Bericht zur Tagung Kulturen der Trauer und des Todes in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Aby-Warburg-Haus, Hamburg, 28. Februar/ 1. März 2025
Der Themenkreis Sterben, Tod und Trauer findet in den Sozial- und Kulturwissenschaften zwar vermehrt Beachtung, Gelegenheiten zum wissenschaftlichen Austausch im Rahmen der Präsentation aktueller Forschungsergebnisse sind indes weiterhin selten. Schon deshalb war die Jahrestagung des Arbeitskreises Thanatologie der Sektion Wissenssoziologie innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ein wichtiger Treffpunkt für Wissenschaftler:innen, die sich mit der Endlichkeit des Lebens auf die eine oder andere Weise beschäftigen. Sie bestach diesmal durch eine transdisziplinäre Ausrichtung. Neben Thorsten Benkel vom AK war das Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Hamburg, verkörpert durch Norbert Fischer, für die Tagungsorganisation zuständig. Diese Kooperation ermöglichte die Nutzung wunderschöner Veranstaltungsräumlichkeiten im ehrwürdigen Warburg-Haus in Hamburg. Im Ergebnis entstand ein Meer historischer und aktueller Perspektiven auf Endlichkeitsthematiken, die von der wieder in Mode gekommenen Seebestattung bis zu den Temperaturen des Todes reichten.
Den Anfang machte Norbert Fischer (Universität Hamburg), der das Ritual der Seebestattung hinsichtlich neuerer Wandlungsprozesse vorstellte. Bei dieser Beisetzungspraktik werde nicht nur der geschlossene Raum des Friedhofs überschritten, sondern auch eine Synthese mit der Natur eingegangen. Historisch betrachtet, seien Seebestattungen stets Körperbestattungen gewesen, die in der Not vollzogen worden, wenn sich Todesfälle auf See ereigneten. Gegenwärtig würden Seebestattungen als Form der Urnenbestattung in Norddeutschland immer beliebter. Anknüpfungspunkte für eine zeitdiagnostische Perspektive bietet der Umstand, dass dabei Beisetzungs- und Gedenkort auseinanderfallen. Hier zeichnet sich eine Transformation der räumlichen Muster funeraler Praktiken ab.
Inhaltlich anknüpfend thematisierte Jana Paulina Lobe (Universität Bamberg) aktuelle Entwicklungen auf dem Bestattungsmarkt. Anhand von qualitativen Interviews mit Bestatter:innen rekonstruierte sie eindrücklich, wie sich die ökonomische Ausrichtung in diesem Dienstleistungsbereich wandelt. Demnach böten alternative Dienstleister sepulkrale Konsumgüter unter ökologischen Gesichtspunkten an, die sich an den Nachhaltigkeitsbedürfnissen von Kund:innen aus jüngeren Alterskohorten orientieren. Die ökonomische Grundausrichtung des Gewerbes werde somit von neuen ethischen Orientierungen durchdrungen, bleibe als solche indes bestehen.
Dem schloss sich ein Themenwechsel an, der die Tagung für alle nachfolgenden Diskussionen prägte: Mirco Spiegel (TU Dortmund) referierte über "Techniken des Weiterlebens" im Hinblick auf künstliche Intelligenz. Auch er begann mit einem historischen Bezugspunkt: Schon die Séancen oder das Ouija-Brett, also Bretter mit Buchstaben und Zahlen, die bei solchen Sitzungen verwendet wurden, seien auf
die Repräsentation von Toten ausgerichtet gewesen. Die Möglichkeiten, Verstorbenen eine Präsenz - über die reine Imagination hinaus - zu geben, erweiterten sich nun mithilfe digitaler Techniken, die wiederum neue Kraft durch den Einsatz von KI entfalteten. So können heute Avatare kreiert werden, die auf der Basis von Trainingsdaten verstorbene Personen nachahmen und sich (im Falle generativer KI)
auch weiterentwickeln. Wie sich dadurch der Umgang mit dem Tod und mit den Toten verändert, sei indes, so Spiegel, noch eine offene Frage; gleichermaßen würfen der ontologische Status der Repräsentationen und ihre begriffliche Festschreibung sozialwissenschaftliche Herausforderungen auf. Der Vortrag integrierte technische Entwicklungen und ihr weitreichendes Potenzial in die wissenschaftliche Perspektivierung der Endlichkeitsbewältigung. Wie sehr das den Nerv der Zeit trifft, zeigten die formellen und informellen Diskussionen im weiteren Tagungsverlauf, die immer wieder auf Spiegels Thesen und den Einfluss von KI (auf Tod und Leben) zurückkamen.
