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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Ein eiderstedtischer Kirchhof im Wandel der Zeiten, Teil 1

Der folgende Beitrag ist Eingangskapitel einer derzeit noch unveröffentlichten Studie, die den "Umgang mit Tod und Vergänglichkeit" auf der einst landschaftlich verfassten Halbinsel Eiderstedt im Süden des heutigen Kreises Nordfriesland thematisiert.

Ausgangspunkt der diesbezüglichen Recherchen war eine Auswertung des einschlägigen Überlieferungsgutes aus dem Bestand des vergleichsweise umfangreichen historischen Pastoratsarchivs Koldenbüttel, auf das in den Anmerkungen mit der jeweiligen Archiv-Nummer (ArNr.) verwiesen wird. Ohne den Ergebnissen weitergehender Forschung vorzugreifen, scheint der nach wie vor als Begräbnisstätte benutzte Koldenbüttler Kirchhof als exemplarisches Beispiel für Marschenkirchhöfe an der schleswig-holsteinischen Westküste eingestuft werden zu können.

Eiderstedt
Eiderstedt, Kirchhof Koldenbüttel. Foto: J.-A. Janzen

Den ältesten schriftlichen Hinweis auf das Koldenbüttler Bestattungswesen verdanken wir dem Rezess, der im Nachgang zu einer wahrscheinlich im Juli 1594 von dem Staller Caspar Hoyer durchgeführten Visitation aufgesetzt worden war.1 Unterzeichnet wurde dieser Bescheid übrigens von Hoyers Sohn und vergleichsweise unbedeutenden Nachfolger im Stalleramt, Harmen (Hermann), da dessen Vater wenige Monate nach der Visitation gestorben war. In besagtem Rezess ist davon die Rede, dass die "Unevenheit des Karkhaves" zu beheben sei, da das (Regen-) Wasser nicht ablaufen könne. Geschehen sollte dies, indem "alle Culen und unevenen steden schlicht gemakett" werden sollten, wobei mit den "Culen" eingesunkene Gräber und mit den "unevenen steden" Grabhügel gemeint gewesen sein werden.

Da diese Anweisung im Rahmen einer Visitation erfolgt war und sie somit obrigkeitlichen Charakter hatte, können wir davon ausgehen, dass ihr ein größeres Gewicht beizumessen ist als der simple Wortlaut vermuten lässt. Deutlich wird ihre Dimension nämlich, wenn wir sie vor dem Hintergrund der "Reformation und Polizey-Ordnung" würdigen, die als Anhang des 1591 revidierten Eiderstedter Landrechts erlassen worden war. Denn in dieser "Ordnung" werden die Kirchhöfe als "Loca religiosa" eingestuft, weshalb diese "von (...) Verunehrungen entfreyet seyn sollen."2 Eine bisher offenbar üblich gewesene Nutzung des Kirchhofs, die nunmehr als Verunehrung beurteilt wurde, wird ausdrücklich benannt: Es sollten hinfort ... keine Schweine auf dem Gelände laufen! – Um aber "dergleichen" zu verhindern, war der Kirchhof zu "befriedigen": Er war durch eine Einfriedigung vor verunehrender Nutzung zu schützen. Eine Bestimmung, die sinngemäß bereits in der 1542 für die Herzogtümer Schleswig und Holstein erlassenen Kirchen-Ordnung zu finden ist. Denn dort heißt es, "dat de Kerckhaue (...) befredet" werden sollen, "dat dar neue (keine) perde, koeye, Schwyne edder (oder) dergliken koennen vp lopen".3

Kurz: In Verbindung mit der "Reformation und Polizey-Ordnung" von 1591 wird der Rezess zur Visitation von 1594 bezüglich des Kirchhofs als Instrument der Umsetzung der Kirchen-Ordnung auf Kirchspielsebene erkennbar. Hellhörig macht allerdings, dass es dazu rund 50 Jahre nach der offiziellen Einführung der reformatorischen Lehre der Vorgaben des Stallers, des Repräsentanten der Landesherrschaft auf landschaftlicher Ebene, bedurfte. Ist dies als Anzeichen dafür zu werten, dass die Gestaltungskraft der lokalen Organe der Selbstverwaltung nicht ausreichte, um den Erfordernissen der kultur- und geistesgeschichtlichen Wende zu entsprechen?

