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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Über die Ausstellung "Trauern. Von Verlust und Veränderung" in der Hamburger Kunsthalle

Mit den Themen Tod und Verlust tut sich die säkularisierte Gesellschaft immer noch schwer. Die von Brigitte Kölle kuratierte Ausstellung "Trauern. Von Verlust und Veränderung" in der Hamburger Kunsthalle ermuntert, über den Schmerz nachzudenken.

Wie können Erfahrungen von Verlust, Trauer und Veränderung in Worte und Bilder gefasst werden? Was hat beispielsweise ein Teppich aus Bonbons mit Verlust und Schmerz zu tun, warum wird ein mit Tränen gefüllter Augenwinkel von „Woman Crying“ werbehaft bunt dargestellt und was will uns der überdimensionale rote Kopf von dem deutschen Bildhauer Thomas Schütte sagen?

Die Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle präsentiert internationale Gegenwartskunst, die diesen Fragen nachspürt und eine Ahnung davon gibt, wie mannigfaltig die Formen von Trauer sein können. Obwohl unsere Erfahrungen von Enttäuschung individuell sind, hängt der Umgang mit ihnen von unserem gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umfeld ab.

Individuelle Erfahrungen von Schmerz und Trauer

Maria Lassnig wusste mit ihrem persönlichen Schmerz umzugehen. Sie gilt als eine der wichtigsten Malerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre eindrucksvollen Bilder drücken den individuellen Verlust durch den Tod ihrer Mutter aus, zu der sie eine innige, aber ambivalente Beziehung hatte. Im Gemälde „Balken im Auge/Trauernde Hände“ aus dem Jahre 1964 porträtierte Lassnig sich selbst vor dem aufgebahrten Leichnam ihrer Mutter. Während der daliegende Leichnam wie versteinert dargestellt wird, verkörpert die ausdrucksstarke Farbauswahl von Lassnigs Körper Traurigkeit, Unruhe und Wut. Auch wenn sie ihrer toten Mutter den Rücken zuwendet, verbindet die Farbkomposition Mutter und Tochter: Die dunklen Lilatöne verweisen auf die Trauer, die bleichen Leichenhände der Mutter spiegeln sich in Lassnigs eigenen blassen Händen wider. Ein Auge von ihr wird von einem hellen Farbbalken durchstoßen. Es wird vermutet, dass es sich um ein Brett des Sargs oder eine bildhafte Blindheit durch den tiefen Schmerz handelt.


Maria Lassnig: Balken im Auge / Trauernde Hände. Foto: Hamburger Kunsthalle

Normierte Trauer trifft persönliche Gefühlswelt der Trauer

Der Trauerrand (2014) von dem Künstler Johannes Esper besteht aus einem schwarzen Rechteck, das sich als Rahmen um eine weiße Fläche zieht. Der Trauerrand soll eine Traueranzeige darstellen. Die persönliche Anteilnahme in Form von Bildern oder liebevollen Texten fehlt in diesem Werk. Die englische Sprache unterscheidet zwischen dem sozialen, kulturell geprägten Ausdruck von Trauer ("mourning") und der emotionalen, persönlichen Gefühlswelt der Trauer ("grief"). Die Trauertexte sind in der Regel gesellschaftlich codiert. Der Betrachter wird mit dem leeren großformatigen Trauerrand konfrontiert, den er nun mit normierter Trauer mit all ihren Floskeln oder mit individuellen Emotionen und Gedanken füllen kann.

Trauer in weiblicher Gestalt


Anne Collier: Woman Crying Comic. Foto: Hamburger Kunsthalle

In der Ausstellung sind zahlreiche weinende Comic-Frauen zu sehen, die einen hellen Hautton und blaue Augen haben. Entweder sind Augenpartien oder einzelne Tränen abgebildet, die als sichtbares Gefühl die Ausstellung dominieren. Die großformatigen Fotografien Woman Crying (2016-18) und Woman Crying Comic (2018-19) von der amerikanischen Künstlerin Anne Collier beeindrucken durch ihre eindrucksvolle Größe. Durch den starken Zoom der Fotografien erkennt man die einzelnen Punkte der Vierfarbdrucktechnik in den Comics. So wird eine einzelne fließende Träne auf rötlich-blauem und weißem Untergrund in der Ausstellung zu einem Abstraktum.

Weinende Frauen in der Kunst wurden in der Moderne von der männlichen Tradition etabliert. Anne Collier ergründet das Motiv. In den fünfziger bis siebziger Jahren wurden in den USA sogenannte "Romance-Comics" veröffentlicht, die adoleszente Leserinnen ansprechen sollten und das Weiblichkeitsklischee schöner, unterwürfiger Frauen darstellten. Collier verwendet Ausschnitte dieser Comics und hinterfragt die schönen trauernden Frauenstereotypen. Sie legt die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen der Medien offen, indem sie die Bilder aus ihrem Kontext nimmt.

