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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Pilzlandschaft Ohlsdorfer Friedhof - eine Erkundung

Was tun, wenn einem die Welt in Stücke geht? Ich gehe spazieren, und wenn ich sehr viel Glück habe, finde ich Pilze (Anna Tsing).

Viele Menschen sind in den Sommer- und Herbstmonaten in den Wäldern unterwegs, um allseits bekannte Speisepilze wie den Steinpilz, die Pfifferlinge oder die Maronen zu sammeln. Die meisten von ihnen kämen kaum auf den Gedanken, einen Friedhof in die Liste ihrer Suchgebiete aufzunehmen. Ein Parkfriedhof wie Ohlsdorf aber zeichnet sich als Pilz-Suchgebiet besonders aus: die Mischung aus kleinen Wäldchen, ungedüngten, aber regelmäßig gemähten Wiesen- und Rasenflächen, Baumsolitären und -alleen begünstigt ein artenreiches Pilzwachstum.
Auf dem Ohlsdorfer Friedhof findet sich ein sehr interessanter Baumbestand, der viele der wichtigsten Pilz-Partnerbäume umfasst, denn bei der erfolgreichen Pilzsuche gilt es, einige Regeln zu kennen und zu beachten: Viele Pilze sind gebunden an einen bestimmten Baumpartner, sie sind sogenannte Mykorrhiza-Pilze, die mit ihrem Baumpartner eine Symbiose eingehen. Die bevorzugten Partner sind Eichen, Buchen, Kiefern, Fichten, Weißtannen, Lärchen und Birken. Gerade diese Bäume lassen sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof zahlreich finden. Auf dem sandigen Boden gedeihen besonders Birken, Stiel- und Wintereichen, Waldkiefern, sowie Rot-, Weiß- (Hain-) und Blut-Buchen. Vereinzelt sind Lärchen und Eschen zu finden. Neben diesen einheimischen Baumarten wachsen hier auch zahlreiche nicht-heimische Arten wie Mammutbäume, Zedern oder Douglasien.


Schopftintling (Coprinus comatus; alle Fotos in diesem Beitrag: S. Zander) (1)

Manche Pilze leben parasitär, das heißt, sie befallen tote oder auch lebende, bereits geschwächte Bäume und schädigen sie. Man findet sie auf Stümpfen oder gerne auch im Wurzelbereich der Bäume. Zu diesen Pilzen gehört z.B. der auf dem Ohlsdorfer Friedhof vorkommende Dunkle Hallimasch (Armillaria ostoye). Wieder andere Pilze zersetzen organisches Material wie Äste, Laub oder Gräser.


Birnenstäublinge (Apioperdon pyriforme) (2)

Die Pilze, die wir beim Spazierengehen entdecken, sind nur der sichtbare Teil des unterirdischen Pilzorganismus, des aus Hyphen bestehenden Myzels. Die überirdisch wachsenden Fruchtkörper dienen mit Hilfe der von ihnen gebildeten Sporen der Vermehrung und Verbreitung des Pilzes. Das Sporenpulver kann weiß, creme, gelblich, rosa, braun oder sogar schwarz sein. Doch damit nicht genug: Es gibt neben den bekannten Röhren-, Leisten- und Lamellenpilzen u.a. noch die sogenannten Bauchpilze, die ihre Sporen gut geschützt im Innern der Fruchtkörper bilden. Auch von ihnen lassen sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof eine ganze Reihe von Beispielen finden. Genannt seien hier der Birnenstäubling (Apioperdon pyriforme) oder die Erdsterne.
Pilze können Menschen, Tieren und Pflanzen sowohl nutzen als schaden. Mit ihrem Myzelgeflecht helfen sie den Bäumen und geben ihnen Mineralstoffe, Stickstoff und Phosphor, dafür erhalten sie Zucker. Andere Pilze schaden den Bäumen und bringen sie zum Sterben wie z.B. der bereits erwähnte Hallimasch und der Riesenporling (Meripilus giganteus), der Schwefelporling (Laetiporus sulphureus), der Schiefe Schillerporling (Inonotus obliquus) oder der Birkenporling (Piptoporus betulinus). Die beiden letzteren gelten andererseits als Heilpilze mit vielfältiger Wirkung - sie alle sind auf Ohlsdorfer Friedhof zu finden.


Riesenporling (Meripilus giganteus) (3)

Schwefelporling (Laetiporus sulphureus) (4)

Die Faszination, die Pilze ausüben, liegt u.a. in ihrer vielgestaltigen Anmutung und ihrer Farbigkeit. Die Hüte können körnig, glatt, schmierig-schleimig, wachsartig, fest oder brüchig sein. Die Stiele sind bei manchen Pilzen fest und bauchig, bei anderen dünn und faserig. Die meisten kommen in Schattierungen von Braun bis Beige vor, sind also eher schlicht und unauffällig gefärbt. Manche aber überraschen mit auffälligen Farben. Sie sind grün, gelb, blau, violett oder rot, einige - wie der Papageiensaftling - sind sogar bunt.