Da noch nicht untersucht worden zu sein scheint, in welchem Maße reformatorisches Gedankengut seitens der eiderstedtischen Bevölkerungsmehrheit aufgenommen wurde, lässt sich diese Frage vor der Hand nur unter Vorbehalt beantworten. Dass nämlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts das meiste dessen, was in den 1590er Jahren bezüglich des Koldenbüttler Kirchhofs eingeleitet worden war, mutmaßlich infolge der Kriegsnöte, unter denen das Kirchspiel seit l627 mehrfach und unmittelbar litt, wie weggeblasen gewesen zu sein scheint, könnte unter anderem daran gelegen haben, dass die bekanntermaßen "verordnete" Reformation keineswegs einen nachhaltig wirksamen mentalen Umschwung einzuleiten vermochte. Denn nicht minder auffällig ist, dass sich der nicht unbedingt biblisch begründete Volksglaube noch bis in das 20. Jahrhundert hinein in Form mancher "Sitten und Gebräuche" behaupten konnte.

Doch wie dem auch sei: Hinsichtlich der Funktion des Kirchhofs markieren die "Polizey-Ordnung" und besagter Rezess eine, wenn vielleicht auch eine nur halbherzig nachvollzogene Wende. Denn war er seit dem Mittelalter "Schauplatz des Alltagslebens"4 – einschließlich darauf laufender Nutztiere, so sollte er, mit Martin Luther gesprochen, fortan als "feiner stiller Ort" gelten, "darauf man mit andacht gehen und stehen kuendte, den tod, das Juengste gericht und aufferstehung zu betrachten und zu betten."5

Nicht nur, dass durch das reformatorische Schriftverständnis das persönliche Gebet aufgewertet wurde, weil die Vermittlerrolle eines Geistlichen nicht länger erforderlich war,6 es erübrigte sich auch, Bestattungen in größtmöglicher Nähe zu den in der Kirche verwahrten Reliquien vorzunehmen. Letzteres aber trug dazu bei, dass in der Folgezeit "Friedhöfe" angelegt wurden: Eingefriedigte Begräbnisplätze abseits des meist lauten alltäglichen Lebens rings um die Kirche. Das einzige eiderstedtische Beispiel dieser Art bietet Tönning: Dort wurde ein solcher Platz im Jahre l6l6 gegenüber dem l602 erbauten Spital am Neu-Weg außerhalb der heutigen Altstadt eingerichtet.7

Da die Klassifizierung des Kirchhofs als religiöser Ort durch die "Reformation und Polizey-Ordnung" gesetzlich festgeschrieben worden war, ist davon auszugehen, dass sie auch die Gestaltung und Bewirtschaftung der traditionellen Begräbnisplätze auf Eiderstedt beeinflusste. Für Koldenbüttel bieten neben den Vorgaben von 1594 auch die 1653 einsetzenden Verhandlungsniederschriften der Kirchen-Zwölf sowie einige Ausgabeposten der ab 1595/96 vorliegenden kirchlichen Rechnungsbücher entsprechende Anhaltspunkte. Die aufgrund der Quellenlage auffälligste Neuerung war, dass laut Rezess "ein bequeme Wegh bie der groven her gemaket und bestein brügget werden" sollte: ein mit Ziegelsteinen gepflasterten Weg entlang der Gräben, nämlich der den Kirchhof im ausgehenden l6. Jahrhundert noch weitgehend umschließenden Graft, die in mehreren Teilabschnitten noch heute erhalten ist.

Bewerkstelligt sollte dies werden, indem alle Eingesessenen, die über Wagen und Pferde verfügten, mithin die Hofeigner, ein Fuder "brüggesteen" lieferten; die anderen Einwohner werden mutmaßlich zu den erforderlichen Handarbeiten herangezogen worden sein. Die Verpflichtung Eingesessener verdeutlicht im übrigen auch den rechtlichen Status des Kirchhofs: Er war – wie auch alles andere, das die Kirche betraf – eine Sache des Kirchspiels. Die Entwicklung, die vollends nach dem Ersten Weltkrieg dazu führte, dass die Kirchen und die Bürgergemeinde zwei jeweils eigene Körperschaften wurden, setzte erst ein, nachdem die Herzogtümer l867 durch Preußen annektiert worden waren.

