friedhof": "Friedhöfe waren immer Spiegelbild der örtlichen Sozialstruktur […]." (Hinweis: Das Literaturverzeichnis mit der Auflösung der Kurztitel erscheint mit dem zweiten Teil im nächsten Heft).
2 Hauptstraße durch das Falls-Viertel, http://de.wikipedia.org/wiki/Falls_Road
3 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Milltown_Cemetery.
4 Anhänger der Republik Irland, IRA, katholisch
5 Anhänger Großbritanniens, Loyal zur Krone, protestantisch
6 Hartley, S. 205.
7 Hadraschek, S. 287.
8 Ebd.
9 Maurer, S. 8-9.
10 Schulze-Marmeling, S. 237.
11 Schulze-Marmeling, S. 37 ff.: Die Arbeiterschaft war zu 93% protestantisch und nur zu knapp 7 % katholisch; dieses Ungleichgewicht setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort.
12 Ebd.
13 Schulze-Marmeling, S. 239.
14 Schulze-Marmeling, S. 38.
15 Schulze-Marmeling, S. 257.
16 http://de.wikipedia.org/wiki/Nordirlandkonflikt.
17 Schulze-Marmeling, S. 411.
18 http://cain.ulst.ac.uk/sutton/tables/Status.html.
19 http://en.wikipedia.org/wiki/The_Troubles.
20 Eine Abspaltung des Nordens von Großbritannien hätte Anschläge der paramilitärischen Loyalisten auf der Nachbarinsel hervorgerufen, so dass man die Bekämpfung der IRA in Nordirland vorzog und so das Problem zumindest räumlich eindämmte.
21 http://de.wikipedia.org/wiki/Nordirlandkonflikt.
22 Burleigh, S. 1021.
23 Interviews im Rahmen der Exkursion: "Raum, Kunst und Konflikt in Nordirland" von Dr. Nils Zurawski am Institut für Volkskunde vom 31.5. bis 7.6.2009
24 Gerald Balford, irischer Chefsekretär, 1899, zitiert nach Hoare, S. 206.
25 Litten, S. 120.
26 Rugg, S. 15.
27 Rugg, S. 11 ff.
28 Schulze-Marmeling, S. 32 ff.
29 Hartley, S. 88.
30 Hartley, S. 16.
31 Ebd.
32 http://www.belfastcity.gov.uk/citycemetery/index.asp.
33 Vgl. S. 18 Hartley: Gay war einer der führenden viktorianischen Parkfriedhofsarchitekten
34 Hartley, S. 18.
35 http://www.belfastcity.gov.uk/citycemetery/history.asp.
36 Hartley, S. 41.
37 Hartley, S. 48.
38 Hartley, S. 48-49.
39 Schulze-Marmeling, S. 240.
40 Hartley, S. 23.
41 "Milltown Cemetery is a private burial ground […] and it is owned by the local Catholic Church", http://www.milltowncemetery.com.
42 Hartley, S. 48-49.
43 http://www.belfastcity.gov.uk/cemeteries/friarsbush.asp.
44 Hartley, S. 21.
45 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Milltown_Cemetery.
46 http://www.milltowncemetery.com.
47 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Milltown_Cemetery.
48 Schulze-Marmeling, S. 33.
49 http://en.wikipedia.org/wiki/Milltown_Cemetery
50 Sands war 1977 zu 14 Jahren Haft verurteilt und kämpfte wie viele andere für den Status des politischen Gefangenen. Mit dem "blanket-protest" wurde die Gefangenenuniform verweigert, so dass sie nackt in Decken gehüllt lebten. Als Reaktion auf eine Arbeitsverweigerung wurden sie bis zu 24 Stunden am Tag in ihren Zellen eingesperrt, die dann im "dirt protest" mit Urin und Exkrementen beschmiert wurden. Nachdem 350 Häftlinge in drei Jahren Prostest nichts erreichten, erfolgte der erste Hungerstreik am 24.10.1980, der nach 55 Tagen aufgrund von Verhandlungszugeständnissen abgebrochen wurde. Am 1.3.1981 erfolgte der zweite Hungerstreik, der am 5.5.1981 für Bobby Sands und nach ihm neun weiteren Hungerstreikenden tödlich endete. Während des Hungerstreiks wurde Bobby Sands als Abgeordneter ins Unterhaus gewählt, was seinen Bekanntheitsgrad erhöhte und den propagandistischen Effekt seines Hungerstreiks steigerte. Der Protest wurde von der IRA am 3.10.1981 offiziell beendet, drei Tage später durften die Gefangenen ihre private Kleidung wieder tragen, auch wenn sie nicht als politische Gefangene eingestuft wurden.
51 Um eine einseitige Darstellung zu vermeiden, sei auf ein früheres Attentat hingewiesen: "13 March 1987: Two RUC officers were injured in an IRA bomb attack at Roselawn Cemetery in Belfast." http://en.wikipedia.org/wiki/Chronology_of_Provisional_Irish_Republican….
52 http://en.wikipedia.org/wiki/Michael_Stone_%28loyalist%29
53 http://en.wikipedia.org/wiki/Corporals_killings

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Neues Leben auf dem Friedhof (Februar 2012).
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