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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Friedhof Picpus in Paris:

Gedenkstätte des Revolutionsgrauens und der Aristokratie
Massengräber als Hinterlassenschaft des Henkers
Bedrückende Idylle inmitten der französischen Metropole

Draußen, jenseits der hohen Häuser, tobt das Leben der Weltstadt Paris. In dem von ihnen umgebenen unerwartet großen Geviert indes, das dem Lärm und der Hektik der nie zur Ruhe kommenden französischen Metropole Einhalt gebietet, sind höchstens die Schritte der wenigen zu hören, die es auf den historischen Friedhof Picpus gezogen hat. Es ist ein stiller Ort sepulkraler Gegensätze: Zwei Massengräber haben weit mehr als tausend Opfer der 1789 ihren Anfang nehmenden französischen Revolution aufgenommen. Zugleich ist der historische Gottesacker eine Stätte der letzten Ruhe zahlreicher Angehöriger der Aristokratie Frankreichs.

1792, nach der im Zuge der französischen Revolution erfolgten Enteignung kirchlichen Vermögens, hatten zwei Privatleute das Kloster St. Augustin an der Rue de Picpus gepachtet und es in eine Heil- und Pflegeanstalt umgewandelt. Hier konnten sich politisch verfolgte Bürger "aus gesundheitlichen Gründen" den blutrünstigen Revolutionsgerichten entziehen - zumindest, so lange sie für den Aufenthalt zu zahlen in der Lage waren.

Die Urteilswut des in Schnellverfahren tätigen Tribunals in der Conciergerie verschaffte dem Henker von Paris, Charles-Henri Saison, und seinen Gehilfen eine Hochkonjunktur ihres Schinderdaseins. Allein auf der Place de la Concorde, wo die Guillotine nach ihrem vorherigen Standort Place du Carousel ihren Platz gefunden hatte, wurden innerhalb von 13 Monaten 1220 Menschen hingerichtet. Danach war das Fallbeil auf der Place de la Bastille und schließlich auf der Place de la Nation in Tätigkeit.

Auf der Suche nach einer Entsorgungsstätte für die enthaupteten Körper wurde die Stadt Paris im Juni 1794 auf den stillen und damals noch abgelegenen Garten des früheren Klosters St. Augustin in der Rue de Picpus aufmerksam. Sie ließ am nördlichen Ende die Gartenmauer durchbrechen, um ein Tor für das Einbringen der Opfer einzubauen. Um neugierigen Blicken zu begegnen, wurde zum Kloster hin eine Wand hochgezogen. In einer vorhandenen kleinen Kapelle richteten die Schergen eine Registratur ein. Ihre Aufzeichnungen befinden sich heute im französischen Nationalarchiv.

Für 1306 vom 14. Juni bis 27. Juli hingerichtete Opfer der französischen Revolution zwischen 14 und 90 Jahren aus ganz Frankreich, darunter 197 Frauen, wurde Picpus zur letzten, unwürdigen und entwürdigenden Ruhestätte - in zwei Massengräbern. 702 von ihnen sind Menschen aus dem Volk gewesen, 131 waren Nonnen, Mönche und Priester, die übrigen gehörten dem Adel an. Die hauptlosen Leichen kamen per Pferdekarren und wurden wahllos in die Gruben geworfen. Mit den abgeschlagenen Köpfen füllten die Henkersknechte die Lücken auf.

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Gedenkstein für Familie Noailles (Foto: Schreiber)

Dass die Stätte des historisch geprägten Grauens der Nachwelt erhalten blieb, ist der deutschen Prinzessin Amalie von Hohenzollern-Sigmaringen zu verdanken. Ihr als "Agent der deutschen Koalition" verdächtigter Bruder Fürst Friedrich von Salm-Kyrburg, der dem vorrevolutionären Regime als Marschall diente, gehörte mit 45 Weg- und Gesinnungsgenossen zu denen, deren Leben am 23. Juli 1794 unter dem Fallbeil endete; nur sechs Tage - blutige Ironie! - bevor sich der maßgebliche Initiator der grausamen Orgie, Maximilien Robespierre (geb. 1758), unter der von ihm massiv zum Einsatz gebrachten Hinrichtungsmaschine wiederfand.

Die Prinzessin erwarb im November 1796 den Teil des Gartens mit den Massengräbern als Stätte des Gedenkens. Andere Familien von Opfern taten es ihr gleich, woraufhin der kleine, heute noch bestehende Privatfriedhof entstand. Auf ihm durften und dürfen nur Nachkommen jener Familien bestattet werden - die Grabsteine enthalten fast ausschließlich Namen aus dem französischen Adel.

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Gedenktafel für Prinzessin Amalie von Hohenzollern-Sigmaringen (Foto: Schreiber)

Direkt an den - der Öffentlichkeit nicht zugänglichen, aber einsehbaren - Massengräbern fällt dem Besucher das Sternenbanner auf. Es weht auf dem Grab von Joseph La Fayette (1757-1834), des Helden des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der französischen Revolution, der auch die Trikolore, die französische Nationalfahne, schuf. Er ruht neben seiner Frau Adrienne, die aus der Märtyrerfamilie Noailles stammt. Drei Schwestern der Familie Noailles hatten sich in den Schreckenstagen auf die Suche nach den enthaupteten Angehörigen ihre Familie - Mutter, Großmutter, Großtante - gemacht. Dabei war ihnen Mademoiselle Paris behilflich gewesen: Die junge Frau war den Pferdefuhrwerken mit ihrer entsetzlichen Fracht unbemerkt gefolgt und wusste von deren Ziel.

Jedes Jahr am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, erscheint dort der Botschafter der Vereinigten Staaten am Grab La Fayettes, um das Sternenbanner auszutauschen.

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Grab von Joseph La Fayette (Foto: Schreiber)
Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft 125 Jahre Friedhof Ohlsdorf - wie geht es weiter? (Juni 2002).
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