Gleichermaßen der Medialität verpflichtet war der Vortrag von Ekkehard Coenen (Bauhaus-Universität Weimar). Er zeichnete nach, wie sich das Wissen über den Tod, welches stets kommunikativ vermittelt und hergestellt werde, wandelt, wenn unterschiedliche Medientypen involviert sind. Demnach habe der Buchdruck einer inneren, subjektiven Auseinandersetzung mit dem Tod Vorschub geleistet. Dagegen hätten Film und Fernsehen einer außenorientierten Todesreflexion den Boden bereitet, weil der entsprechende Rezeptionsmodus passiv ausgerichtet sei. Digitale Medien hätten schließlich dazu geführt, Sterben, Tod und Trauer auf Distanz zu halten, wenn beispielsweise digitale Trauerforen zur Bewältigung von Endlichkeitserfahrungen aufgesucht würden. Auch diese Perspektive mündete in eine Gegenwartsdiagnose: Coenen plausibilisierte, dass hybride Formen des Umgangs mit dem Tod, die durch die jeweiligen Vermittlungs- und Verbreitungsmedien als Gegenstand des Wissens hervorgebracht werden, mittlerweile vorherrschen.
Nicht nur einen thematischen, sondern auch einen thermischen Wechsel vollzog Matthias Meitzler (Eberhard Karls Universität Tübingen), der sich dem Verhältnis von Tod und Temperatur soziologisch annäherte. Dazu rekonstruierte er zunächst temperaturbezogene Metaphoriken in klassischen Schriften, etwa das "Cooling out" in den Interaktionsanalysen Erving Goffmans. Außerdem fokussierte er Emile Durkheim, der über sprachliche Stilmittel hinaus Zusammenhänge zwischen jahreszeitlich bedingter Wärme und Selbstmordraten erkundet habe. Der Kern des Vortrags war allerdings dem Tod und seinen temperaturbezogenen Transformationen gewidmet. So führte Meitzler den Klimawandel als Beispiel für thermisch bedingte Gesellschaftsveränderungen an, die z.B. mit Migrationsbewegungen assoziiert sind.
In einem thermisch-bildersprachlichen Sinne wurde es "heiß", als Meitzler auf den Temperaturwechsel des sterbenden und toten Körpers einging. In einem Mosaik von Beispielen präsentierte er u.a. spontane Selbstentzündungen, durch Temperatur beeinflusste Verwesungsprozesse und die maschinelle Herstellung von Aschediamanten. Der Vortrag zeigte eindrücklich, dass die mannigfaltigen Verbindungen zwischen Gesellschaft, Tod und Thermik ein ungehobener Schatz der Soziologie sind. Neurowissenschaftlich ausgerichtet schloss Paula Muhr (Brand University of Applied Sciences Hamburg) an, indem sie Studien zu Bewusstseinsprozessen während des Sterbens einordnete. Zunächst stellte Muhr die Veränderungen der Kriterien zur Todesfeststellung vor, die sich vom Herz- zum Hirntod entwickelten, wobei immer noch länderspezifische Unterschiede bestünden. Welche Bewusstseinszustände sich beim Sterben vollzögen, auch in der Hirntodrahmung, sei indes weiterhin un- geklärt. Nahtoderfahrungen plausibilisierten Bewusstseinsprozesse beim Sterben; Betroffene berichteten von entsprechenden Erfahrungen. Auch Tierversuche legten solche Schlüsse nahe, allerdings sei mit ihnen die Problematik der Übertragung auf Menschen verbunden. Anschließend präsentierte Muhr drei EEG-Studien, deren komplexe mathematische Auswertungen nicht nur Gehirnaktivität nachweisen, sondern darüber hinaus eine Konnektivität zwischen unterschiedlichen Arealen des Organs zeigten. Inwiefern damit tatsächlich Bewusstsein einhergehe, sei aber noch nicht eindeutig belegbar. Muhr fordert mit ihren Deutungen dieser Forschungsergebnisse die - auch wissenschaftliche - Vorstellung vom Sterben heraus. Es gehe nicht mit einem einfachen Verlust von Gehirnaktivität einher, was in der Konsequenz weitreichende Folgen für den Umgang mit Sterbenden haben kann.
