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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Maritime Memorials des 20. Jahrhunderts an der Nordseeküste

Im frühen 20. Jahrhundert hatte der Seebädertourismus fast die gesamte Nordseeküste erreicht, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zum Massentourismus.

Die Badeorte waren längst erschlossen und mit Bahn und Schiff, schließlich auch per PKW und Flugzeug gut erreichbar. Die Nordseeküste war – abgesehen von den Halligen – kaum noch eine Welt für sich. Statt der Sorge um den Respekt des bürgerlichen Publikums spielte künftig die Furcht vor dem Verlust der eigenen Identität eine immer größere Rolle.

Gesellschaftlich-politisch hatten die Küstenregionen nämlich – vor allem unter preußischem Einfluss – schrittweise die Reste teils jahrhundertealter Selbstverwaltung verloren. Dies gilt für die Marschenländer an der Küste ebenso wie für die Inseln. Lokale Institutionen waren durch den "modernen" bürokratisierten Staat ersetzt worden. Statt die eigene "Zivilisiertheit" zu demonstrieren, schien es nunmehr angesichts der stetig wachsenden staatlichen Eingriffe, nicht zuletzt auch angesichts stetig wachsender Touristenströme nötig, die eigenen Besonderheiten zu betonen und die Binnenidentität zu stärken. Unter solchen Umständen kann es kaum verwundern, wenn in einer kulturell-kompensatorischen Gegenbewegung vor Ort die Eigenheiten maritimer Kultur und Gesellschaft – mit anderen Worten: die eigene regionale Identität – immer stärker betont wurden.

Dabei wurde nun nicht zuletzt mit Erinnerungsmälern der eigenen Toten gedacht: nämlich jenen "Auf See Gebliebenen", die in Ausübung ihres Berufes als Fischer, Fähr- und Seeleute oder als Bootsinsassen ums Leben kamen. Indem nunmehr der Tod der eigenen Leute in den Mittelpunkt gerückt wurde, dienten diese Memorials der identitätsstiftenden Selbstvergewisserung vor Ort. In der Regel handelte es sich entweder um Gedenkstätten und Memorials, die einem bestimmten, einzelnen Unglück oder um solche, die allgemein den "Auf See Gebliebenen" des jeweiligen Küstenortes gewidmet waren.

Blicken wir zunächst auf die erstere Gruppe: Das zeitlich früheste Beispiel der einem besonderen Ereignis zugedachten Memorials stammt von der Insel Borkum. Es resultierte aus dem Untergang des Borkumer Schiffes "Annamarie" im Jahr 1931, der bis heute als tragischster Unglücksfall in der lokalen Geschichte betrachtet wird. Das Borkumer Inselarchiv hält vielfältiges Material bereit, das diese Katastrophe wie auch die Geschichte des damit verbundenen Totengedenkens dokumentiert.1

Das Unglück selbst geschah in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1931 vor Memmert. Der Untergang der "Annamarie" forderte den Tod von 15 männlichen Inselbewohnern – Mitgliedern des lokalen Turnvereins, die am Vorabend ein Fest auf der benachbarten Insel Juist besucht hatten und auf der Rückfahrt in einem Sturm verunglückten. Nur drei Bootsinsassen überlebten. Zwei Jahre nach dem Unglück, im September 1933, wurde auf den nordwestlichen Dünen von Memmert, in deren Nähe sich der Schiffbruch ereignet hatte, ein hölzernes Erinnerungskreuz errichtet. Verankert durch einige Findlinge und weithin sichtbar, trug es die Inschrift "Denke an den Tod! Annamarie Unglück 22.9.1931" und gewann in der Folge als "Kreuz von Memmert" legendäre Bedeutung.

Hingegen wurde das heutige, im Inselort am Alten Leuchtturm aufgestellte Memorial erst wesentlich später am 21. September 1958 eingeweiht – gestiftet von dem örtlichen Junggesellenverein "Borkumer Jungens". Zwischenzeitlich war eine Nachbildung des inzwischen verrotteten Memmert-Kreuzes, allerdings ohne Schriftzug, am selben Schauplatz aufgestellt worden. Die Einweihung des Memorials am Jahrestag des Unglücks wurde mit einer öffentlichen Gedenkfeier verbunden, über die in der lokalen Presse unter der Überschrift "Sie sind nicht vergessen!" ausführlich berichtet wurde: "Jeder wiederkehrende 21. September wird für unsere Insel ein Tag des Gedenkens für die […] Opfer sein, die die See im Jahre 1931 mit der 'Annamarie' forderte," hieß es wörtlich. Der gemeinsame Gedenkgottesdienst, an dem die drei Überlebenden, die Angehörigen der Ertrunkenen sowie zahlreiche Gäste teilnahmen, fand vor der Einweihung des Memorials im nahegelegenen Gotteshaus der Reformierten Kirche statt.