Saftling (Hygrocybe spec.) (5)

Andere Pilze verfärben sich bei Druck oder bei Verletzung: Der Perlpilz z. B. rötet, der Hexenröhrling blaut.
Vor allem aber ist die Suche nach Pilzen ein Vergnügen. Bei den weit über hundert Arten, die auf dem Ohlsdorfer Friedhof vorkommen, weiß der Suchende nie im Voraus, was er finden wird, und begeistert sich über jeden Fund. Nach dem Finden kommt die Freude an der Bestimmung des Pilzes, werden Bücher gewälzt, die einzelnen Merkmale geprüft, um am Ende - wenn es gut läuft - dem Fund einen Namen geben zu können. All das macht die nicht enden wollende Freude an der Pilzsuche aus - wenn man es nicht ausschließlich auf die bekannten Speisepilze abgesehen hat. Nicht jedes Jahr erscheinen die Pilze zuverlässig, ihr Wachstum ist abhängig von vielen Bedingungen, vor allem auch vom Wetter.
Wer Pilze sucht, hält sich in der Natur auf. Schon von weitem kann der Spaziergänger Pilzsuchende in den Alleen, etwa der Cordesallee oder der Kapellenstraße, erkennen. Auch auf den Rasenflächen und in den Bereichen, die durch kleine Wege erschlossen werden, sind die Suchenden zu finden: Ihr Blick ist auf den Boden geheftet, die Schritte sind langsam und wohlüberlegt gesetzt, meistens ist ein Korb dabei. Mit voller Konzentration wird der Boden mit den Augen abgetastet und auf den Fund eines Pilzes gehofft. Achtsam muss gegangen werden, um kleine Pilzchen nicht zu zertreten. Und die Umgebung wird beim Sammeln und Suchen intensiv wahrgenommen. Auch das trägt zum Vergnügen bei!
Auf der Suche nach den Pilzen mäandert der Suchende über den Friedhof. Es ist schwer, den Alleen und Nebenwegen oder einem vorher überlegten Spaziergang konsequent zu folgen. Immer wieder leuchtet ein Pilz auf, verlässt man den Weg und taucht ein in die einzelnen, oft von Rhododendronbüschen begrenzten Grabkompartimente, folgt verschlungenen Nebenpfaden oder wird von bestimmten Bäumen wie Birken oder Lärchen angezogen.
Der Herbst ist die Hoch-Zeit der Pilze. Aber bereits im Frühjahr lassen sich erste Pilze auf den Wiesen finden, z. B. die kleine zarte und vergängliche Hasenpfote (Coprinopsis lagopus). Im April erscheinen die ersten Mairitterlinge (Calocybe gamabosa), oft in großen Hexenringen. Ihnen gleich tun es die Nelkenschwindlinge (Marasmius oreades), die von April bis November ebenfalls in großen Ringen erscheinen und wie die Mairitterlinge essbar sind.


Bodenbeckende Pilzchen (6)

Hexenring des Nelkenschwindlings (Marasmius oreades) (7)

Ziegelroter Schwefelkopf I (Hypholoma lateritium) (8)

Ziegelroter Schwefelkopf II (Hypholoma lateritium) (9)

Verlässlich erscheint fast ganzjährig der farbenfrohe Grünblättrige Schwefelkopf (Hypholoma fasciculare) mit seinen grünlichen und schwefelgelben Farben, während der Ziegelrote Schwefelkopf (Hypholoma lateritium) rot leuchtet und auf dem Ohlsdorfer Friedhof dichte Büschel bildet. In der Cordes-Allee lässt er sich sogar unter den Rhododendronbüschen entdecken.
Im Sommer nimmt die Vielfalt dann entschieden zu. Es erscheinen die Täublinge, deren Hutfarben in allen Schattierungen von Rot, Violett, Blau, Grün, Gelb, Ocker, Braun und Creme leuchten. Zu finden sind u.a. der essbare Frauentäubling (Russula cyanoxantha), der Speisetäubling (Russula vesca) und viele andere. Zu den sogen. Sprödblättlern gehören neben den Täublingen auch die Milchlinge. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof lässt sich neben vielen anderen Arten der an die Fichte gebundene Fichtenreizker (Lactarius deterrimus) mit seinem orangenen, grünfleckigen Hut finden.


Fichtenreizker (Lactarius deterrimus) (10)

Roter Lacktrichterling (Laccaria laccata) (11)

Auch die auffallend gelben Pfifferlinge (Cantharellus cibarius) erscheinen ab Juni in guten Jahren in großer Zahl auf dem Ohlsdorfer Friedhof, genauso wie die begehrten Sommersteinpilze (Boletus aestivalis).
Aber auch Besonderheiten wachsen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Selten sind die auf bestimmten Rasenflächen wachsenden Saftlinge, die nur kleine Fruchtkörper bilden, die aber mit ihren gelben und kirschroten Farben bei sorgfältiger Suche auffallen. Sie sind geschützt und dürfen nicht gesammelt werden.
Im Herbst dann füllen sich die Waldböden mit vielen Pilzen und auch auf dem Ohlsdorfer Friedhof nimmt die Artenvielfalt zu. Die roten und violetten Lacktrichterlinge (Laccaria laccata und amethystina) zaubern Farbe auf den Waldboden.


