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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Trauern und leben – im Garten der Erinnerung

Autor/in: Andrea Weber
Ausgabe Nr. 123, IV, 2013 - November 2013

"Ach schrittest du durch den Garten
noch einmal im raschen Gang –
wie gern wollt ich warten,
warten stundenlang!"

Ob seine Trauer einer verlorenen Liebe oder einem Verstorbenen galt, verrät das Zitat des Dichters Theodor Fontane nicht. Vielleicht ist es auch nicht wichtig. Denn der tiefe Schmerz, die Angst, die Wut oder die Verzweiflung, die Trauernde spüren, unterliegt keinen Maßstäben oder Regeln. Die Traurigkeit ist einfach da, sie lähmt, sie lässt sich nicht dirigieren, nicht mindern oder messen. Sie liegt wie Blei auf der Seele und spaltet das Leben in ein Vorher und ein Nachher.

Der Tod ist endgültig. Er verändert alles, denn nicht nur das eigene Fühlen geht ungewohnte Wege, die ganze Welt, das Universum, das Feld zwischen Raum und Zeit oder ihr Blick darauf verändert sich schlagartig.

In Deutschland sterben täglich mehr als 2000 Menschen. An Krankheit, am Alter, durch Unfall, Freitod oder Gewalt. Unzählige Hinterbliebene müssen mit ihrer Trauer weiterleben. Jeden Tag aufs Neue. Trotzdem ist der Tod als Thema im Alltag nicht da. Nicht der der anderen und nicht der eigene. Er ist kein Thema. Niemand möchte daran erinnert werden, dass die Uhr tickt, dass alles ganz schnell zu Ende sein kann. Keiner rechnet wirklich damit, plötzlich abtreten zu müssen, selbst Schwerstkranke klammern sich bis zum letzten Moment an die Hoffnung, dass alles gut werden möge. Der Tod ist nicht planbar.

Ein Grund, das eigene Leben zu ändern? Alles noch einmal tun, was bisher versäumt wurde. Sicher! Aber die eigene Bestattung planen, in Versicherungen einzahlen und seine Todesanzeige prophylaktisch selbst gestalten? Nicht nur das eigene Leben, sondern auch den Trauerfall planen und absichern?

Es würde den Hinterbliebenen nicht helfen, denn die sind es, die zurückbleiben, auch, um das Danach zu gestalten. Nur wie?

Gesellschaftlich festgelegte Rituale der Trauer, die ein Regelwerk oder einen Verhaltenskodex vorgeben, gibt es schon lange nicht mehr. Auch Kondolenzbesuche und viele andere ritualisierte Gesten der Anteilnahme sind genauso Geschichte wie die schwarze Kleidung, das „Trauer tragen“, das Stigmatisiert-Werden für ein ganzes Jahr. Oder anders gesagt die zwölf Monate Auszeit, eine Zeit des Respekts vor Gefühlen von Trauer und Hilflosigkeit. Einem Ausnahmezustand. Einer Zeit des Andersseins, des Leiden-Dürfens.

Grab
Persönlich geschmücktes Grab. Foto: A. Weber

Heute ist die traditionelle Bestattung fast das letzte Ritual für die Hinterbliebenen, den Abschied eines geliebten Menschen zu zelebrieren und zu vollziehen. Wenn sie es nutzen. In der Tendenz sinkt das Interesse daran. Denn die Kirche und der Glaube, Gottesdienste mit Liedern und Gebeten – all dies sind Größen, die vielen fremd geworden sind. Allein im Jahr 2012 traten aus der katholischen Kirche 118.000 Gläubige aus. Ihre Beweggründe sind unterschiedlich. Aber auch die Zahl der Taufen sinkt kontinuierlich. Dabei können christliche Zeremonien helfen. Beim Sortieren, Festigen und Stabilisieren. Sie geben dem Abschied Form und Richtung. Doch wer seine eigenen Rituale erfindet, der braucht nicht unbedingt die Anbindung an eine christliche Gemeinschaft. Helfen kann einfach Raum für die Erinnerung. Im besten Fall ein wirklicher Ort. Ein haptischer, ein echter, einer, der mehr Sinne anspricht als ein Internetportal.

