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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Gerlind Rüve: Scheintod. Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800.

Transcript Verlag Bielefeld 2008, 335 Seiten

Das Phänomen, dass Menschen in tiefer Ohnmacht für tot gehalten wurden, hat es zwar auch schon vor dem 18. Jahrhundert gegeben, aber erst in der Zeit der Aufklärung kam es zu einer fast epidemischen Furcht vor dem Scheintod bzw. genauer ausgedrückt zu einer Welle der Angst davor, lebendig begraben zu werden. Dieses Phänomen hat nun Gerlind Rüve in ihrer medizinhistorischen Doktorarbeit, die jetzt als Publikation erschienen ist, erstmals grundlegend untersucht.

Bei ihrer Definition des Begriffs "Scheintod" geht sie davon aus, dass die Transformationen dieser Zeit "eine neue Definition von Leben und Tod sowie neue gesellschaftliche Praktiken, Institutionen und Einstellungen im Umgang mit dem Tod hervorgebracht haben". Und stellt die These auf, dass exemplarisch dafür die Diskussion um den Scheintod steht. Diese These belegt sie in den vier Hauptkapiteln ihrer Arbeit mit historischen Fakten, indem sie den Begriff zuerst geistesgeschichtlich verortet, sodann die Medien der Aufklärung auf seine Bedeutung hin untersucht, die Bestattungspraktiken und ihren Wandel am konkreten Beispiel darstellt und zuletzt das Ende der Debatte um den Scheintod nachvollzieht. Dabei liegen ihrer Untersuchung zwei Fragestellungen zugrunde: zum einen die Frage nach der "Verwissenschaftlichung" und zum anderen jene nach dem "Wandel der Sinnstiftung" des Todes.

Sie zeigt, wie die Mediziner im Zeitraum der Aufklärung den Tod als Feld der ärztlichen Zuständigkeit absteckten und damit einen Alleinvertretungsanspruch gegenüber anderen Eliten erhoben. Damit wird erkennbar, dass die Thematisierung des Scheintodes ein Teil der Professionalisierungsbestrebungen seitens der Ärzte und ihrer Bemühungen um Medikalisierung am Beginn der modernen Gesellschaft waren. Als übergeordnet über diese Bestrebungen aber sieht die Autorin die Erschütterung der heilsgeschichtlichen Erwartung und den Verlust des Unsterblichkeitsgedanken an und benutzt dafür den Begriff der Kontingenzerfahrung, der einerseits das zufällige gemeinsame Auftreten zweier Ereignisse, andererseits aber auch einen Status der Ungewissheit und Offenheit möglicher künftiger Entwicklungen bezeichnet. Rüve führt dazu aus, dass das in der frühen Neuzeit produzierte empirische Wissen über den Körper radikal die bis dahin gültige Definition von Leben und Tod unterminierte. Das Leben hörte auf, die von Gott gegebene Seele zu sein, die man sich als kleinen Doppelkörper vorstellte, der sich beim Tod vom Menschen trennt. Dagegen setzte sich die wissenschaftlich untermauerte Vorstellung durch, dass das Leben vielmehr innerhalb des Körpers lag und der Wirkung von ihm innewohnenden Kräften wie dem Blutkreislauf zugerechnet werden musste. Die Autorin konstatiert einen Übergang des Menschen vom Seelenwesen zum Körperwesen, womit er als ein Teil der Natur und als ein "autonom handelndes Subjekt der Geschichte" positioniert ist. Die Zukunft, bis dahin vom Ende der Welt – dem Gottesgericht – beschränkte Zukunft, öffnet sich nun dem Menschen als ein unendlicher Prozess. Die Autorin kommt zu dem Fazit, dass die Scheintoddebatte "den Beginn des modernen Todesverständnisses markiert, denn in ihr kam die verzeitlichte Vorstellung des Todes zum Ausdruck."

Die Untersuchung des Scheintodphänomens war bisher ein Desiderat der Forschungsgeschichte. Deswegen ist es besonders zu würdigen, dass die Autorin sich diesem Thema gestellt und mit ihrer Dissertation eine grundlegende Forschungsarbeit vorgelegt hat, die dadurch, dass sie mentalitätsgeschichtliche, anthropologische, philosophische und religiöse Fragestellungen zum Wandel der Todesvorstellungen in dem Begriff des Scheintodes fokussiert, weit über den eigentlichen medizinhistorischen Rahmen hinaus geht. Sicher hätte es den Rahmen einer Dissertation gesprengt, auch die Scheintoddebatte in anderen Ländern mit zu berücksichtigen, auch wenn hier angemerkt werden soll, dass diese Diskussion nicht nur im deutschen Sprachraum stattgefunden hat. Schade ist allerdings, dass Autorin und Verlag die bildliche und dichterische Produktion zur Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden nicht in die Publikation einbezogen haben. Da der Text an manchen Stellen etwas mühsam nachzuvollziehen ist, wäre er dadurch sicher angenehm aufgelockert worden.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Ohlsdorf und seine Dichter (November 2008).
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