Kommen wir zu einem weiteren Beispiel. Es ist deswegen besonders aufschlussreich, weil es geprägt ist von der ideologischen Überhöhung des "Opfer-Todes" durch die Nationalsozialisten. Gemeint ist das im Eingangsbereich des Cuxhavener Friedhofes Brockeswalde – der seinerseits erst wenige Jahre zuvor eröffnet worden war – errichtete "Seefahrer-Ehrenmal". Dieses Monument wurde am Sonntag, dem 5. November 1939, eingeweiht, also rund zwei Monate nach dem deutschen Angriff auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Das Werk – übrigens damals das einzige seiner Art in Deutschland – stammt von dem Hamburger Bildhauer Guido Maschke und wurde aus Muschelkalk gefertigt. Dieses wandförmige Monument verzeichnet akribisch sämtliche Unglücksfälle Cuxhavener Boote mit den Namen der verstorbenen Besatzungsmitglieder. Seine Errichtung wurde vom Pathos nationalsozialistischer "Opfer"-Ideologie getragen. In der nationalsozialistischen Propaganda wurden privater Schmerz und Trauer politisch instrumentalisiert. Die unterstellte Verbindung mit dem Dienst am "nationalsozialistischen Vaterland" brachte ideologisch aufgeladene Trauerliturgien hervor. Dabei konnte der von den Nationalsozialisten stilisierte Opfertod fürs Vaterland auf Mythen bauen, die im Gefallenenkult nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen worden waren.

Die eigentlichen Anlässe für das Monument lagen bereits etwas länger in der Vergangenheit zurück: der Untergang des bemannten Feuerschiffes "Elbe 1" am 27. Oktober 1936 und des Fischdampfers "Uhlenhorst" einige Monate später. Nach diesen Unglücksfällen fasste die Cuxhavener Stadtverwaltung den Plan, ein Ehrenmal einzurichten, das die Namen aller Opfer von Cuxhavener Schiffen verzeichnen sollte. Dieser Plan wurde von einer lokalen Reederei sowie von der Cuxhavener Lotsenschaft unterstützt. Bezeichnend für die oktroyierte NS-Ideologie ist, dass das Ehrenmal ausdrücklich nur den seit 1933 ums Leben gekommenen Cuxhavener Seeleuten gewidmet war – diese werden jeweils namentlich verzeichnet.

Das "Cuxhavener Tageblatt" berichtete am Vortag über das Monument: "Der morgige Gedenktag wird in allen, die sich mit der Wasserkante, der Nordsee und den Seeleuten verbunden fühlen, die schmerzliche Erinnerung wachrufen an tragische Unfälle, die insgesamt 54 Menschen das Leben raubten. Niemand hat jene schreckliche Orkannacht vergessen, in der uns Gewißheit wurde, daß das Feuerschiff 'Elbe 1' gekentert war und mit seiner tapferen Besatzung verloren war. Mit Erschütterung denken wir noch heute an die Trauerfeier für die Männer des Fischdampfers 'Uhlenhorst', die im Dienste der Ernährungssicherung des deutschen Volkes auf dem Felde der Arbeit blieben. […] In diesen Toten, deren Erinnerung Cuxhaven morgen feiern wird, verkörpert sich ein Begriff, der gerade im Nationalsozialismus seine schönste Verwirklichung gefunden hat: Jene einsatzbereite Lebenshaltung, die selbst nicht vor dem Opfer des eigenen Lebens zurückschreckt, wenn es die Aufgabe erfordert, wenn es für das Gelingen des großen Ganzen wichtig ist. Sie alle – einerlei ob es sich um die Männer an Bord der Fischdampfer, der Kutter, der Feuerschiffe oder um unsere Lotsen handelt – haben mit ihrem Tode besiegelt, was uns allen heiligstes Gesetz sein soll: Uns noch mehr einsetzen, alle Opfer zu bringen, die das Vaterland in der schweren Stunde der Entscheidung von uns fordert. So leuchtet das Beispiel der toten Seeleute weit über ihre Todesstunde hinaus in eine Zeit, die sich dieser Männer stets erinnern wird." (Cuxhavener Tageblatt 4.11.1939). Hier wird überdeutlich, wie der maritime Tod von den Nationalsozialisten – in der Tradition des Gefallenengedenkens nach dem Ersten Weltkrieg – pathetisch verklärt und zum Opfertod überhöht wurde.

