Hier soll einmal auf einen dänischen Friedhof hingewiesen werden, der eine besondere Geschichte erzählt.
Südlich des dänischen Ortes Kolding, nahe an der Autobahn, liegt die kleine Gemeinde Christiansfeld, die 1773 von einer Gruppe von Herrnhuter Brüdern und Schwestern aus Zeist in Holland gegründet wurde (bei den Herrnhutern handelt es sich um eine pietistische Glaubensgemeinschaft). Im Laufe von wenigen Jahren wurde der erste Teil der Stadt gebaut. Er besteht aus schlichten gelblichen Backsteinhäusern, die an schnurgeraden Straßen aufgereiht sind. Das Straßennetz ist ganz regelmäßig und rechtwinklig angelegt. Eine ganze Reihe von Bauten steht heute unter Denkmalsschutz, so zum Beispiel die Kirche der Brüdergemeine, die aus einem langen Saal besteht, dessen Breitseiten ganz von hohen Fenstern durchbrochen sind, so daß ihn helles Licht erfüllt. Die langen Bänke sind zur östlichen Breitseite hin ausgerichtet, wo sich ein Podest mit den Sitzgelegenheiten für die Ältesten und einem Liturgietisch befindet. Die schlichten Holzdielen sind noch heute mit feinem Sand bestreut, der zugleich zum Kehren und zum Scheuern dient.
In der Sitzordnung spiegelt sich die Vorstellung von der Gleichheit aller Gemeindemitglieder vor Gott - ein Hauptmerkmal der Brüdergemeinen - anschaulich wider. Noch deutlicher wird diese Glaubensgrundlage auf dem nahegelegenen Gottesacker, zu dem eine schattige Lindenallee aus der kleinen Stadt hinaus führt. Ein hölzernes Portal mit zwei niedrigeren Seiteneingängen verschließt den Friedhof. Weiß gestrichene jonische Säulen flankieren die Pforte und tragen ein schlichtes Gebälk. Der Eintretende liest darauf in vergoldeten Buchstaben auf Dänisch: "Gesät wird in Vergänglichkeit"; der Austretende wird mit dem Wort "Auferstanden wird in Unvergänglichkeit" hinausgelassen. Gegenüber diesem Tor steht auf der anderen Seite des Friedhofes ein kleiner klassizistischer Holztempel, dessen flacher Dreiecksgiebel von vier schlichten Säulen getragen wird. Innen laden Bänke zum Ausruhen ein, während das Dach den Besuchern bei Regen Schutz und Sonne Schutz gewährt.
Der Friedhof selbst besteht aus einem fast rechtwinkeligem Feld, das von einer Lindenallee eingerahmt wird und von zwei weiteren Alleen in Kreuzform durchzogen wird. Schon drei Jahre vor der Einweihung der Kirche fand hier am 2. April 1774 die erste Beerdigung statt. Noch heute werden die Frauen – oder wie sie in der Gemeinde heißen: die Schwestern – rechts, die Brüder links von der Mittelallee begraben, so wie sie zu Lebzeiten auch in der Kirche sitzen. Damit sind im Tode alle Familienbande gelöst. Nicht mehr der Name des Familienoberhauptes zählt, und die Angehörigen versammeln sich nicht noch im Tode im Familiengrab, wie auf den "normalen" christlichen Friedhöfen, sondern jeder Verstorbene bekommt sein eigenes Grab und seinen eigenen Grabstein mit seinem Namen und seinen Lebensdaten. Alle Steine sind gleich groß und liegen am Boden. Ihre Inschriften sind stets dem Osten zugewendet, der Richtung des Heiligen Grabes. Dabei muss man daran erinnern, dass diese Art zu beerdigen im 18. Jahrhundert noch völlig ungewöhnlich war und erst heute in den halbanonymen Beerdigungsfeldern, in denen ein schlichter Stein gesetzt werden darf, weitere Verbreitung findet.
Zweimal nur ist von dieser Gleichheit vor Gott eine Ausnahme zugelassen worden. Zum Gedenken an die Toten aus Christiansfeld, die am 25. April 1849 bei Kolding fielen, wurde ein schwarzes Granitkreuz auf einem Inschriftsockel errichtet, während ihre Namen und Daten auf einem schlichten Liegestein davor bewahrt werden. Größer wurde dann der felsartige Stein gewählt, der die Namen der Toten des Ersten Weltkrieges trägt.
Insgesamt enthält der Friedhof heute etwa zweitausend Grabstätten. Nur die Grabsteine, wo frisch beerdigt worden ist, sind mit Blumen geschmückt. Die anderen liegen fast alle verlassen in dem leicht modrigen Friedhofsboden, dessen nackte Erde nur am Außenrand von einem gepflegten Rasen bedeckt ist, wie man es sonst von Grabfeldern gewohnt ist. So wirken die Beerdigungsflächen tatsächlich wie ein Acker, der bereit ist seine Saat aufzunehmen, eben ein Gottesacker. Dabei beeindruckt die außerordentliche Schlichtheit und die Gleichheit aller Verstorbenen, die hier beerdigt sind, und führt deutlicher als auf den meisten anderen Friedhöfe vor Augen, daß die Menschen zu mindestens im Tode wirklich alle gleich sind.