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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Das Anne-Frank-Grab in Bergen-Belsen

Mit diesem Bericht möchte ich als Mittelachtzigjähriger ein Jugendtrauma abbauen, das ich im März 1945 im vierzehnten Lebensjahr hatte.

Nach der Flucht aus Ostpreußen lebte ich in Barsinghausen westlich von Hannover. Zusammen mit meinem Bruder Dieter sah ich zufällig, wie sich entlang der nahen Landstraße ein längerer Elendszug von ausgemergelten, hinfälligen Menschen in Häftlingskleidung dahinschleppte, bewacht von SS-Soldaten. Wie ich später erfuhr, war ihr Ziel das nicht mehr so weit entfernte, bei Celle gelegene Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die NS-Führung hatte noch im Zusammenbruch des deutschen Reiches sinnlos befohlen, KZs in Frontnähe zu räumen und die Inhaftierten in noch feindfreie Gebiete zu verbringen, fast ohne Nahrung und bei klirrenden Frösten.

Ähnlich erging es Anne und Margot Frank, die von Auschwitz in Polen nach Bergen-Belsen im Viehwagen verfrachtet wurden. Dieses Schreckensbild des Häftlingsmarsches in Barsinghausen stand plötzlich mir wieder bildhaft vor Augen, als ich Ende Juli 2015 vor dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam stand. Die Szenen der von Anne so intensiv geschilderten Lebensnot waren mir besonders gegenwärtig, weil unsere 18jährige Enkelin uns wiederholt kurz vorher aus dem Anne-Frank-Tagebuch vorgelesen, das sie in der Schule besprochen hatten. Ich war in Amsterdam tief berührt und beschloss, schnellstmöglich nochmals nach Bergen-Belsen zu fahren, wo ich bereits 1947 und 1980 schon einmal war.

Anne Frank
Margot- und Anne-Frank-Grab, KZ Bergen-Belsen. Foto: H.-J. Mauss

Der 26. August 2015 war ein sonniger Spätsommertag, die Heide blühte. Im Abendlicht war ich fast allein auf dem ehemaligen KZ-Gelände – jetzt Gedenkstätte und Friedhof. 52.000 Häftlinge starben hier an Thyphus und Entkräftung, nicht durch Vergasen, denn Bergen-Belsen war eigentlich ein "Musterlager" für Austauschgefangene. Obwohl alle Toten 1945 in Massengräbern verscharrt worden sind, hat man später zwischen ihnen symbolisch Einzelgräber gekennzeichnet. Dort entdeckte ich das für Anne und Margot Frank gesetzte Grabmal: ein schlichter Gedenkstein. Vor ihm lag das Umschlagsporträt des Anne-Frank-Tagebuchs aus dem Fischer-Verlag. Daneben steckte die Israel-Fahne. Und überall lagen die für jüdische Gräber so typischen, von Besuchern mitgebrachten Steine. Ein Ort tiefsten Gedenkens! Für die Sitte des Steinlegens gibt es die für mich wohl schönste Erklärung: "So unterschiedlich wie jeder Naturstein ist, so verschieden sind auch die menschlichen Seelen und deren Geschicke". Das gilt auch für uns.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Insel, Tod und Trauer (November 2015).
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