Im Anschluss bewältigte Nicole Kirchhoff (Universität Bielefeld) den Übergang von der kulturwissenschaftlichen Perspektivierung der Neurowissenschaft zur soziologischen Vereinnahmung der Medizin. Sie referierte über den "Präp"-Kurs, den Medizinstudierende im Rahmen ihrer Ausbildung absolvieren. Dabei werden sie konkret mit dem Tod in Form von Leichen konfrontiert. Zunächst situierte Kirchhoff ihr Forschungsinteresse in der soziologischen Rekonstruktion der herausgeforderten studentischen Lebenswirklichkeiten. Dann erläuterte sie die Datenerhebung: Sie bat Studierende, ihre Erfahrungen während des Kurses in Memos festzuhalten. Insbesondere präsentierte sie den Fall eines begabten Studenten, dessen Memos weitreichende Einblicke in phänomenologische Aspekte und Übergange geben. Geruch, Haptik und kognitive Einordnungen wurden somit aus einer Erlebensperspektive anschaulich gemacht. Am Ende des Vortrags vertiefte Kirchhoff noch ein Artefakt der Fallanalyse, eine Körperdarstellung, die ästhetisch an den "Pernkopf-Atlas" ange- lehnt ist, dessen Visualisierungen auf Anschauungen von toten Personen basierten, welche dem Nazi-Regime zum Opfer gefallen seien. Dieses Datenmaterial und seine Einordnungen zeigten auf, welche Potenziale eine transdisziplinäre Perspektive diesbezüglich entfalten kann.
Wie weit ein soziologischer Blick auf Berufsfelder tragen kann, die in keinem Nahverhältnis zu den Sozialwissenschaften stehen, offenbarte auch der Abschluss der ersten Tagungsrunde. Thorsten Benkel (Universität Passau) präsentierte bildgewaltiges Datenmaterial - dem er pflichtbewusst eine Triggerwarnung voranstellte - aus seinen Feldforschungen zur Obduktion, die er u.a. mit Matthias Meitzler durchgeführt hatte. Dabei zeichnete er den ethnografischen Prozess in einem todesbezogenen Feld nach, zu dem Nicht-Mediziner:innen üblicherweise kaum Zugang erhalten. Spezifika hätten sich in den beständigen Legitimierungsnotwendigkeiten gezeigt und in der Adressierung der Forschenden als Laien, deren Relevanzen ignoriert werden. Die Attitüde der künstlichen Dummheit, die Ronald Hitzler für teilnehmende Beobachtungen empfehle, habe es schließlich ermöglicht, weitreichende Informationen über das Feld, seine medizinische Dimension, aber auch seine interaktionale Verfasstheit zu sammeln. Der Vortrag vereinte visuelle Eindrücke mit der ethnografischen Rekonstruktion der Besonderheiten eines Feldes, in dem der objektivierende Umgang mit toten Körpern zentral ist. Er demonstrierte folglich, welche Herausforderungen, aber auch Potenziale es birgt, wenn Ethnograf:innen Zugänge zu Berufsgruppen finden, die den Tod in einem gänzlich anderen Sinnsystem bewältigen.
