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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Lichte Erkenntnisse auf dem Cimitero di Minori

Der "Sentiero dei Limoni" ist ein Wanderweg an der Amalfiküste, über den die beiden Badeorte Maiori und Minori miteinander verbunden sind - bei den einen Ausflüglern liegen Anfang und Ende in jenem und diesem, bei den anderen in diesem und jenem.


Blick auf Höhenzug und Strandbad von Maiori

Als phantastischer Pfad einer sich nahezu mit jedem Schritt vollziehenden Verwandlung entrollt sich vor dem in der Erwartung einiger Anstrengungen, aber auch ihrer Entlohnung unter hochsommerlicher Himmelsglut Wandernden der "Sentiero dei Limoni", der Zitronenweg zwischen den an der Amalfiküste gelegenen Badeorten Maiori und Minori: Sonnenerwärmte Steine dienen den wechselwarmen Eidechsen und Geckos als natürliches Solarium. Manchenorts liegt in den mit Wein, Oliven und Zitronen bewachsenen Hainen eine abgestreifte Schlangenhaut da, derer sich ihre spaltzüngelnde Inhaberin entledigte und aus der sie, ihr entschlüpft, neuerlich hervorging. Am Hang aufgestellte, teils umgestürzte, teils entwendete Plastik- und Tonfiguren gruppierten sich, von den Schwingen des noch anwesenden Verkündigungsengels beschirmt, einst um Gott, wie er sich liebend als neugeborenes Krippenkind seinen Menschengeschöpfen offenbart.


Weintrauben

Sonnenbadende Echse

Schlangenhaut

Verwaiste Krippe

Den alsbald durstigen Fremden lächeln Hausfrauen mit dem zur Rekreation einladenden Gruß "Salve" zu und halten ihnen einen gar nicht säuerlichen Saft bereit, aus jenen Früchten frisch gepresst, welche dem Weg einst seinen Namen gaben. Und auch der ihn unter hochsommerlicher Sonnenglut Beschreitende durchlebt ob dieser Natur- und Kulturerscheinungen, die seinen Gang säumen, eine veritable Veränderung ganzheitlicher Güte: er bewältigt merkliche Höhenmeter, die zurückzulegen ihm körperliche Anstrengung bedeutet, er erfährt unverhofft hier und da auch die heilsame Labung von Körper, Geist und Seele, er wird vielfältiger Erscheinungs- und Wandlungsformen der belebten Umwelt ansichtig - des Gestaltannehmens und Gestaltwandels, vom Gewordensein über dessen Vergehen zum Gewesensein; er wird sich schließlich, staunend und still, der Weite von des Schöpfers Ideenreichtum im Gegensatz zur Enge seines eigenen Gesichtskreises, aber auch gewisser Dehnbarkeit seiner Erkennensgrenze bewusst.

Henry David Thoreau, den der norwegische Bergsteiger Erling Kagge in seinem Text "Gehen. Weiter gehen"1 neben Diogenes, Sokrates, Charles Darwin, Søren Kierkegaard, Albert Einstein und Steve Jobs als "denkende Geher" und "gehende Denker" anführt, schildert Gelegenheiten zu einer solchen Veränderung, wie sie die Erfahrung von Natur eröffnet, aber auch Hindernisse, sich ihr vollends hinzugeben:

"Während meiner nachmittäglichen Wanderung möchte ich am liebsten [...] meine gesellschaftlichen Verpflichtungen vergessen. Doch manchmal geschieht es, dass ich das [...] nur schwer abschütteln kann. Der Gedanke an irgendeine Aufgabe geht mir durch den Kopf, und schon bin ich nicht mehr dort, wo mein Körper ist - ich bin nicht mehr bei Sinnen. Auf meinen Wanderungen aber möchte ich zu Sinnen kommen."2

Weiter stellt er apodiktisch fest:

"Vor allem können wir es uns nicht leisten, nicht in der Gegenwart zu leben. Der ist der Gesegnetste unter allen Sterblichen, der keinen Augenblick des flüchtigen Lebens damit verliert, der Vergangenheit nachzuhängen."3

