Am 27. März 2016, in den frühen Morgenstunden, starb mein Schwiegervater, Du Licheng, im Alter von 88 Jahren in einem Krankenhaus der Provinzhauptstadt Yinchuan, wo er die letzten fünfzig Jahre gelebt hatte.
Zwei Tage später wurde der Leichnam nach einer kurzen Feierzeremonie mit Familie, Vertretern seiner früheren Arbeitsstelle und Nachbarn eingeäschert.
Es war sein Wunsch gewesen, dass ein Teil seiner Asche im Gelben Fluss verstreut und ein weiterer Teil in seinem Heimatdorf im Süden der Provinz Shanxi beerdigt würde. Der erste Wunsch wurde recht schnell erfüllt, aber warum wir die Heimführung nicht bald nach der Einäscherung in die Wege leiteten, kann ich heute nicht mehr sagen. Vielleicht weil wir einen Zeitpunkt finden wollten, an dem auch sein jüngster Sohn aus dem Ausland nach China hätte kommen können. So gingen zwei Jahre ins Land, bis mein Mann, Lao Du, Anfang 2018 mit seinem Cousin in der Kreisstadt in Süd-Shanxi Kontakt aufnahm, um zu sagen, dass es uns um Ostern passen würde, die Asche nachhause zu bringen. Kurz darauf teilte uns der Cousin mit, dass das leider nicht möglich sei, denn nach den örtlichen Bräuchen könne dies nur im Todesjahr selbst oder erst wieder nach drei Jahren geschehen.
Dies war ein erster Vorgeschmack darauf, dass die Wünsche des Verstorbenen oder der Angehörigen in so einer wichtigen Angelegenheit nicht wirklich ausschlaggebend sind. So hatte sich der Vater zwar ausdrücklich für einen einfachen Abschied ausgesprochen, aber die Vorstellung, man könne nach Shanxi fahren, eine Grube graben, die Urnenkiste hineinlegen, die Grube wieder zuschütten, ein stilles Gebet sprechen und davon fahren, erwies sich als naiv.
Der Tag für die Beerdigung wurde von einem Fengshui-Meister auf den 29. März 2019 festgelegt. Damit fiel er in die Qingming-Zeit um den offiziellen Feiertag des 5. Aprils, in der man in China traditionell der Toten gedenkt, ihnen Opfer bringt und die Gräber "fegt".
Am 27. März fuhren mein Mann und ich mit dem Zug aus Peking in die Kreisstadt in Shanxi. Dort erwartete uns der Cousin, ein pensionierter Beamter, der für uns ein Hotel gebucht hatte. Er wies uns an, am nächsten Tag früh aufzustehen, da es viel zu tun gäbe. Auch wenn uns der 29. genannt worden war, so handelte es sich doch um ein zweitägiges Ereignis und der Tag vor der Grablegung war eigentlich der wichtigere. Wir hätten es wissen können – schon 2009 waren wir zusammen in dem Dorf gewesen und hatten eine aufwendige Beerdigung im Nachbarhaus miterlebt, die ich sogar gefilmt hatte. Daher waren die Zeremonien, die nun folgten, mir nicht völlig fremd.
Donnerstag, 28. März 2019
8.30 Uhr: Abfahrt aus der Kreisstadt. Wir sind zu viert: Lao Du, der Cousin, noch ein Verwandter, der den Kleinbus fährt, und ich. Auf dem Dach lagert ein großes Rad aus Papierblumen, wie man sie in China bei Todesfällen aufstellt. Der Cousin hat ein rotes Satin-Tuch mitgebracht, in das die Urnenkiste eingewickelt wird.
10.00 Uhr: Wir kommen im Dorf an. Auf dem Sportplatz am Dorfeingang ist ein Zelt aufgebaut, darin steht der Sarg aus hellem, lackiertem und mit Schnitzereien verziertem Holz. Einige Leute sind bereits versammelt, Verwandte, die ebenfalls von außerhalb angereist sind, Dorfbewohner und die "Bestattungsprofis" wie der alte Fengshui-Meister und der spätere "Zeremonienmeister" und sein Gehilfe. Der Zeremonienmeister ist ein ziemlich grobschlächtiger Typ, den man kaum eine Sekunde ohne brennende Zigarette in der Hand sieht. Feierlichkeit oder Pietät strahlt er nicht aus, aber er kann anpacken, mitreißen und hat die Dinge im Griff.
Der Sarg wird erst mit verschiedenfarbigen Papieren ausgelegt, jeweils neun – wahrscheinlich wegen des positiven Klangs der Zahl neun "jiu", einem Homonym des Zeichens "jiu" = langanhaltend, dann mit einer neuen Steppdecke. Darauf wird das Aschebehältnis gesetzt und das rote Satintuch über ihm festgenagelt, so dass es später nicht verrutschen kann. Die Frauen packen eine Garnitur neue Herrenkleidung aus, die in den Sarg drapiert wird. So als läge dort jemand. Komplett mit langen warmen Unterhosen, Schal und Hut. Darauf kommt eine weitere Steppdecke, noch einmal neun Silberpapiere, und dann wird der Sarg geschlossen. Die Atmosphäre ist gleichzeitig geschäftig und entspannt.
