Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Der Alte Friedhof zu Schwerin

Meine erste Erinnerung an den Alten Friedhof in Schwerin ist nicht positiv. Ich mag sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Der Tag war grau und kalt, es nieselte. Krähen hockten fett auf den großen Kastanien. Ein schlimmes Wetter wie am Totensonntag. Es war Totensonntag!

Ein Wetter wie an allen Totensonntagen, eben Novemberwetter im Norden Deutschlands, damals der DDR. An der Hand meiner Großmutter ging es zu unserer Familiengrabstätte, auf der mein Großvater, meine andere Großmutter und weitere Ahnen der Familie ruhten. Für mich war dieser Gang zum Grab kilometerweit und stundenlang, obwohl sich unsere Grabstätte in der Nähe des Krematoriums, also fast am Eingang des großen Friedhofs, befindet. Meine Großmutter schien sämtliche alte Damen Schwerins zu kennen, die hier ihre Männer für den Winter mit Tannengrün versorgten. Immer wieder blieb sie stehen, grüßte und wechselte einige Worte mit den Damen (natürlich auf Platt), während ich vor Kälte zitternd daneben aushalten musste. So manche lederhandschuhgeschützte Hand strich über meinen Scheitel und stellte fest (natürlich auch auf Platt), dass ich schon wieder gewachsen sei und noch immer viel zu dünn wirke. Meine Stimmung war grauenvoll, die Bläser vor dem Eingang des Krematoriums, im feinsten Bauhaus errichtet (was mir damals natürlich völlig egal war), werden diese noch verstärkt haben. Genug – ich brachte diese Tage hinter mich. Mein kleiner Bruder lernte laufen und war nun der Lieblingsenkel der Großmutter. Ich brauchte nicht mehr mit und lernte den Friedhof auf andere Art kennen.

Der Alte Friedhof ist als Landschaftsfriedhof von Theodor Klett ab 1862 angelegt worden. Zuvor hatte es Diskussionen um den Standort eines neuen Friedhofs gegeben; Schwerin, seit einigen Jahrzehnten wieder Residenzstadt, war aus den recht engen Nähten geplatzt und beherbergte an die 25 000 Seelen, was für eine Residenzstadt, jedenfalls für eine mecklenburgische, schon recht gewaltig war. G.A. Demmler, der Architekt vieler Schweriner Bauten, hatte diesen Platz vor dem Feldtor, zwischen altem Galgenberg und Ostdorfer See angeregt, eben auf "(…)eine Anhöhe, damit die schnelle Verteilung und Verflüchtigung der Leichendünste garantiert werden kann" und weiter sei: "ein hügeliges, von Osten nach Westen ansteigendes Friedhofsgelände zu wählen, da man in einem bewegten Gelände eine viel natürlichere, parkähnliche Umgebung schaffen könnte", wie es in seiner Anregung hieß. Demmler überzeugte den Bürgerausschuss, der wiederum den Magistrat, alle gemeinsam den Großherzog, denn der hatte in Schwerin das eigentliche Sagen, die wenigen Spökenkieker, die nicht am Fuß des Galgenbergs begraben werden wollten, konnten überstimmt werden – und so wurde Theodor Klett, seines Amtes Gartendirektor und verantwortlich für die großherzoglichen Gärten und Parks, mit genügend Geld ausgestattet und nach Frankreich zum Studium der dortigen Landschaftsfriedhöfe geschickt.

Und die Investition hat sich gelohnt! Wir Kinder stellten dies immer wieder unbewusst fest, wenn wir beim Kastaniensammeln oder beim Anlegen unseres Herbariums stundenlang über das verschlungene Wegenetz zwischen den Grabfeldern streunten. Die Wege zwischen den Kapellen unter den alten Bäumen, zwischen den mit Efeu überwachsenen Grabstellen und Denksteinen hatten so gar nichts von Trauer für uns, das war Abenteuer, eine Naturlandschaft inmitten der Stadt, die wir eroberten. Auch wenn die Wege unsere Indianerpfade waren, sahen wir diesen Ort als Friedhof, auf dem man sich nicht pietätlos bewegte. Das war auch uns Jungen bewusst. Ich gestehe: Natürlich war auch eine große Portion Schauer dabei, wenn wir durch das Schlüsselloch der Masiuskapelle schauten und die aufgereihten eichenen Särge der Familie bestaunten. Bei Demmlers Kapelle war das Gruseln nicht so groß, denn sein Sarg und der seiner Frau waren hinter Glas zu sehen. Damals hausten noch keine Vandalen auf dem Friedhof und zertrümmerten die Glasscheiben. Später wurden die Särge zum Schutz in die Gruft versenkt. Demmler, zu Lebzeiten Freimaurer, hat deren Symbole auf seiner Gruft verewigt. Wohl einmalig für einen Freimaurer, seine Kollegen werden nicht gerade erfreut gewesen sein. Die Demmlerkapelle ist seit 2005 wieder restauriert – Dank öffentlicher und privater Mittel. Man sollte sie sich ansehen, wenn man auf dem Friedhof ist.