Vielleicht gerade deshalb: der Friedhof lebt. Er wird von den Lebenden gestaltet und verwandelt. Er ist es, der für Trauer und Erinnerung steht. Aber auch für Wandel und Entwicklung. Der Friedhof kann zu einem Ort werden, wo Trauer „gestaltet wird“. Die Zeiten sind vorbei, in denen Stiefmütterchen, Koniferen und Knollenbegonien die Gräber zierten. Wo gesichtslose Einheitssteine, die sich zum Verwechseln ähnelten, das Bild dominierten. Ein Wandel deutet sich an. Grabstätten werden zu Orten, die Geschichten erzählen...

Ob ein Ort zum Trauern geschaffen wird oder nicht, ob eine Grabstätte ausgewählt, ein Stein gesetzt wird, all das bedarf einer bewussten Entscheidung. Wofür er steht, welchen Stellenwert er erhalten soll, liegt in den Händen der Trauernden und Angehörigen.
Dass sich hier etwas verändert ist den Steinmetzen zu verdanken, die etwas vom Handwerk, von Steinen, Schrift und Form verstehen. Trauern heißt sich erinnern. An einen ganz bestimmten Menschen, an das Gemeinsame, das Schöne, das Endliche, das Unerlaubte, das Ungewöhnliche und Besondere.

"Alles, was schön ist,
bleibt auch schön, auch wenn es welkt.
Und unsere Liebe bleibt Liebe,
auch wenn wir sterben."

Ausgerechnet Maxim Gorki, der Anfang des 20. Jahrhunderts eher als Revolutionär denn als Lyriker in die Geschichte einging, war es, der diese Zeilen schrieb.

Es bedarf nicht unbedingt religiöser Motive, um eines geliebten Menschen gedenken zu wollen. Denn Grabstätten oder Grabplätze können auch ganz weltlich sein: Orte für jede Art des Gedenkens: mit Blumen und Steinen, aber auch mit Persönlichem, Geschriebenem und Gemaltem, mit Objekten aus Holz, aus Stoff oder Plüsch. Leuchtendes und Symbolisches, niedergelegt auf den Plätzen der letzten Ruhe, als wären sie genau dafür gemacht. Zur Erinnerung. Auf wenigen Quadratmetern kann dann wieder Leben erwachen. Eine andere Form von Leben. Plätze der Begegnung, Raum für Erinnerungen, Momente, Gebete und Meditationen. Es gibt viele Wege, mit der Trauer zu leben, mit ihr umzugehen. Für manche ist es nicht mehr als das Lesen eines Buches in der Abendsonne – ganz in der Nähe des Verstorbenen.

Die Zeit verändert alles, auch den Blick der Trauernden in die Welt. Grabplätze können zu Blumengärten werden, die den Wechsel der Jahreszeiten beschreiben: Tulpen und Osterschmuck im Frühjahr, später Rosen, Rittersporn und Margeriten. Im Herbst blühen Astern und Zierkürbisse, alles darf wachsen und wuchern. Ein Kommen und Gehen. Wandel und Veränderung leben, heißt Stätten der Begegnung, der Erinnerung, des Abschieds, der Trennung und des Wiederfindens schaffen. Trauer gestalten. An einem lebendigen Ort, der hilft, Trauer und damit Leid und Schmerz zu überwinden und in Lebensmut zu verwandeln.

Für die, die in Trauer sind, die Gefühle oder geliebte Menschen verloren haben, sind Plätze der Erinnerung Orte der Heilung. Oder wenigstens solche der Hoffnung auf Heilung von Schmerz und Starre. „Denn wir haben hier keine bleibende Statt“, liest man in der Bibel. Die Trauer braucht Räume mit Perspektive. Solche, die den Blick auf den Himmel freigeben. Denn dort wohnt die Hoffnung. Manchmal von düsteren Wolken verdeckt, für die Fernando Pessoa die schönsten Worte fand:

"Wolken ohne Schatten,
Auf der Südseite aber,
Ist ein Stückchen Himmel
Traurig blau."

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Grabmale - restaurieren und präsentieren (November 2013).
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