Den zweiten Tag eröffnete Wibke Nissen (Universität Hamburg) mit einem historisch-geografischen Bezug zum Tod. Sie beschrieb die mannigfaltigen Lebens- und vor allem Sterbewirklichkeiten in Dithmarschen zwischen 1870 und 1950. Unfälle, Krankheiten und Suizide hätten zu einer hohen Mortalität geführt, die auch mit defizitärer Hygiene, mangelnder medizinischer Versorgung und schlechten Ernährungsbedingungen verbunden war. Nissen betonte, dass die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit in starkem Kontrast zur Gegenwart stehe. Dabei hätten Morde eine signifikante Rolle gespielt, die den prekären Lebensbedingungen von Frauen geschuldet gewesen seien, welche sich durch das Vorhandensein von Kindern noch weiter verschärften. Auch das Ertrinken in den Marschen und auf See habe das Sterben geprägt. Auf Grundlage von Kirchenbüchern, Sterbebüchern und Medizinalberichten zeichnete der Vortrag ein lebendiges Bild vom historischen Sterben im Norden und rückte die Gegenwart so in ein freundlicheres Licht.
Daran schloss der Vortrag von Nina Janz (Universität Luxembourg) an, der gleichermaßen historisch orientiert war, aber schwierige Bezüge zur Gegenwart offenbarte, wie die anschließende Diskussion zeigte. Janz referierte über den "Umgang mit gefallenen Wehrmachtssoldaten während des Zweiten Weltkriegs". Zunächst ging sie auf die Umbenennung des "Volkstrauertages" in "Heldengedenktag" ein, die 1934 durch die Nationalsozialisten stattfand und der Etablierung eines Opfernarrativs Vorschub leistete. Dieses Propagandieren des Todes habe sich während des Zweiten Weltkriegs noch verschärft. Sowohl die Todesbenachrichtigungen von gefallenen Soldaten als auch Bilder von Friedhöfen für Gefallene in Frontnähe wurden im Sinne der Zuschreibung eines "Heldenstatus" instrumentalisiert und sollten der befürchteten Kriegsmüdigkeit entgegenwirken. Der Vortrag zeigte, wie sehr die Inszenierungsmöglichkeiten, die mit dem Tod verbunden sind, ideologisch ausgebeutet werden können.
Manuel Bolz (Universität Göttingen) finalisierte die Tagung (die am zweiten Tag einen ausgefallenen Vortrag hatte) mit thematischem Bezug zur geografischen Situierung der Veranstaltung selbst, indem er sich des Vergnügungsviertels St. Pauli annahm. Auch er wählte einen historischen Bezugspunkt und ging auf die sogenannten "Ludenkämpfe" der 1970er- und 1980er-Jahre ein, die das Viertel und die mediale
Öffentlichkeit in ihren Bann zogen. Über bildliche Repräsentationen der Ereignisse sei ein "misery porn" entstanden, der Schrecken und Faszination ausgelöst habe. Das sei vor allem den Protagonisten dieser Zeit geschuldet gewesen, die sich mit Statussymbolen in Szene gesetzt hätten und biografisch recht verlässlich zunächst den Aufstieg und dann den totalen Absturz durchexerzierten. "Corvetten-Peter" und Co. hätten das Milieu der Sexarbeit und die Schlagzeilen dominiert und seien folglich Projektionsflächen unterschiedlicher Zuschreibungen gewesen. Im Verlauf dieser bewegten Zeiten habe sich eine "Gefühlsstruktur" herausgebildet, in der Angst und Unsicherheit dominant gewesen seien. Der Vortrag belegte anschaulich, wie sehr Emotionen einerseits mit geografischen Verankerungen andererseits einhergehen können und wie sehr sie historischen Entwicklungen unterworfen sind.
Nach dem offiziellen Tagungsende beschenkte Norbert Fischer zahlreiche Interessierte noch mit einer grandiosen Führung über den Friedhof Ohlsdorf. Dabei stand die Nutzung des Areals ebenso im Vordergrund wie interessante Gräber und die historischen Veränderungen der Repräsentationen des Todes auf dem "Totenacker".
Der Arbeitskreis Thanatologie ließ es sich danach nicht nehmen, weitere geografische Bezugspunkte der Tagung aufzusuchen und eigenständige "Recherchen" durchzuführen. Die Tagung war sowohl wissenschaftlich als auch lebensweltlich von Vielseitigkeit sowie einem Engagement für die Wissenschaft und ihre Menschen geprägt.