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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Anonym unter grünem Rasen

Eine kulturwissenschaftliche Studie zu neuen Formen von Begräbnis- und Erinnerungspraxis auf Friedhöfen

”...wenn ich mal zwei Wochen nicht da war, ruft er mich: Warum kommst du denn nicht?” Obwohl Clodine doch auch zu Hause an ihn denkt, zieht etwas sie hierher.1 Vor zwei Jahren wurde ihr Mann im Urnenhain für anonyme Begräbnisse des Friedhofs Ohlsdorf in Hamburg beigesetzt.

Clodine (81) ist modisch gekleidet mit grauer Caprihose, gelber Bluse und sportlicher Jacke bis hin zum wertvollen Schmuck und dezentem Make up. Sie sitzt immer auf einer bestimmten Bank; eine Seelenverwandtschaft mit ihrem Mann überbrückt von dort die Distanz zur Grablage.

Urnenhain
Urnenhain bei Kapelle 2 auf dem Friedhof Ohlsdorf (Foto: Helmers)

Begegnungen wie die mit Clodine waren es, die meine Studie dem Ziel näher brachten, das komplexe Phänomen so genannter anonymer Begräbnisse als Erfahrung und als kulturelle Konstruktion lesbar zu machen. Die Arbeit geht dabei von zutiefst vergeschlechtlichten familienbezogenen und öffentlich-nationalen sepulkralen Repräsentationen aus, die sich ins kollektive Gedächtnis der westlichen Moderne eingeschrieben haben und sich bis heute in sozialen und symbolischen Ordnungen reformulieren. Ich kombiniere qualitativ-empirisch kultur- und sozial-theoretische Positionen und Methoden, habe mit Vorausverfügenden, Verwitweten, FriedhofsbesucherInnen und ExpertInnen des Friedhofswesens gesprochen, Krematorien inspiziert, bei anonymen Beisetzungen assistiert und Umgangsweisen mit Grabfeldern erkundet. Der mehrperspektivische, kulturanalytisch ethnographische Zugang macht alltagsweltliches Wissen zu Sterben und Begraben anschaulich und stellt es dem kulturpessimistischen Gestus des Forschungsstands an die Seite.

Frauen und Männer erzählen zu ihrer Motivation, das eigene Grab als anonymes zu bestimmen. GesprächspartnerInnen, die vielfältige soziale Kontakte pflegen, mehrheitlich mit Partnern oder Partnerinnen leben, berufstätig sind oder bis zu ihrer Rente waren, über Bildung verfügen und schließlich ihren Hobbys nachgehen. Menschen, die sich um andere teils sehr intensiv kümmern, die eine ExpertInnenschaft zu Sterben und Tod entwickelt haben und den von Kritikern der anonymen Bestattung gezeichneten Schreckbildern nicht entsprechen. Die Kriterien für die Entscheidung sind so weit gefächert wie Vorstellungen von Körper, Tod und Natur.

Huckelriede
Anonymes Urnenfeld Friedhof Huckelriede Bremen (Foto: Helmers)

Der Tod soll würdig bleiben und das Erinnern lebendig. Dafür sorgen die Vorausverfügenden: Da werden Lieblingsdinge Verwandten, Freunden oder öffentlichen Einrichtungen zugedacht, als überflüssig erachtete Ansammlungen von Hausrat sukzessive entsorgt, Fotos so inszeniert, wie Befragte gerne im Bildgedächtnis bleiben wollen, Ratschläge für Nachkommen aufgezeichnet oder Abschiedsreden selbst formuliert. Alles andere als Nachlässigkeit im Umgang mit Sterblichkeit und Begräbnis; nur in einem Fall wird der Wunsch nach stillem Verschwinden und In-Ruhe-gelassen-werden geäußert. Erinnerungsvorsorge zielt hier auf optimierte Phasen des Lebens und möchte keine Bilder der Hinfälligkeit, des Leidens und der Ohnmacht hinterlassen. Die Befragten verhandeln andere Färbungen von Erinnertsein: Man möchte nicht mittels normativ begründeter emotionaler Affekte im Herzen anderer weiterleben. Es geht um ein Erinnertwerden in einem positiven Kontext oder um ein nüchternes Fortdauern im Bewusstsein der Nachwelt. Sowohl Umgangserfahrungen mit Sterbenden, über die Interviewparterinnen verfügen, wie das abstrakte, ästhetisierende Durchdeklinieren von Sterblichkeit der Interviewpartner kann den eigenen Tod oder den von anderen erleichtern.

Ohlsdorf
Urnenhain Hamburg-Ohlsdorf (Foto: Helmers)

Nahestehende der anonym Begrabenen und Friedhofsbeschäftigte erlauben Einblicke in alltägliche Aneignungs- und Gestaltungsweisen dieser Grabform. Trauer- und Erinnerungsutensilien eignen sich die Grabfelder an, ‚Miniaturgräber‘ re-individualisieren Tote und bestätigen Gedenktraditionen.

Mutter
"Mutter" auf Vase und Grablicht. Fundort: Anonymes Grabfeld Friedhof Süd Oldenburg (Foto: Helmers)

Anonyme Gräber repräsentieren auch das mit den individuell bezeichneten konventionellen Gräbern Ausgeschlossene, dort nicht Repräsentierbare; ‚dunkle Flecken‘ von Gesellschaft. Das traditionelle Begräbnisrepertoire verliert an Bedeutung, weil es kohärent identitäre Vorstellungen zu Toten behauptet und Geschiedenes, durch Krankheit oder Krieg Zerstückeltes wieder als Ganzheit und Unvergängliches erstehen lassen will. Gräbern ist das Dilemma eingeschrieben, gleichzeitig individuelle Tote wie Institutionen repräsentieren zu sollen. Die Institution der ‚Guten Mutter‘ vermittelt auch am anonymen Grabfeld zwischen Individuum und Gesellschaft.

Das Miniaturisieren, Zitieren und Einanderkommentieren von Erinnerungsdingen erlaubt einen spielerischen Umgang mit Tradition und Institution. Gartenkünstlerische Raumkonfigurationen, autorisierte Gestaltungselemente und Materialien modellieren den Friedhof als Raum des kulturellen Gedächtnisses. Dieser kulturgeschichtlich und symbolisch geordnete Rahmen kontextualisiert zeichenarme anonyme Grabfelder und vermittelt Stimmungslagen. Die Botschaften skulpturaler trauernder Weiblichkeit in der Pose bürgerlicher Trauerkultur, der religiösen Symbole, der historisch-künstlerischen Grabzeichen fordern zu bestimmten Handlungen und Deutungen auf. In diesem Kontext ist individuelles Erinnern und Trauern mittels Blicktechniken, Bekleidungen, Hilfsobjekten und Haltungen situativ auf das anonyme Grab hin auszustellen.

Haltungen
Körperhaltungen (Foto: Helmers)

Anonyme Begräbnisse geben Auskunft über das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem Wunsch, lebhaft erinnert oder still vergessen zu sein, und zwischen dem Unvordenklichen individueller Deutungen gegenüber den beharrlichen Setzungen des kulturellen Rahmens.

1 Zitat: Studie S. 219

Die Dissertation liegt elektronisch inklusive Abbildungen veröffentlicht auf dem Dokumentenserver der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg bereit: externer Link. Die Studie kann von dort kostenlos auszugsweise oder vollständig auf den eigenen PC heruntergeladen und ausgedruckt werden.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Geschmiedete Friedhofskunst (August 2005).
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