Wie lange jener ausschließlich im Rezess zur Visitation von 1594 genannte Steig bestand, ist nicht überliefert. Auf dessen wegen des hohen Aufwands offenbar bedeutungsvolle Funktion sei an dieser Stelle lediglich andeutungsweise eingegangen: Über den Steig wurde einer der drei anlässlich einer Beisetzung prozessionsartig das Kirchengebäude umrundenden Gänge vollzogen. Somit sollte durch den anzulegenden Steig der so gut wie ausschließliche Charakter des Kirchhofs als Begräbnisplatz hervorgehoben werden.

Die aufgrund der "Polizey-Ordnung" zu erstellende "Befriedigung" des Geländes war in Koldenbüttel – wie einst bei den meisten eiderstedtischen Kirchhöfen – durch die nach Auskunft der Jahresrechnungen mehr oder weniger regelmäßig gekielten (gesäuberten) Gräben, die Graften, sowie durch das ebenfalls mehrfach belegte "Kirchen-Stack", die Zäune, gegeben. Zu nennen ist aber auch das mit einem großen Schloss versehene "Heck vor dem Kerckhoff": ein den Zugang versperrendes Gatter, das nach Auskunft der entsprechenden Jahresrechnung 1611 gesetzt wurde.8 Wegen der dem Gremium der Kirchen-Zwölf seit den Vorgaben der 1590er Jahre obliegenden Fürsorgepflicht ist in diesem Zusammenhang auch der am 4. Januar 1638 gefasste Beschluss relevant, nach dem der Kirchhof "umb Petri rein und sauber gemachet werden" sollte.9 Bei dem genannten Datum handelt es sich um den im alten Nordfriesland wichtig gewesenen 22. Februar, der einst mit einem Frühlingsfest begangen wurde, zu dem man sich des während der Winterzeit angesammelten Schmutzes entledigte. Das insbesondere auf den Inseln an diesem Tag veranstaltete Biikebrennen mit dem symbolischen Verbrennen des Winters erinnert noch heute daran.10 – Welche Verunreinigungen im Jahre 1638 beseitigt werden sollten, ist nicht überliefert. Denkbar sind zwar die Hinterlassenschaften von Tieren, die sich trotz getroffener Vorkehrungen auf dem Gelände zu schaffen gemacht hatten. Wahrscheinlicher aber ist, dass Skeletteile gemeint waren, die durch Witterungseinflüsse an die Erdoberfläche getreten waren.

Die in den 1590er Jahren ergangenen Weisungen werden aber auch erste Ansätze einer geordneten Verwaltung gezeitigt haben. Den frühesten diesbezüglichen Beleg bietet das "Grüne Buch", das l620 als Neufassung des bereits seit mehr als einhundert Jahren geführt gewesenen Hovetstol-Verzeichnisses angelegt wurde.11 In diesem Codex werden auch die Obliegenheiten des Küsters benannt: Unter anderem sollte er "de Nahmen der doden so dorch dat gantz Jahre begrawen flitich anteicken." Dieses 1620 erstmals erwähnte Toten-Protokoll, das aber sehr wahrscheinlich bereits vor dem genannten Jahr angelegt worden war, ist nicht überliefert. Es wird infolge der Kriegs- und Krisenzeiten des 17. Jahrhunderts verloren gegangen sein. Nicht anders wird es auch um jenen "abriß" stehen, der aufgrund eines am 8. Februar l633 gefassten Beschlusses vom Kirchhof erstellt werden sollte, damit der damalige Totengräber Henning Bojens, "erlernet", wem die "begreffniße" gehörten.12 Dabei wird es sich aber nicht etwa um eine gezeichnete Karte, sondern um ein mehrseitiges Schriftstück oder gar ein gebundenes Buch gehandelt haben, das – mutmaßlich bereits damals nach "Quartieren" (Grabfeldern) und Reihen geordnet – die Namen der, wie wir heute sagen würden, Nutzungsberechtigten auswies. Wer den Beschluss der Vorsteherschaft damals ausführte, geht aus der fraglichen Quelle zwar nicht hervor, denkbar ist indes, dass sich der Ratmann Peter Sax der Sache annahm, weil er l633 erstmals als Baumeister, als "Geschäftsführer" der kirchlichen Verantwortungsträger amtierte.13

