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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Efeukranz und Lilienkelch – Eine psychologische Deutung religiöser Grabmalsymbolik

Autor/in: Anita Halter
Ausgabe Nr. 92, I, 2006 - Februar 2006

Religiöse Symbole auf Grabsteinen sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Bestattungskultur. Mittels dieser Bilder soll die trauernde Seele der Hinterbliebenen Trost finden.

Der nach Erkenntnis und Verständnis strebende menschliche Geist erfährt durch die Botschaft der Symbole eine geistig, religiöse Führung. Die mit Symbolen reich verzierten Grabsteine wurden dieser Aufgabe bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend gerecht. Doch ist uns auch die psychologische Verbindung vom Grabsteinsymbol, sprich dem Tod, zu unserem Leben bewusst?

Dem Gedankengerüst von Carl Gustav Jung folgend wage ich einen Erklärungsversuch: An dem Schnittpunkt zweier verschiedener Seinsebenen kann seinem Wesen nach nur ein Symbol als Bindeglied stehen. Im Symbol vereinen sich Bildbotschaft und Emotion und dadurch wird es dynamisch und hat zwangsläufig Wirkung. Es wird numinos. Das Unbewusste im Menschen teilt sich in Visionen und Träumen mit, beide sind und waren die Hauptquellen unserer Symbolkenntnis. Es ist also das Leben selbst, das die Emotionen und symbolischen Bilder hervorbringt.

Die persönlichkeitsbildenden Zentrierungsvorgänge im Unbewussten, die C. G. Jung Individuationsprozess nennt, werden durch individuelle Symbole in unser Bewusstsein integriert und nähren die Quelle unserer Kreativität. Einige der ewigen universellen Symbole kommen aus dem von Jung sogenannten kollektiven Unbewussten, demjenigen Teil der Psyche, der das gemeinsame psychische Erbe der Menschheit enthält und weitergibt. Alles was wir in der Zukunft sein werden, wird im kollektiven Unbewussten vorbereitet. Es ist in gewisser Weise die Mutter der Zukunft. Das Unbewusste ist Natur schlechthin und darum inhuman. Es bedarf der Kultivierung durch den menschlichen Geist. Mittels der geistigen Reflektion verwandelt sich dieser Naturvorgang in einen Bewusstseinsinhalt. Das endlose Dilemma Kultur/Natur ist im Grunde stets die Frage eines Zuviel oder Zuwenig, kein Entweder/Oder. Der Mensch war noch in keiner Zeit imstande, allein mit den Mächten der Unterwelt, das heißt dem Unbewussten, fertig zu werden. Er bedurfte dazu stets der geistigen Hilfe, welche ihm seine jeweilige Religion gewährte.

Ouroborus
Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, bildet einen Kreis und wird Ouroborus genannt. (Foto: A. Halter)

Religiöse Symbole sind im menschlichen Leben von großer Bedeutung. Nach Jung gibt es einen triftigen, empirischen Grund, weshalb wir wissenschaftlich unbeweisbare Gedanken kultivieren sollten. Sie haben sich nämlich als heilsam für unsere Psyche erwiesen. Der Mensch benötigt unbedingt Vorstellungen und Überzeugungen, die seinem Leben einen Sinn geben und ihn in die Lage versetzen, für sich einen Platz im Universum zu finden. Er kann die unglaublichsten Leiden ertragen, wenn er davon überzeugt ist, dass sie einen Sinn haben. Das Gefühl einer tieferen Bedeutung des eigenen Lebens hebt einen Menschen über das bloße Nehmen und Geben hinaus. Hat man diese Empfindung nicht, fühlt man sich verloren. Die Religionen sind Heilsysteme für die Leiden der Seele. Dem leidenden Menschen hilft nie, was er selbst ersinnt, sondern nur übermenschliche, geoffenbarte Wahrheit kann den leidenden Menschen seines Zustandes entheben.