Noch deutlicher wird diese Instrumentalisierung, wenn wir uns den Bericht über die Einweihungsfeier ansehen. Unter der Überschrift "Das Ehrenmal unserer Seeleute eingeweiht" berichtete das Cuxhavener Tageblatt am 6. November 1939: "Das Ehrenmal für die seit dem Jahre 1933 als Opfer ihres Berufes auf See gebliebenen Cuxhavener Seeleute. Im Rahmen einer eindrucksvollen Feierstunde, die Sonntag vormittag um 11 Uhr Angehörige, Vertreter der Partei und ihrer Gliederungen, der Kriegsmarine, der Behörden und Vereinigungen, der Reedereien, der Lotsenschaft und alle, die sich der Schiffahrt verbunden fühlen, auf dem Zentralfriedhof in Brockeswalde vereinte, wurde es seiner Bestimmung übergeben. Mit diesem Ehrenmal […] wurde den Angehörigen von bisher 52 Cuxhavener Seefahrern, die in allen Meeren die letzte Ruhe gefunden haben, eine schlichte [sic] und würdige Stätte geschaffen, an der sie sich ihrer Toten erinnern können." Der Cuxhavener Oberbürgermeister und Gauamtsleiter Klostermann hielt die Einweihungsrede und sagte unter anderem: "In stolzer Trauer möge Ihnen, meine verehrten Angehörigen, das Ehrenmal ein Mal des Trostes sein. Hier werden Sie in Gedanken sich mit Ihren lieben Toten vereinigen, und wer immer vor diesem Denkmal in Ergriffenheit und Ehrfurcht steht und die Namen der auf See Gebliebenen sieht, dem soll es ein Weckruf sein, der Herz und Seele durchdringt und aufrüttelt zur Selbstbesinnung. Lassen wir die gewaltige Sprache unserer Toten heute in unserem Herzen sprechen. Lassen wir sie nachwirken zu lebendiger Tat." Ein NSDAP-Funktionär forderte zum Abschluss der Feier im Auftrag des NS-Gauleiters die Angehörigen auf, alljährlich zum Ehrenmal zu gehen und der Toten zu gedenken (Cuxhavener Tageblatt 6.11.1939).

Hält man sich vor Augen, dass das NS-Regime vor zwei Monaten einen Weltkrieg begonnen und bereits unzählige Opfer zu verantworten hatte, so klingen solche Parolen geradezu zynisch. Stilistisch spielten für das Cuxhavener Monument die meist pathetischen Kriegerdenkmäler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg waren sie sinnfälliger Ausdruck des Gefallenenkultes und erinnerten mit den eingravierten Namen an die Toten aus den jeweiligen Dörfern und Städten.

Memorial Helgoland
Memorial Helgoland (Foto: Fischer)

Auch aus den Jahrzehnten nach dem Ende von NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg gibt es weitere, meist weniger spektakuläre Beispiele für die namentliche Erinnerung an Ertrunkene. So ist auf dem Namenlosen-Friedhof von Helgoland ein Gedenkstein drei in den Jahren 1968 und 1969 auf hoher See ums Leben gekommenen Meeresforschern gewidmet. Die Ertrunkenen werden namentlich genannt, die Inschrift lautet: "Sie gaben ihr Leben für die Erforschung des Meeresgrundes". Auf Borkum erinnert eine gartenarchitektonisch ansprechend gestaltete, zentral im Ort gelegene Gedenkstätte namentlich an den Tod von Besatzungsmitgliedern zweier Seenotrettungsboote.