Einerseits sollte der seit alters als Mehrzweckgelände dienende Kirchhof infolge der Reformation als Ort der Andacht gelten, andererseits scheint dies aber kein Hinderungsgrund gewesen zu sein, ihn auch fernerhin zum Beispiel als Gerichtsstätte zu nutzen. Denn obwohl Peter Sax in seinen "Annales" schreibt, dass 1577 "alle Dingstöcke auf dem Kirchhoffe, weggenommen" wurden und „das CaspelRecht außerhalb des Kirchhoffes gehalten“ worden sei,14 lassen sich in den Quellen Angaben finden, die dafür sprechen, dass die ausdrücklich erstmals 1450 erwähnte Tradition14a in besagtem Jahre nicht vollends abbrach: Die Kirchen-Rechnung pro 1609 weist einen Ausgabeposten für "beer" anlässlich des Richtfestes eines (neuen) Dingstocks aus, und aus der Schadensmeldung des Kirchspiels geht hervor, dass die russischen Invasoren den Dingstock 1713 abgebrochen und wahrscheinlich verbrannt hatten. Zwar geht aus den genannten Quellen nicht hervor, wo der jeweilige Dingstock stand, da es aber in einem 1752 im Kirchspiel-Kirchenbuch vorgenommenen Eintrag eindeutig heißt, der Dingstock habe sich auf dem Kirchhof befunden, wird auch die für 1609 und 1715 belegte Baulichkeit dort zu suchen sein. Allerdings wird der 1752 und wahrscheinlich auch bereits der 1715 erwähnte Dingstock nicht mehr eine Anlage für die Rechtspflege, sondern lediglich eine Art Schwarzes Brett für öffentliche Bekanntmachungen gewesen sein.15 Außerdem gibt es Anhaltspunkte dafür, dass auch auf Kirchspielsebene noch nach 1577 rechtliche Fragen geklärt wurden. Einerseits werden im Jahre 1582 anlässlich der Neufassung des kirchlichen Vermögensverzeichnisses zwei "Dingheere" ("Gerichtsherren") namhaft gemacht. Andererseits aber wird im ältesten Koldenbüttler Tauf-Protokoll, im Zusammenhang mit zwei 1660 bzw. l662 vollzogenen Taufen unehelicher Kinder, das zu der Zeit auf Kirchspielsebene offenbar mit privatrechtlichen Angelegenheiten befasste "Mating(s)ding" auf eine Weise erwähnt, die vermuten lässt, dass das "Ding" in unmittelbarer Nähe zum Gotteshaus zusammengetreten war.16 Das Abhalten des "Ding" aber wird nicht als "Verunehrung" des Kirchhofs angesehen worden sein, weil Rechtsprechung einen transzendentalen Bezug hatte.

Offenbar galt ebenfalls nicht als "Verunehrung", auf dem Kirchhof Nutzholz anzubauen. Den diesbezüglich ältesten identifizierten Beleg bietet die Kirchen-Rechnung pro 1647: Damals wurden 24 "Abelenbäume" (schnellwachsende Weißpappeln17) gesetzt. Die Rechnung pro 1729 weist letztmals das Pflanzen dieser Baumart mit 14 Exemplaren aus. Erstmals 1741 heißt es dann, dass Eschen gesetzt worden seien. Bei dieser Baumart ist es dann für einen langen Zeitraum geblieben. So beschloss das Kirchencollegium am 15. Februar 1832, "die alten Eschen auf dem Kirchhof (...) so weit auszuputzen, dass die jungen ungehindert wachsen können." – Aus den im 18. Jahrhundert geführten Begräbnis-Protokollen geht hervor, dass die Bäume am nördlichen und südlichen Rand des Geländes standen.18 Und den Aufzeichnungen des Koldenbüttler Hauptschullehrers Heinrich Paulsen ist zu entnehmen, dass Eschen auch die Westseite der Kirchwarft säumten. Nach demselben Chronisten wurden die „großen Eschen“ im Winter 1909/10 gefällt und verkauft. Dass Bäume auch auf anderen Eiderstedter Kirchhöfen jeweils oberhalb der Graft standen, legt die Witzworter Überlieferung nahe, nach der dort bereits im Jahre 1878 die südlich der Kirche stehenden Eschen weichen mussten.19 In einem 1910 veröffentlichten Beitrag zur eiderstedtischen Heimatkunde heißt es übrigens, dass – neben der Weide – Weißpappel und Esche die typischen Bäume der Marschen seien, weil "sie dem Westwinde zu trotzen vermögen."20 Dass die Bäume gepflanzt wurden, um gefällt zu werden, ergibt sich aus entsprechenden Ausgabeposten vereinzelter Kirchenrechnungen; den ältesten dazu bisher gefundenen Beleg bietet die Rechnung pro 1705. Da die Rechnungen keine Erlöse aus Holzverkäufen enthalten, vermute ich, dass das Holz den Hausarmen des Kirchspiels als Brennmaterial zur Verfügung gestellt wurde. 21 Den einzigen bisher gefundenen Beleg für einen Holzverkauf bieten die Beilagen zur Jahresrechnung pro 1806: Damals wurde ein nördlich der Kirche vom Sturm umgeworfener Baum meistbietend zugunsten der Kirchenkasse versteigert; den Zuschlag erhielt der Bäcker Christian Saß, der 13 Mk 3 ß (Mark/Schilling) geboten hatte.22