Demmler-Kapelle
Die Demmler-Kapelle
Foto: L. Dettmann

Zurück zu Theodor Klett: Er setzte die Ideen eines Landschaftsfriedhofes konsequent um. Man wird nicht einen geradlinigen Weg auf diesem Terrain finden! Wie gezeichnete Höhenlinien passen sie sich an die natürlichen Geländeformen an. Baumgruppen lockern die Grabfelder auf. Ursprünglich waren nur heimische Gehölze und Sträucher gepflanzt worden. Die Hauptwege sind als Alleen angelegt. Sichten gaben in den ersten Jahrzehnten Blicke in die damals noch unbebaute Gegend frei. Der Mensch sollte trauern und trotzdem ein heiteres Bild der Natur erleben, das ihm bei der Trauerbewältigung helfen sollte. Dieses Ziel Kletts kann man auch heute noch nachvollziehen. Am 28. Juli 1863 wurde der Friedhof geweiht und ist somit der älteste Landschaftsfriedhof Norddeutschlands – die Ohlsdorfer mögen Theodor Klett vergeben. Im selben Jahr wurde mit dem Bau der Trauerkapelle von Theodor Krüger, der auch die Schweriner Paulskirche baute, begonnen. Sie steht auf dem höchsten Punkt des Geländes. Nach dem Bau des Krematoriums wurde sie viele Jahre zweckentfremdet als Lagerraum verwendet. Inzwischen ist die Kapelle teilrestauriert. In ihrer unmittelbaren Nähe haben viele Schweriner Pastoren ihre letzte Ruhe gefunden.

In den Jahren 1881,1883,1897 und 1916 wurde der Friedhof nach Süden und Westen erweitert. In diesem Zeitraum entstanden auch die imposantesten Grabanlagen und Kapellen. Der Alte Friedhof ist ein Spiegelbild der großherzoglichen Residenz. Wenn mein Bruder und ich mit unseren Eltern den obligatorischen Sonntagnachmittagspaziergang (in den Sechzigern hockte man noch nicht vor dem Computer…) über den Friedhof machten, erforschten wir die Grabreihen nach unbekannten Titeln und Berufsbezeichnungen, die in Stein gemeißelt, den heutigen Schwerinern Rätsel aufgeben: Hofschauspieler, Hofrat, Hofbäckermeister, Hofposaunist. Ob es den "Schrankenwärter in Ruhestand" wirklich gab oder ob wir ihn uns ausgedacht haben, kann ich nicht mehr sagen. Demmlers Vorschlag, die Schweriner Dahingegangenen nicht nach Herkunft, sondern Abkunft ohne Standesunterschiede zu beerdigen, war abgelehnt worden. So findet man auch auf dem Alten Friedhof "das Schlossgartenviertel" und die "Vorstadt". Ein Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie muss nun einmal seine standesgemäße Umgebung durch Militäradel haben. Natürlich sahen wir auf unseren Streifzügen die Eisernen Kreuze auf den Gräbern. "Gefallen vor Ypern", "starb den Heldentod vor Orel". Wie viel menschliches Leid und Trauer, auch oft falsches Pathos sich hinter diesen wenigen Worten versteckten, begriffen wir erst später.

Nicht nur der Hof, auch das Militär, die Kunst, die Kultur, die Wissenschaft gehörten zum Leben der Residenz-, Haupt-, Gau-, Bezirks- und jetzt wieder Landeshauptstadt. Friedrich von Kücken, Hofkompositeur und großzügiger Stifter der Stadt, Karl Hennemann, Maler und Graphiker, Hans Franck und Adam Scharrer, der eine bürgerlicher, der andere proletarischer Schriftsteller, Hermann Willebrand, Ernst Lübbert, Maler, G.C.F. Lisch, Altvater der Archäologie – die Liste ließe sich fast endlos erweitern. Ein who is who der Stadt- und Landesgeschichte. Der Alte Friedhof – das kulturelle Gedächtnis der Stadt Schwerin.