Violetter Lacktrichterling (Laccaria amethystina) (12)

Kahler Krempling (Paxillus involutus) (13)

Gleich am Beginn einer Wanderung Ende September stößt man am Anfang der Kapellenstraße auf eine große Gruppe von Pilzen in verschiedenen Wachstumsphasen, viele von ihnen sind umgestoßen, absichtlich oder achtlos. Es handelt sich um Kahle Kremplinge (Paxillus involutus).
Der Pilz ist sehr häufig aufzufinden und ist nicht zum Verzehr geeignet. Ebenfalls in dichten Büscheln erscheint der essbare Büschelrasling (Lyophyllum decastes), dessen Hut glänzt und biegsam elastisch ist. Ein paar Schritte weiter, ganz in der Nähe seines Baumpartners, der Lärche, finden sich unzählige farbenfrohe Fruchtkörper des Goldröhrlings (Suillus grevillei). Es handelt sich um einen Schmierröhrling, dessen Hut feucht schleimig ist und der deshalb wunderschön glänzt. Dieser Pilz ist ebenso wie der vor allem bei Kiefer wachsende Butterpilz (Suillus luteus) ein Röhrling.
Andere auf Ohlsdorf wachsende Röhrlinge sind u. a. der in der Wahl seines Baumpartners weniger wählerische Netzstielige Hexenröhrling (Suillellus luridus), der Pfefferröhrling (Chalciporus piperatus), der Hasenröhrling (Gyroporus castaneus), die Ziegenlippe (Xerocomus subtomentosus), der Rotfußröhrling (Xerocomus chrysenteron) und die Marone (Imlaria badis) und natürlich der Fichten- (Boletus edulis) und der Kiefernsteinpilz (Boletus pinophilus). In die Reihe gehören auch der Birkenraufuß (Leccinum scabrum) und der Hainbuchenraufuß (Leccinellum pseudoscrabum). Ihre Baumpartner sind bereits durch die Namen der Pilze erkennbar.


Butterpilz (Suillus luteus) (14)

Rotfußröhrling (Xerocomellus chrysenteron) (15)

Goldröhrling (Suillus grevillei) (16)

Essbare Pilze, die auf dem Ohlsdorfer Friedhof häufig vorkommen, sind neben den bereits erwähnten Röhrlingen der rötende Perlpilz (Amanita rubescens) und der Graue Wulstling (Amanita excelsa). Aus der gleichen Familie der Wulstlinge stammen der hochgiftige Grüne Knollenblätterpilz (Amanita phalloides), der ebenso giftige Pantherpilz (Amanita pantherina) und der Fliegenpilz (Amanita mus-
caria).


Grüner Knollenblätterpilz (Amanita phalloides) (17)


Fliegenpilz (Amanita muscaria) (18 und 19)


Pantherpilz (Amanita pantherina) (20 und 21)

Der Pantherpilz mit seinem kastanienbraunen und mit weißen Velumflocken besetzten Hut und der auffallend rote, ebenfalls mit Velumflocken verzierte Hut des Fliegenpilzes bilden malerische Gruppen, die immer ein schönes Fotomotiv abgeben.
Ungewöhnlich geformte Pilze sind die Herbstlorchel (Helvella crispa) und die Elastische Lorchel (Helvella elastica) - auch sie wachsen auf dem Ohlsdorfer Friedhof, ebenso wie das gummiartige Gallert-Käppchen (Leotia lubrica) oder die Gemeine Hundsrute (Mutinus caninus). Im Frühling lässt sich mit Glück sogar die giftige Frühjahrslorchel (Gyromitra esculenta) finden. Auch der Wetterstern (Astraeus hygrometricus) oder der Kragen-Erdstern (Geastrum striatum) erscheinen im Herbst.




Herbstlorchel (Helvella crispa), Kragen-Erdstern (Geastrum striatum) und Judasohr (Auricularia auricula-judae) (22-24)

Selbst im Winter lohnt sich ein Gang über den Ohlsdorfer Friedhof. Jetzt richtet sich der Blick des Suchenden nicht mehr so sehr auf den Boden, als auf die Bäume und die Baumstümpfe. Mit viel Glück findet man z. B. die Judasohren (Auricularia auricula-judae) und eine Vielzahl an Trameten oder die essbaren Samtfußrüblinge (Flammulina veluptides).
Am Ende des Spazierganges danke ich Anja für das freundlichen Teilen ihrer Ohlsdorfer Pilzfundliste und auch für das passende Schlusswort: Ohlsdorf ist eine Fundgrube für Pilze.

Anmerkung der Redaktion: Das Zitat am Anfang stammt aus dem Buch von Anna Lowenhaupt Tsing "Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus", Berlin 2018.

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