Abgesehen von einigen Posten, die das ab l633 geführte Rechnungsbuch enthält, setzt die den Koldenbüttler Kirchhof betreffende Überlieferung erst wieder mit dem Jahre 1690 ein, als der damalige Staller Samuel Rachelius den Vertretern der Kirchencollegien des eiderstedtischen Osterteils befahl, Ordnung in die offenbar seit vielen Jahren vernachlässigte Verwaltung zu bringen. Neben verschiedenen anderen Bereichen galt dies auch dem Kirchhofswesen. Aufgrund der für wenige Jahre diesbezüglich außergewöhnlich günstigen Quellenlage ist das Ansinnen des Stallers nachvollziehbar. Denn insbesondere in diesem Bereich muss damals ein ziemliches Chaos geherrscht haben, weil von dem, was rund einhundert Jahre zuvor in die Wege geleitet worden war, so gut wie nichts geblieben zu sein scheint. Mehrfach offenbar ohne Rücksicht auf Reihen oder die Größe eines Begräbnisplatzes waren Verstorbene beigesetzt worden, wo gerade Platz war. Und von einem "religiösen Ort", der vor "Verunehrungen" geschützt sein sollte, konnte nicht im entferntesten die Rede sein. Anders gesagt: Die verheerenden Sturmfluten, die Kriegsnöte einschließlich mehrerer äußerst gründlicher Plünderungen und mutmaßlich auch die politischen Verwerfungen, die darin ihren vorläufigen Höhepunkt fanden, dass Herzog Christian Albrecht 1676 fluchtartig außer Landes ging, um sich den Zumutungen seines Schwagers, König Christian V. von Dänemark, zu entziehen, scheinen die Menschen auf Eiderstedt in eine tiefe Krise gestürzt zu haben. Wobei die wirtschaftlichen Folgen wahrscheinlich nicht einmal die gravierendsten waren. Wie sonst hatten sich die Angehörigen der Oberschicht jene aufwendige Trauerkultur aneignen können, deren Ausdrucksformen in einem anderen Zusammenhang rekonstruiert werden sollen. Ungleich nachhaltiger scheint jedenfalls die allgemeine ethische Orientierungslosigkeit wirksam gewesen zu sein, die auch vor den traditionell maßgeblichen Kreisen nicht halt machte. Denn jene, denen beispielsweise in Koldenbüttel die Verantwortung für das Wohl und Wehe des Kirchspiels oblag, ließen sich einerseits ein ihren Bedürfnissen entsprechendes "Leichhaus" errichten, unternahmen aber andererseits – soweit die Quellen zu erkennen geben – so gut wie nichts, um die zusammengebrochene Verwaltung zu reformieren. Der einzige Bereich, für den dieses Gesamturteil nicht gilt, ist die Vermögensverwaltung der Armenkasse, die in den 1660er Jahren durch den vormaligen Kirchspielschreiber und nunmehrigen Lehnsmann Peter von der Beeck (II.) auf den neuesten Stand gebracht wurde. Allerdings wird dies nicht ganz uneigennützig geschehen sein. Hatte Herr Peter die wirtschaftlich angespannten Zeiten doch zu seinem Vorteil zu nutzen gewusst und etliche Vermögenswerte an sich gebracht, was eine "amtliche" Protokollierung erforderlich machte. Überhaupt scheinen damals weithin Eigeninteressen den Maßstab gesetzt zu haben, so dass das Bewusstsein, für das Gemeinwohl verantwortlich zu sein, ins Hintertreffen geriet. Eine Mentalität, die sich infolge des Großen Nordischen Krieges (1700–1720/21) sehr deutlich auf die Struktur des Kirchspiels Koldenbüttel auswirken sollte. Eine Mentalität aber auch, die dazu veranlasst, den gelegentlich verklärenden Rückblick auf den Stellenwert der für das alte Eiderstedt typischen Selbstverwaltung kritisch zu hinterfragen.

