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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Ohlsdorfer November in alten Zeiten

Bis in die frühen fünfziger Jahre war in Ohlsdorf im Totenmonat November immer Hochsaison. Damals war es üblich, dass jeder Hamburger zu dieser Zeit seine Gräber winterfest machte und schmückte.

Deshalb machten sich Tausende auf den Weg zum Friedhof. Die Fuhlsbüttler Straße vor dem Friedhof war schwarz von Menschen. Nur die Straßenbahnen der Linie 6 bahnten sich klingelnd ihren Weg durch die Menschenmenge. Ein Großteil der Besucher kam mit dieser Straßenbahn. Weitere Tausende reisten mit der Vorortbahn (heute S-Bahn) an. Die graugrünen Wagen der Vorortbahn glichen den Abteilwagen der früheren Reichsbahn mit ihren umlaufenden Trittbrettern. Jedes Abteil hatte eine eigene Tür, die mit großen Kraftaufwand zugeknallt werden musste. Auf dem Dach hatten diese Wagen Stromabnehmer, wie wir sie heute von der Bundesbahn kennen. Auf dem Nebenbahnsteig kamen die Menschen in den dunkelgrün-gelben Zügen der Hochbahn (heute U-Bahn) an. Einige wenige kamen zu Fuß oder per Fahrrad. Mit dem Auto kam so gut wie niemand, da zu dieser Zeit höchstens Großkaufleute, Banker und Ärzte ein solches Fahrzeug besaßen.

Am Friedhofsgitter standen, beginnend am Krematorium bis über das Verwaltungsgebäude hinaus, Verkaufskarren, die Decktanne und -fichte und Dauerkränze, -sträuße, und -kissen anboten. Hier waren viele saisonale Händler vertreten, die ihre Ware am Blumengroßmarkt in den Deichtorhallen gekauft hatten. Die Ohlsdorfer Friedhofsgärtnereien sicherten sich ebenfalls Karrenplätze. Sie ließen die Tanne waggonweise aus dem Schwarzwald zum Güterbahnhof Ohlsdorf bringen. Die Gärtner und Blumenbinderinnen hatten am Buß- und Bettag und Totensonntag von 6.00 Uhr morgens an zu arbeiten. Die Gärtner zerschnitten die großen Tannenzweige in kleinere Stücke und bündelten diese mit Draht. Wer von den Gärtnern einigermaßen geschickt war, musste in der Binderei helfen. Die Sträuße und Kissen bestanden aus Tanne, Fichte, Wacholder und Schmuckelementen wie Tannenzapfen und Weidenkätzchen.

Die Gärtnerlehrlinge brachten die fertige Ware mit einer Schott'schen Karre (zweirädriges Gefährt mit fast mannshohen Rädern) oder Handwagen zu den Verkaufsständen. Neben jedem Verkaufsstand warteten Kinder mit Rollern, alten Kinderwagen und Kinderkarren oder selbst gebastelten Fahrzeugen aus Brettern und Kinderwagenrädern auf Kunden. Die Kinder von Barmbek, Ohlsdorf, Winterhude oder auch entfernteren Stadtteilen sprachen die Leute an: "Tante, soll ich Sie die Tanne ßun Grab faahn." Ebenso boten die Gymnasiasten, zu erkennen an ihren bunten samtenen Schülermützen mit Lacklederschirm, ihre Dienste an: "Gnädige Frau, darf ich Ihnen meine Transportmöglichkeit anbieten." Dann gab es die Verhandlungen um den Preis. Dieser richtete sich nach der Entfernung. Ein Weg bis zur Kapelle I wurde mit 30 Pfennig berechnet. Dagegen erforderte ein Transport bis zur Kapelle VI oder X die Zahlung einer Reichsmark. Noch weitere Ziele wurden hier nicht angefragt. Diese Besucher benutzten die Eingänge Kornweg, Wellingsbüttel oder Bramfeld, wo es ebensolche Dienste gab. Die Kinder befestigten die Tanne mittels eines Tüdelbandes an ihrem Gefährt, und los ging der Transport. Angeschmiert war nur derjenige, der an eine langsam gehende Oma geraten war. Das nahm ihm die Möglichkeit weiterer Transporte. Doch oft genug glichen die alten Damen diesen Mangel durch ein großzügiges Trinkgeld aus. Am Grab angekommen wurde die Tanne schnellstens abgeladen, es wurde kassiert, und im Sauseschritt liefen die Kinder zurück zum Eingang.

In der Kunst des Grababdeckens gab es gewaltige Unterschiede. Die nicht künstlerisch Begabten legten einfach die Tannenzweige ungeschnitten und ungeordnet auf die Grabstelle. Andere wollten es den Profis nachtun, denn die Friedhofsverwaltung und die Friedhofsgärtner boten gegen Bezahlung selbstverständlich auch das Abdecken der Gräber an. Wer etwas mehr von der Sache verstand, schnitt nun seine Tannenzweige meistens in kleine Stücke und deckte erst die Grabfläche ab, indem die Tannenzweige mit der dunkelgrünen Seite nach oben dicht nebeneinander gelegt wurden. Die Kante wurde dann mit den Tannenzweigen "weiße Unterseite nach oben" belegt. Wer es ganz besonders gut machen wollte, verzierte die Kante zwischen Seitenstreifen und Spiegel mit eingesteckten Mahonien- oder Ilexzweigen, die ebenfalls an den Karren zu kaufen waren. Die Ohlsdorfer Händler und die Hamburger Kinder waren der gleichen Meinung: für sie müsste es zweimal im Jahr einen November geben.

In den 60er und 70er Jahren griff man für den Transport in zunehmender Weise auch auf das Auto zurück. Der Besucherverkehr verdichtete sich auf dem Friedhof derart, dass er nur mit einer strengen Verkehrsregelung in den Griff zu bekommen war. Einbahnstraßenführungen und zusätzliche provisorische Ausfahrten mussten eingerichtet und natürlich auch die Polizei eingeschaltet werden. In den Verkehrsnachrichten an den Totengedenktagen war Ohlsdorf ein vorherrschendes Thema.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Kinder erleben den Friedhof (November 2001).
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