Doch da erreicht, den Zitronenpfad hinter sich gelassen, der Wanderer unvermittelt einen Ort, welcher eigens dafür vorgesehen ist, dem Vergänglichen und durchaus Vergangenen sehr wohl "nachzuhängen". Hoch über "der kleinen" der beiden Gemeinden, himmelwärts, liegt der "Cimitero Comunale", der Friedhof der "Comune di Minori". An dessen zweiflügeligem Eingangstor prangt auf beiden Seiten jeweils ein martialischer Totenschädel über gekreuzten Knochen - eines der Vanitas-Symbole schlechthin. Das dunkle Eisen, aus dem das Flügeltor gefertigt ist, intensiviert den düsteren, grimmigen Eindruck der skelettierten Köpfe, deren lebendig wirkende Augenhöhlen ihrerseits einiges hierfür tun. Dabei besteht ihre Aufgabe doch bloß darin, die Eintretenden zu gemahnen:

"Memento mori! Gedenke deiner eigenen Verweslichkeit!"


Schild mit Öffnungszeiten

Friedhofstor

Totenkopf

Das Motiv der Verwandlung ruft sich dem Wandernden auch hier in Erinnerung, wenngleich er beim Anblick der porzellanen Konterfeiplaketten für die Verstorbenen und ihrer applizierten Lebensdaten durchaus der "Vergangenheit nachhängt", die er nicht oder in anderen Sphären erlebt hat. Das Jesuswort "Lass die Toten ihre Toten begraben" weht heran, verflüchtigt sich aber beim Gang über den Friedhof rasch. Hier haben Lebende ihre Toten begraben und beigesetzt - und zwar mit Bedacht.

Wie auf vielen anderen Friedhöfen Italiens, bergen auch in Minori Grabfelder und Liegeflächen flankierende Kolumbarien zahlreiche sterbliche Überreste. Kremiert und in Urnen konserviert ruhen diese in den "loculi", den Nischen, die mit Steinplatten verschlossen sind.

Bezüglich ihrer Verortung im Jenseits mag der Ausspruch "Durch Nacht zum Licht" für die hier Beigesetzten nicht gelten, "leuchtet" ihnen doch im Diesseits, nämlich an den meisten Urnenkammern und Grabstellen, jeweils ein gleichsam "ewiges Licht" mit elektrisch erzeugter Strahlkraft und von schier nie endender Brenndauer - ununterbrochen, und das sogar am hellichten Tag im Hochsommer und überdies angesichts kriegsbedingter Energieknappheit.

Ein solches Licht darf augenscheinlich selbst an gerade geschlossenen Gräbern, die noch über keine Einfassung verfügen, nicht fehlen. Unbeirrt leuchtend zeigt es eine zuletzt angelegte letzte Ruhestätte an.


Neues Grab mit elektrischem Grablicht

Blick hinter die Kulisse - elektrische Anschlüsse, Stromversorgung

Beliebt scheint die Kombination aus Grablampe und Grabvase zu sein, deren numerische Auswahl gern symmetrischen und damit klassischen Gesichtspunkten Rechnung trägt. So rahmen hier und da zwei Vasen eine zentriert angebrachte Lampe ein.



Front einer bedachten Urnenwand mit Ensemble von Grabvasen und Grablampe


Urnenwände genutzt und ungenutzt

Die Internetpräsenz des Bundesverbands Deutscher Bestatter e.V. vermerkt zu solchen ästhetischen Ansprüchen: "Grableuchten werden oft im Set angeboten, beispielsweise zusammen mit passenden Grabvasen und Grabschalen. Dadurch besteht die Möglichkeit, das Grab mit unterschiedlichen Gegenständen in einem einheitlichen Look zu gestalten. Gerade die optisch stimmige Grabgestaltung sorgt dafür, dass Grabstätten stets gepflegt erscheinen" (https://www.bestatter.de/wissen/friedhof/grablaterne/ abgerufen am 28.12.2022).