(Teil 2 folgt in der nächsten Ausgabe)

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1 Der Rezess zur Visitation von 1594 in: ArNr. 14/1a (1694 von dem Koldenbüttler Rector Zacharias Engelmann erstellte Abschrift).

2 Das Eiderstedter Landrecht von 1591 einschließlich „Die Reformation und Polizey-Ordnung“ in: Corpus Statuorum Slesvicensum, Bd. l, Schleswig 1794, hier: Polizey-Ordnung, Art. VII,£ 2.

3 Walter Göbell (Hrsg.), Die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung von 1542, Neumünster 1986, S. 184 f.

4 Norbert Fischer, Geschichte des Todes in der Neuzeit, Erfurt 2001 (im folgenden: Geschichte des Todes), S. 11.

5 Zitiert nach Heiko K. L Schulze, „... darauf man mit Andacht gehen kann“. Historische Friedhöfe in Schleswig-Holstein, Heide 1999 (im folgenden: Historische Friedhöfe), S. 25 f.

6 Das damit angesprochene „Priestertum aller Gläubigen“ (Martin Luther) fand z.B. darin seinen Niederschlag, dass die kleine Bibliothek des vermutlich 1657 verstorbenen Hofeigners Hans Eckleff (d.Ä.) überwiegend Bücher religiösen Inhalts enthielt; siehe dazu das von Jan Dau, Ein Stück Koldenbüttler Geschichte, Bd. 3, Koldenbüttel 2009, S. 185 ff, wiedergegebene „Inventarium“ des „Sehl. Hans Eckleffen“.

7 Zum Ganzen siehe Schulze, Historische Friedhöfe, S. 28. Zu Tönning außerdem: Ernst Sauermann (Hrsg.), bearbeitet von Gustav Oberdieck, Ludwig Rohling, Joachim Seeger, Helmut Perseke, Die Kunstdenkmäler des Kreises Eiderstedt, Berlin 1939 (im folgenden: Kunstdenkmäler Eiderstedt), S. 199.

8 Die ältesten Rechnungsbücher: 1595/96-1632 (ArNr. 485) und 1633-1758 (ArNr. 246). Beilagen zu Rechnungen stehen (unvollständig) seit 1712 zur Verfügung.

9 Protocoll des Kirchencollegiums (Originaltitel nicht lesbar; 1633-1828 mit mehreren Lücken; ArNr. 339; im folgenden: PKC), S. 12.

10 Siehe Otto Mensing, Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch, Bd. III, Neumünster 1931, Sp. 1000 f, sowie Jürgen Rust, Aberglaube und Hexenwahn in Schleswig-Holstein, Garding 1983, S. 40 f. – In der röm.-kathol. Tradition gilt der 22. Februar als der Tag, an dem der Apostel Petrus sein (legendäres) Amt als Bischof von Rom antrat.

11 Das „Grüne Buch“, so benannt wegen seines dunkelgrün eingefärbten Pergamenteinbandes, ist die seit 1620 geführte Neufassung des 1509 angelegten ältesterhaltenen Koldenbüttler „Kirchen-Registers“. Ab 1645 diente es u.a. als Trau-Protokoll und wird deshalb im Bestand der Eiderstedter Amtshandlungsprotokolle (mit der Nr. 134) geführt. Zum folgenden siehe Grünes Buch, S. 23.

12 PKC, S. l.

13 Siehe die von Pastor Andreas Bendixen erstellte Liste der Koldenbüttler (Kirch-) Baumeister, die sich im ab 1633 geführten Rechnungsbuch befindet. Die von Holger Piening (Peter Sax und Friedrichstadt, in: Nordfriesisches Jahrbuch, Bd. 28, 1992, S. 121-150, hier: S. 124) gemachte Angabe, Peter Sax sei 1633, 1648 und 1657 für jeweils drei Jahre zum Baumeister gewählt worden, geht auf den Heimatforscher Emil Bruhn zurück und wird durch die Quellen widerlegt.