Der moderne Mensch versteht nicht, wie sehr sein Rationalismus (der seine Fähigkeit zerstört hat, auf numinose Symbole und Ideen zu reagieren) ihn der psychischen „Unterwelt“ preisgegeben hat. Er hat sich selbst vom Aberglauben befreit, wenigstens glaubt er das. Durch diesen Rationalismus hat der Mensch seine geistigen Werte in einem erschreckend hohen Maß verloren. Seine moralische und geistig-seelische Tradition ist zerfallen. Den Preis für diese Auflösung zahlt der Einzelne mit dem Zerfall der sozialen Ordnung und dem Untergang seiner moralischen Werte: „Uns ist nichts mehr heilig, wir haben alle Dinge ihres Geheimnisses beraubt.“ Im Reifeprozess der Psyche müssen wir bewusste Entscheidungen und Lösungen an Stelle des naturhaften Geschehens setzen. So bedeutet jedes Problem die Möglichkeit zu einer Erweiterung des Bewusstseins, zugleich aber auch die Nötigung von aller unbewussten Kindhaftigkeit und Naturhaftigkeit Abschied zu nehmen. Diese Nötigung ist eine so unendlich wichtige seelische Tatsache, dass sie auch einen der wesentlichsten symbolischen Lehrgegenstände der christlichen Religion bildet. Für den Erwachsenen in der zweiten Lebenshälfte ist die beständige Erweiterung des Lebens offenkundig nicht mehr das richtige Lebensmuster. Denn der Abstieg am Nachmittag des Lebens verlangt Vereinfachung, Einschränkung und Verinnerlichung, das heißt also individuelle Kultur. Die Flucht vor dem Leben befreit nicht von dem Gesetz des Alterns und des Todes.

Dem Aufstieg des Lebens billigen wir Ziel und Sinn zu, warum nicht dem Abstieg? Die Geburt des Menschen ist bedeutungsschwanger, warum nicht der Tod? Ein junger Mensch wird zwanzig Jahre und mehr auf seine individuelle Existenz vorbereitet, warum soll sich der alte Mensch nicht zwanzig Jahre und mehr auf sein Ende vorbereiten? Die Mehrzahl der Religionen sind komplizierte Systeme, die der Vorbereitung auf den Tod dienen. Für das Christentum und den Buddhismus vollendet sich der Sinn des Daseins in seinem Ende. Das Leben selbst also ist das Vehikel höchstmöglicher Vollendung. Der geistige Höhepunkt wird zum Schluss des Lebens erreicht. Unter dem Gesichtspunkt des Mysterium Coniunctionis, der geistigen Hochzeit, kann der Tod als freudiges Ereignis gesehen werden. Die Seele erreicht sozusagen die ihr fehlende Hälfte, sie erlangt Ganzheit. Die tiefgreifende psychologische Bedeutung der Symbole auf den Menschen rechtfertigt es, zur Bewusstwerdung, in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gesetzt zu werden. Sich das Wissen, von der allgemeinen Bedeutung der Symbole, hin zur speziellen Deutung eines einzelnen Symbols zu erarbeiten, führt zu einer persönlichen Bereicherung. In meinem Buch „Efeukranz und Lilienkelch“ wird ein Grundwissen über einzelne Symbole vermittelt. Der Alte Friedhof in Freiburg i. Br. ist bekannt für seine reichhaltigen symbolischen Darstellungen auf den Grabsteinen aus dem 18. Jahrhundert.

Literatur:

Anita Halter: „Efeukranz und Lilienkelch“ – Symbole der Hoffnung und Trauer auf dem Alten Friedhof in Freiburg im Breisgau, Freiburg/Brsg. 2005
Manfred Lurker: Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 1988
W. Y. Evanz-Wentz (Hg.): Das Tibetische Totenbuch, Olten, Freiburg i. Br. 1987
Das C. G. Jung Lesebuch, Olten 1983
C. G. Jung: Über die Natur – Das vergessene Wissen der Seele, Düsseldorf, Zürich 1997
C. G. Jung: Grundwerk, Band 6, Olten 1985

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Religiöse Symbolik auf Grabmalen (Februar 2006).
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