Hinlänglich bekannt ist die symbolische Bedeutung von Grablichtern, ihr Referat ist hier nicht beabsichtigt. Die jesuanische Lichtmetaphorik drückt sich insbesondere in den folgenden Worten aus:

"Ich bin das Licht für die Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Dunkelheit umherirren, sondern er hat das Licht, das ihn zum Leben führt" (Johannes 8, 12) und

"Wandelt, solange ihr das Licht habt, dass euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder werdet" (Johannes 12, 35 und 36) sowie

"Ich bin als Licht in die Welt gekommen, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe"(Johannes 12, 46).

In der italienischen Volksfrömmigkeit ist die Verwendung von Elektrizität für das Sichtbarmachen göttlicher Realpräsenz überaus beliebt und weit verbreitet. In Rom und Neapel sah der Wanderer vor seiner Weiterreise an die Amalfiküste u.a. Opferkerzenständer mit elektrischen Lichtern und an einer Hausfassade angebracht die Darstellung Mariens, deren Gloriole tags mit Strom gespeist wurde. Was hierzulande kitschig anmuten oder als Energieverschwendung angemahnt werden mag, zählt dort zum Alltagsausdruck christlichen Kults.


Opferstock, Neapel

So findet er auf dem Friedhof von Minori verschiedenste Ausführungen von Grableuchten und Grablampen vor, beinahe allesamt gleichermaßen bei strahlendem Sonnenschein ihrer Bestimmung folgend - brennend.



Antikisierende Vasenform bzw. Fackel mit Akanthusblatt-Ornamentik und Flammenglas


Runde Form


Tellerform mit flammenförmigem Glas

Bodenaufsteller; Form ist noch erhältlich

Vorübergehend ausgediente Fassung



Antikisierende Gestalt von Rauchgefäßen, dreibeinig auf Löwentatzen, mit Löwenköpfen, links mit Mäanderband als durchbrochenem Linienornament

Ein Unternehmen in Brescia bietet allerlei mögliche "lampade votive", "Votivlampen", an, wie sie auch auf dem Friedhof von Minori vorkommen. Die ganz einfachen runden Formen befinden sich ebenso im Sortiment wie aber auch die Edelstahlfassung einer antikisierenden Form mit zwei Henkeln, welche in Voluten auslaufen: https://www.amazingrave.com/de/grablampe-bracciale-17x9-5cm-edelstahl-w… (abgerufen am 07.12.2022).





Antikisierende Gefäßform, zweihenkelig, mit Voluten; Form ist noch erhältlich

Als habe es sich, die Zeiten wie diese Lampenform überdauert, als des
Autors Wandergefährte auf dem Sentiero dei Limoni angeschlossen, fragt
Heinrich Heines lyrisches Ich nach seinen "letzten Dingen":

"Wo wird einst des Wandermüden
Letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?
Werd ich wo in einer Wüste
Eingescharrt von fremder Hand?
Oder ruh ich an der Küste
Eines Meeres in dem Sand?
Immerhin! Mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,
Und als Totenlampen schweben
Nachts die Sterne über mir."4

Auf den Cimitero di Minori scheinen einige der göttlichen Himmelskörper wie in das Dunkel der irdischen Niederungen herabgeholt und leuchten durch Menschenhand elektrifiziert in seinen Grablampen weiter - nicht mehr länger nur über uns, sondern unter uns, uns, an denen sich nach ihrer irdischen Wanderschaft dereinst die letzte Verwandlung vollziehen wird, indem wir der Welt wie einer zu eng gewordenen Schlangenhaut in die Arme des vormaligen Krippenkindes und in die Wärme seines ewigen Lichts entkriechen.

Anmerkungen

1 Vgl. Kagge, Erling. Gehen. Weiter gehen. In: Hinausspaziert. Unterwegs mit Virginia Woolf, Urs Widmer, Benedict Wells u.v.a. Zürich 2022. S. 160 f.
2 Thoreau, Henry David. Vom Glück, durch die Natur zu gehen. Köln 2015. S. 16f.
3 Ebd. S. 71
4 Heine, Heinrich. Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge. Hrsgg. von Klaus Briegleb. Ffm. und Leipzig 1993. S. 393.

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