Memorial Ording
Memorial Ording (Foto: Fischer)

Kommen wir zu jenen Memorials, die allgemein den "Auf See Gebliebenen" gewidmet wurden. Ein frühes Beispiel findet sich auf dem Kirchhof von Ording (Eiderstedt). Als point de vue gestaltet und 1938 dank einer privaten Spendensammlung errichtet, trägt das annähernd zwei Meter hohe Steinkreuz für die "Auf See Gebliebenen" die Inschrift "Und das Meer ist nicht mehr" (Off. 21.1).2 Robert Harrison deutet diese Bibelstelle wie folgt: "In der eschatologischen Phantasie, in der solche Visionen geboren werden, gehören Erde und Meer verschiedenen, ja einander entgegengesetzten Kategorien an. In die Erde mit ihrer Solidität und Stabilität lässt sich etwas einschreiben, auf ihren Boden können wir bauen, während das Meer menschlicher Weltlichkeit keine derartige Basis bietet. Das ist zweifellos der Grund, weshalb das Meer in seiner Feindseligkeit gegenüber architektonisch oder textlich geprägtem Gedächtnis häufig als der imaginäre Agent endgültiger Zerstörung fungiert. Als Johannes am Ende des Buches der Offenbarung das Eschaton schildert, beschreibt er das architektonische Wunder des neuen Jerusalem, und in begeisterter Rhetorik sprich er von einer 'neuen Erde' und einem 'neuen Himmel'. Fast beiläufig erklärt er dann: 'Und das Meer ist nicht mehr' (21,1). Das Verschwinden des Meeres bezeichnet hier den endgültigen Sieg der durch die göttliche Vorsehung bestimmten Geschichte über das ihr antagonistische Element".

In Büsum (Dithmarschen) steht auf dem Neuen Friedhof am Hauptweg ein knapp 1,40 Meter hoher Gedenkstein mit der Inschrift "Zum Gedenken an die auf See gebliebenen Fischer". Die weitere Zeile lautet "Christkyrie. Komm zu uns auf die See". Dieser zentral platzierte Gedenkstein wurde 1965 eingeweiht.

Memorial Dornumersiel
Memorial Dornumersiel (Foto: Fischer)

Als letztes Beispiel für diese Phase sei auf ein figürlich gestaltetes Memorial im ostfriesischen Hafenort Dornumersiel hingewiesen: die Bronzeplastik "He ist buten bleeven". Auch diese Pietà-Figur mit Kind ist allgemein den "Auf See Gebliebenen" gewidmet, sie wurde 1972 von einem lokalen Bildhauer geschaffen. Die Plastik steht an prominenter Stelle an der Brücke über dem Sieltief, also dem Hauptfahr- und Entwässerungsstrom.

Solche Formen der Rekonstruktion regionaler Identität funktionierten, weil sie auf historisch gewachsenen Deutungen innerhalb tradierter Lebenswelten aufbauten. Durch den Rückgriff auf die historische Erfahrung des todbringenden Meeres gelang es, an der Küste ein "regional-kulturelles Sinnsystem" zu schaffen, das die Identität vor Ort in einem Zeitalter gesellschaftlich-kultureller Transformationsprozesse stabilisierte. Der Rückgriff auf die historische Erfahrung dient nunmehr dem Zweck, auf symbolischer Ebene das besondere "Regionalbewusstsein" und die im Zeitalter der Moderne fragil gewordene regionale Identität der Küstengesellschaften zu stabilisieren.

1 Der Verfasser dankt Jan Schneeberg, Leiter des Archivs des Heimatvereins der Insel Borkum, für zahlreiche Materialien und sonstige Unterstützung sowie Helmut Schoenfeld (Hamburg) für die Vermittlung des Kontaktes nach Borkum und die Überlassung eigener Texte.

2 Der Verfasser dankt Claus Heitmann (St. Peter-Ording) für diese Informationen.

Anm. der Redaktion: Der Text ist ein leicht überarbeiteter Auszug aus dem Aufsatz "Gedächtnislandschaft Nordseeküste - Inszenierungen des maritimen Todes", erschienen in: Norbert Fischer/Susan Müller-Wusterwitz/Brigitta Schmidt-Lauber (Hrsg.): Inszenierungen der Küste. Berlin 2007, S. 150-183.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Kapellen in Ohlsdorf Orte des Abschieds (August 2007).
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