Zweimal musste der Regisseur die Dreharbeiten abbrechen.
Die Arbeiter von der Baustelle unweit des Filmsets hatten sie erkannt und brüllten ihren Namen im Chor: "Cora, Cora"! Dabei, so möchte man meinen, waren an diesem sonnenwarmen Julitag 2010 weitaus prominentere Darsteller am Set für den Kinofilm "Gegengerade 20359 St.Pauli" erschienen: Mario Adorf oder Dominique Horwitz etwa. Und trotzdem ging es den Jungs vom Bau in diesem Moment nur um eine: Carolin Wosnitza, geborene Ebert, Amateurpornodarstellerin, Ex-Big-Brother-Mitbewohnerin und nun Nebendarstellerin in diesem Kinofilm über den Aufstieg des Fußballvereins FC St. Pauli.
- Carolin Wosnitza, geb. Ebert. Foto: Privat
In den Drehpausen setzten wir uns in den Schatten, und Carolin präsentierte mir ihre Website im Netz: rosa, rosa und noch einmal rosa. Ganz viel braungebrannte nackte Haut, Pornoclips zum Anklicken und Tattoos auf dem durchtrainierten Körper eines blutjungen Mädchens. Zunächst ob der Präsentation der "Sexy Cora" im Netz und in der Realität befremdet, begann ich langsam zu begreifen: Ihre absolute Präsenz und Disziplin bei der Arbeit am Set, ihre gesunde Nahrungszufuhr (kein Zucker, nicht einmal der aus der Frucht!), strikter Nikotinverzicht, das Unverständnis darüber, am helllichten Tag Alkohol zu konsumieren – am "Hamburger Berg", dem Drehort, huschten dann und wann torkelnde Gestalten durch die Szenerie – machten mir klar: Dieses Mädchen arbeitet hart und ist zutiefst überzeugt von dem, was es tut. Die zahlreichen Einträge in ihrem Gästebuch, der tägliche Mailkontakt mit männlichen (und weiblichen) Fans, den Cora akribisch und gewissenhaft pflegte, gaben ihr Recht: Sie schien eine Faszination auf Teile der Gesellschaft auszuüben; dieses junge, blonde Mädchen mit dem Antlitz einer Lolita und den Brüsten einer Pamela Anderson. Viele würden Verkehr mit ihr haben wollen: Ärzte, Beamte im gehobenen Dienst, Politiker. Namen nannte sie nicht. Diskretion war ihr wichtig. Auf ihre Brüste war sie stolz. Tim, ihr Ehemann, habe eine OP zu Anfang nicht gewollt, sich aber mittlerweile an den Anblick gewöhnt. Es war ihr gemeinsames Baby, ihr gemeinsames Geschäftsmodell: "Sexy Cora".
Als ich fünf Monate nach Drehschluss in der Tageszeitung las, Cora läge infolge von Komplikationen bei einer weiteren Brust-OP im Koma, war ich mir sicher, die Medien würden übertreiben, die Lolita packt das, die wacht wieder auf.
Knapp zwei Wochen nach ihrem Tod stehe ich neben ihrem Sarg. Der ist rosa. Ich habe bei der Trauerfeier für Carolin Ebert gesungen, weil das als Sopranistin in meinen Aufgabenbereich fällt und weil es mir eine Herzensangelegenheit war, sie mit sanften Klängen in das Jenseits zu geleiten, von dem ich sicher bin, dass es das gibt und dass dort ein Platz für Caro vorgesehen ist.
Pastor Frank-Michael Wessel hielt die Trauerfeier und eröffnete sie mit den Worten: "Caro ist eingeschlafen
– nach vielen Tagen des Hoffens und des Bangens
– und des Betens. Mit 23 Jahren
– unzeitig und viel zu früh
– bei der Schönheits-OP. (....) Heute müssen wir von ihr Abschied nehmen – hier in dieser Kapelle – und Tim hat sie noch einmal in ihre Lieblingsfarbe "rosa" gebettet – die Farbe, die so viel über Cora aussagt – Rosa, die Farbe, die Optimismus ausdrückt, Freude, positives Denken, die für Leidenschaft steht." Er schloss seine Predigt mit einem Wort des Theologen Dietrich Bonhoeffer:
"Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann, und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft miteinander – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren. Ferner: Je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht mehr wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich. Man muss sich hüten, in den Erinnerungen zu wühlen, sich ihnen auszuliefern, wie man auch ein kostbares Geschenk nicht immerfort betrachtet, sondern nur zu besonderen Stunden und es sonst nur wie einen verborgenen Schatz, dessen man sich gewiss ist, besitzt; dann geht eine dauernde Freude und Kraft von dem Vergangenen aus."
- Grab von Carolin Wosnitza, geb. Ebert, an der Cordesallee auf dem Friedhof Ohlsdorf. Grablage N 8, 11-14. Foto: G. Kell.
Unter den Trauergästen war Carolins Mutter. Eine kleine, leise Frau, die drei Töchter zur Welt gebracht und ihre Erstgeborene nun zu Grabe hat tragen müssen. Tochter, Schwester, Ehefrau, Enkelin, "Mädchen aus Ost-Berlin", Ex-Krankenpflegerin, Pornodarstellerin, Engelsgesicht.
Ihr Grab auf dem Friedhof Ohlsdorf, an prominenter Stelle links von der Cordesallee, nur unweit des Haupteingangs, ist auch drei Monate nach ihrer Beisetzung ein einziges buntes Blumenmeer. Die Eingangseite ihrer Website hingegen ist jetzt schwarz. Den Schriftzug "Sexy Cora" ziert eine große Schleife.