Einverleibung als Sinnbild für Vergänglichkeit und Trauer

Das ungewöhnliche Werk "Untitled" (Loverboy) des kubanischen Künstlers Felix Gonzalez-Torres (1957-1996), ein Teppich aus Bonbons, die der Besucher mitnehmen und verzehren darf, birgt eine sehr persönliche Geschichte des Künstlers. Die minimalistische Installation zeigt auf beeindruckende Weise, wie vergänglich das Werk des kubanischen Künstlers ist, aber genau dadurch erst lebendig wird, so wie Veränderung und Tod zum Leben des Menschen gehören. Das Verzehren der Bonbons deutet auf den Kreislauf von Geburt, Tod und mögliche Auferstehung hin.

Die halbtransparenten Vorhänge grenzen die Innen- und Außenwelt voneinander ab, und doch kann der Blick des Besuchers nach draußen schweifen. Die sanfte Berührung der Vorhänge auf dem Boden spielt auf die Erotik an. Zugleich weckt das Werk eine melancholische Atmosphäre. Felix Gonzalez-Torres starb 1996 an den Folgen von AIDS, sein Geliebter Ross Laycock war fünf Jahre zuvor verstorben. Die Krankheit und die damit einhergehenden soziopolitischen Umstände der Zeit spiegeln sich in seinem Werk wider. Es lässt Privatheit und Öffentlichkeit und abgekühlten Minimalismus und große Intimität miteinander in Berührung treten.

Zur Antizipation des eigenen Abschieds

Eine der stärksten Kunstarbeiten in der Trauer-Ausstellung der Hamburger Kunsthalle ist die Skulptur von Thomas Schütte mit dem Titel „Roter Kopf“, die 1997 geschaffen wurde. Die Arbeit zeigt einen deutlich überlebensgroßen Kopf, der abgeschlagen scheint. Auf den zweiten Blick fallen unscheinbare, luftige Aquarellzeichnungen an den Wänden auf.

Das Gefühl im Schauen des Todes soll Schüttes Werk transportieren. Auffällig ist die Benutzung der roten Farbe als Symbol des verströmten Lebens und gleichzeitig die dominante Kinnbinde, die in tradierten Gesellschaften das Bild eines Verstorbenen mit geschlossenen Augen und geschlossenem Mund als verbindliche Konvention transportiert. Der Kopf des Verstorbenen in der Mitte des kleinen Kabinetts steht in gedanklicher Interaktion zu den Selbstbildnissen des Künstlers, die an den Wänden hängen. Die Weichheit der Aquarell-Technik der Selbstbildnisse bildet einen Kontrast zu der monumentalen Härte des Kopfes, der aus Keramik gefertigt ist und seiner Aura. Mit dieser Verbindungslinie zwischen Leben und Tod wird der alte Topos der Kunstgeschichte bedient, den Künstler Memento Mori nennen - "Sei dir in deiner Lebensführung der Endlichkeit bewusst." Die Kunsthalle beschreibt das Werk mit den Worten "Antizipation des eigenen Abschieds Thomas Schütte".

Mahnmale der Endlichkeit – Konzeptkunst Boltanski

Ein wirklich beeindruckendes Kunstwerk hat der Konzeptkünstler Christian Boltanski erschaffen mit der voluminösen Skulptur "Die toten Schweizer". 364 Metallkästen sind in Reihenform, ohne Klebepunkte, fragil aufeinandergeschichtet und bilden ein bedrückenden Erinnerungstunnel. Auf jedem der Kästen ist ein Schwarzweißfoto eines Verstorbenen befestigt und jeder kann verschiedene Assoziationsketten anschieben.

Waren das Erinnerungskästen von Briefen und Lebenstationen, die übrig geblieben sind nach dem Tod? Sind die Blechkisten in Wahrheit Urnen oder Verweiszeichen der Endlichkeit? Auch die antiquierten Lampen, die kleine Lichtkegel auf die Fotos werfen, erinnern an eine Zeit der gedanklichen Schummrigkeit. Der Moment der stumpfen Wiederholung der Grundanlage eines kleinen Erinnerungsbausteins in einer 365maligen Replikation eröffnet gleichzeitig auch die Ebene einer vielgliedrigen Gesellschaft, die, je nach innerem Ausleuchtungsstatus, als Individuum wahrgenommen werden kann oder als Gemeinschaft von Menschen. Die Assoziation zum Massenmord der Nationalsozialisten im Dritten Reich ist gewollt und durch die dunkeltristige Lichtführung vor schwarzen Wänden dramaturgisch beeindruckend inszeniert.

Jeder Mensch hinterlässt Erinnerungsspuren in der Welt, die es zu bergen gilt. Erinnerungsräume zu schaffen legt dieses Kunstwerk nahe und wir sollten in unserer Erinnerungsarbeit diese Idee der Kanalisierung von Trauer für uns persönlich umsetzen und nutzen, um eigene, geschützte Erinnerungsräume zu schaffen. Dieses Werk ist Eigentum der Hamburger Kunsthalle.

Die Hamburger Kunsthalle blieb aufgrund der Corona-Krise noch bis zum 30. April 2020 geschlossen. Je nachdem, wie sich die Corona-Situation weiterentwickelt, wird die Ausstellung eventuell verlängert. Dies ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt ungewiss.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Friedhof als "Immaterielles Kulturerbe" (Mai 2020).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).