Der Backsteinbau des Krematoriums und der Feierhalle, am Ende der Zwanziger Jahre von Andreas Hamann geplant, war wegen seiner Geradlinigkeit und Schlichtheit eines unserer beliebtesten Motive, wenn wir mit Zeichenblock und Farben während des Zeichenunterrichts auf dem Friedhof unterwegs waren. Er ist eines der wenigen Gebäude des Bauhausstils in Schwerin. Der Anbau, kurz nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, beeinträchtigt leider in seinem Stilbruch den sachlich schönen Zweckbau.

Ehrenmal
Ehrenmal am Grimke See
Foto: L. Dettmann

Beeindruckend für mich immer wieder der trauernde Soldat auf der Kriegsgräberstätte unweit des Grimke Sees, im tieferen, fast abgelegenen Teil des Friedhofs. Obwohl, 1937, also während des Dritten Reiches, geschaffen, drückt dieses Denkmal von Wilhelm Wandschneider in seiner Schlichtheit und ohne Pathos die Trauer und Sprachlosigkeit angesichts des sinnlosen Todes aus. Da bedarf es keiner Inschrift! Zum Glück hat dieses Denkmal die Bilderstürme des vergangenen Jahrhunderts unbeschadet überstanden. Doch nicht nur der Ort am Grimke See schützt die Gebeine von Kriegsopfern. Auch auf anderen Teilen des Friedhofs ruhen Kriegsopfer: Zivilisten, die in der Stadt während des Trecks umkamen, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene. Insgesamt sind über 4000 Kriegstote bestattet. Und auf dem Ort des Friedens fielen im April 1945 Bomben! Der angrenzende Stadtteil mit seinem Straßenbahndepot war Ziel eines amerikanischen Angriffs. Die Einschläge der Splitter sieht man noch heute auf einigen Grabkreuzen.

Ab 1969 sollte der Alte Friedhof peu a peu in eine Parklandschaft umgewandelt werden. Einzelne Gräber waren unter Schutz gestellt worden. Neuanlagen wurden nicht mehr zugelassen, lediglich Familiengrabstätten wurden noch belegt. Im Laufe der Jahre verfielen etliche Grabstellen, die Anlagen wurden nicht mehr ausreichend gepflegt. Auch als Jugendlicher zog es mich auf den Friedhof, nicht nur der Familiengrabstätte wegen, auf der auch nun meine Großmutter lag. Die verwunschenen Wege mit ihren Bänken, die versteckten Ecken luden zum Bummel mit den Freundinnen ein. Die ersten Zigaretten wurden hier ungestört konsumiert. Später dann, ich war verheiratet und lebte noch immer in der Müllerstraße, nun in der eigenen kleinen Wohnung, lernte mein Sohn hier seine ersten Schritte und sammelte mit seiner jüngeren Schwester Kastanien – der Kreis hat sich geschlossen.

Seit 1997 werden auf dem Friedhof wieder neue Nutzungsrechte für Gräber vergeben. Der Friedhof ist als Gartendenkmal unter Schutz gestellt worden, 870 Einzeldenkmäler sind erfasst. Doch viele Gräber sind gefährdet. Auch heute zieht es mich auf den Alten Friedhof, mit meiner Frau oder auch alleine, um Atem zu holen, auch um an die Gegangenen aus der Familie zu denken. Der Weg zu unserer Familiengrabstätte, das kurze Verweilen, dabei die Ruhe wieder zu finden – Minuten, die nur mir gehören. Nirgendwo in Schwerin kann man den Gang der Jahreszeiten so gut wie hier erleben. Das frische Weiß der wilden Anemonen zwischen den Bäumen am Grimke See, das saftige Grün der weiten Rasenfläche vor der Backsteinfeierhalle, im Herbst das Feuer des wilden Weins in der späten Sonne an der Wand der Wrisbergkapelle und im Novembergrau das Tropfen der Nässe von den kahlen Ästen der alten Kastanien. Der Friedhof ist ein Ort der Vergängnis, aber auch ein Ort des Lebens. Eichhörnchen und Kaninchen tummeln sich, Amseln, Spechte.

Mitglieder
Die Gründungsmitglieder des Förderkreises Alter Friedhof Schwerin
Foto: L. Dettmann

Der Alte Friedhof ist ein Ort des Gedächtnisses, auch darum muss er erhalten werden, darum habe ich mit anderen Enthusiasten den Förderverein Alter Friedhof Schwerin gegründet.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Porträts auf Grabmälern (Mai 2010).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).