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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

trauer trägt viele namen

(Anm. d. Red.: Frau Duschenka aus St. Gallen/Schweiz bat uns, Ihren Beitrag zum Wettbewerb "Medienpreis Bestattungskultur in Deutschland" in unserer Zeitschrift zu veröffentlichen. Wir kommen gern dieser Bitte nach, können aber aus Platzgründen nur einen von ihr gekürzten Auszug an dieser Stelle wiedergeben.)

ich gehe durch den park, diesen park, der ein friedhof ist. die stille, die mich umgibt, ist wohl nicht das besondere, die begegnet mir auch in anderen totengärten. besonders ist mir die ausgedehnte weite. nichts engt mich ein, keine engabgesteckten felder, wo ich acht geben muss, dass ich nicht auf ein nächstes trete. ich gehe zwischen den gräbern, ich habe das gefühl zu wandeln, auf moosweichem boden. zwischen den unzählbaren rhododendronbüschen, oft –hecken, fühle ich mich umgeben, geschützt auch, und zum verweilen eingeladen. ich finde immer wieder eine bank, auf der ich sitzen kann – ausruhen und nachsinnen. das ‚dazwischen‘ lässt mich in meinen fantasien in den welten hier und dort hin und her wandern.

heute wage ich einen besonderen schritt zu einem platz, den es seit ende letzten jahres auf dem ohlsdorfer friedhof gibt – dem gedenkplatz für die kleinsten, die ‚totgeborenen‘, wie man sie bei uns nennt. dass sie niemals tot waren und auch nach ihrer geburt weiterleben, weiss ich aus eigener erfahrung. nach über dreissig jahren habe ich nun einen platz für all die angesammelte trauer. nie habe ich sie verdrängt, bin damit umgegangen, habe dieses kind, das auch lange keinen namen hatte, begleitet. achzehn jahre – das erschien mir angemessen, da gehen andere kinder auch fort aus dem elternhaus – da habe ich noch einmal bewusst ‚losgelassen‘. mit allen möglichen kreativen mitteln habe ich meinen trauerweg gestaltet und mir eingebildet, dass ich kein grab für mein kind brauche, dass ich auf jeden friedhof gehen könne. aber nachdem es diese möglichkeit gibt, einen bestimmten platz zu haben, erhält meine trauer noch einmal eine andere qualität – endlich kann sie zur ruhe kommen.

jetzt kann ich stehen und trostbilder aufsteigen lassen. kleine seelen schweben heiter durch die luft. alle haben sie flügel, kleinere und grössere, sie sind nur flug, nur flügel, ganz leicht und unbeschwert. ihre zahl überrascht mich, und ich mache mir noch einmal gedanken, was sie wohl gehindert hat, diese welt zu betreten und ob sie besonders hellsichtig waren und andere welten, andere möglichkeiten für sich sehen konnten.

ich gehe weiter durch die weite dieses friedhofs und denke mir, dass diese weite möglichkeiten bietet, ja anbietet, dem tod einen besonderen stellenwert zuzugestehen. in dieser weite können leben und tod miteinander verschmelzen. in diese weite kann ich eintauchen ohne angst.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Gemeinschaftsgrabstätten (Mai 2000).
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