14 Peter Sax, Annales Eyderstadiensium (...), Werke zur Geschichte Nordfrieslands und Dithmarschens, Bd. 2, St. Peter-Ording 1985, S. 96.

14a Im 1450 erfolgten Zusatz zur „Krone der rechten Wahrheit“ wird ausdrücklich der „kerkhaue“ als Gerichtsstätte genannt; siehe Karl Freiherr von Richthofen, Friesische Rechtsquellen, Berlin 1840, S. 575. Die von Albert A. Panten (Unbekannte Rechtsquellen des 15. und 16. Jahrhunderts aus Nordfriesland, Langenhorn 1976, S. 46 ff und 61 ff) veröffentlichten Texte lassen indes den Schluss zu, dass das „Ding“ bereits vor 1450 auf einem Kirchhof abgehalten wurde.

15 Die Schadensmeldungen zur russischen Invasion in: ArNr. 525 A und 524/2. Der Beleg für 1752 in: Des Kirchspiels Coldenbüttell Kirchenbuch (ArNr. 340), unpaginiertes Vorblatt.

16 Der Beleg für 1582: Hovetstol-Verzeichnis ( ArNr. 575), S. 91 und die Belege für 1660 und 1662 im Anhang des ältesten, 1630 bis 1685 geführten Koldenbüttler Taufprotokolls. Zum lokalen Gerichtswesen in der fraglichen Zeit siehe Isabella Löw, Die Eiderstedter Landrechte von 1426 bis 1591. Rechtsgeschichte, Rechtswandel und Rechtsverwandtschaften (Studien und Materialien Nr. 32 veröffentlicht im Nordfriisk Instituut), Bredstedt 2003, S. 77-81 und 130 ff.

17 Mensing, Wörterbuch (siehe Anm. 10), Bd. I, Neumünster 1927, Sp. 12 („Abeel“).

18 Die fraglichen Protokolle sind das bis 1728 angelegte „Erdbuch von dem Coldenbütteler Kirchhof“ (ArNr. 55l) und dessen „Copia“ (ArNr. 554), die zum Teil über das Original hinausgeht.

19 Hans Knutz, Chronik von Witzwort, Husum o.J., (1983), S. 106.

20 Zu den Baumarten siehe E. Wegner, Das Bild der Marschlandschaft, in: Eiderstedt. Beiträge zur Heimatkunde. Geschrieben von Lehrern des Kreises, Garding 1910, S. 31-48, hier: S. 58. Nach Heinrich Paulsen („Von der Kirche und dem Kirchhof in Koldenbüttel“, Aufzeichnungen vmtl. aus den 1950er Jahren; Kopie beim Verfasser) wurden als Ersatz für die Eschen „Buschulmen“ gepflanzt. Heute säumen zu unbekannter Zeit gepflanzte Kastanien zu Osten und Linden zu Südosten den Koldenbüttler Friedhof.

21 Die Versorgung der Armen mit Torf ist seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts belegt; siehe Johann-Albrecht Janzen, Am Anfang war ... Von der einstigen Armenfürsorge im Kirchspiel Koldenbüttel, Sonderheft 1 der Schriftenreihe „Domaals un hüüt“ des Vereins Kombüttler Dörpsgeschichte, 2008 , S. 49 f.

22 Das Licititions-Protocoll in: ArNr. 375. Die Versteigerung fand am 17. März 1806 statt; der Betrag dürfte der Kaufkraft von etwa 150 Euro entsprechen. Saß bewohnte das „Bäckerhaus“ Grundstück Dorfstr. 42. Ihm wurde der Herbst-Zahlungstermin (12. November) eingeräumt. Er hatte den Betrag mit 6 1/4 % zu verzinsen. (Ein weiterer jährlicher Termin im Geschäftsverkehr war der 12. Mai. Bis im Jahre 1700 der Gregorianische Kalender auch in protestantischen Territorien eingeführt wurde, fielen die Termine auf den 1. Mai [Maitag] bzw. 1. November [Allerheiligen]).

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