11.30 Uhr: Mit dem Fengshui-Meister gehen wir in einer kleinen Gruppe einen schmalen steilen Erdpfad hinauf, der auf eine Terrasse am Berghang führt. Hier liegen die Gräber der Du-Familie. Die in der ersten Reihe kann man noch benennen. Sie sind jeweils mit einem Mäuerchen begrenzt und auf jedem Grab wächst ein Baum. Der Platz für Du Licheng neben seinen Eltern ist schon ausgesucht, der Fengshui-Meister bestimmt mit seinem Geomanten-Kompass nur noch die genaue Ausrichtung und Lage und markiert sie, damit starke Männer am Nachmittag die Grube ausheben können.
12.30 Uhr: Zwischen Sportplatz und Gräbern – jeweils nur ein paar hundert Meter entfernt – liegt das Haus von Du Weigou, in dem mein Schwiegervater aufwuchs. Du Weiguo ist die zentrale Person bei der Ausrichtung dieses Abschieds, hat alles organisiert, natürlich mit Hilfe der anderen Dorfbewohner. Im Innenhof sind kurzfristig zwei große Woks aufgebaut, in einem kocht Wasser für die Nudeln, im zweiten die Soße aus Gemüse, Tofu und ein wenig Fleisch. Gäste und Helfer, alle werden hier heute versorgt.
15.00 Uhr: Es geht weiter. Dies ist die erste Gelegenheit, die in ganz China verbreitete weiße Trauerkleidung überzuziehen. Die meisten Dörfler haben ihre eigene Garnitur, die sie immer bei solchen Gelegenheiten anziehen. Für uns gibt es je ein sackartiges Leinengewand, mit Kopf- und Armlöchern, das um die Taille mit einer Kordel zusammengebunden wird, und je ein Tuch, das man um den Hals legt, oder später auch mal damit den Kopf bedeckt. Außerdem drückt man mir einen Bambusstab in die Hand, der mit weißen Papierfetzen beklebt ist. Auf diesen kann man sich stützen, wenn man sich vor Gram und Trauer nicht mehr auf den Beinen halten kann. Wir gehen zum Zelt, wo ich mit den anderen Frauen auf die Männer warte, die begleitet von Böllerkrachen und einigen Musikern in mehreren Prozessionsrunden die Opfergaben holen. Die werden unter vielen kollektiven Verbeugungen auf dem Tisch vor dem Sarg drapiert: Papierfiguren, die am nächsten Tag verbrannt werden, Blumengebinde, Schachteln mit Fünf-Minuten-Terrinen, Riesen-Dampfnudeln, und meine absoluten Lieblinge, zwei Tierfiguren aus buntbemaltem Teig in gelb, orange, grün und pink mit schwarzen Kulleraugen und einer frech herausgestreckten roten Zunge.
Nachdem alles aufgebaut ist, gibt es wieder ein wenig Leerlauf. Der Fengshui-Meister lässt sich über Du Lichengs Lebenslauf instruieren, den er abends verlesen wird.
18:00 Uhr: Abendessen für alle im Hof. Nudeln mit Soße.
19:00 Uhr: Es ist dunkel. Wieder werden die Trauergewänder angelegt und wir prozessieren zum Zelt. Die wichtigen Männer der Familie posieren hinter dem "Gabentisch" auf der einen Seite des Sarges, die Frauen auf der anderen. Als erstes legt die Kapelle los. Bei Bestattungen von alten Menschen, vor allem über 80-jährigen, die ihr Leben "voll" gelebt haben, spricht man in China von einem "freudigen Ereignis". Entsprechend ist die Musik schwungvoll, fast zackig, mit Trommeln, Beckenschlag, Keyboard und Blasinstrumenten und vollem Einsatz der Musiker und Musikerinnen, die im ersten Abschnitt alle in rote Satinanzüge gekleidet sind. Nach der Einstimmung durch die Musik- und Tanztruppe kommen als nächstes Gruppen von Menschen, die vor den aufgebauten Gaben nach Anweisung des Zeremonienmeisters jeweils vier Kotaus machen, im Rhythmus einer immer gleichen, melancholischen Melodie, dominiert von der schrillen Suona, einem Blechblasinstrument. Nach den Kotaus löst sich einer aus der Gruppe, geht um den Gabentisch herum und macht einen weiteren Kotau direkt vor den Bildern und dem Sarg. Gleichzeitig verbeugen sich Lao Du und die anderen Männer gegenüber denjenigen, die ihre Ehrerbietung zeigen. Die Reihenfolge wird vom Zeremonienmeister festgelegt, der dabei immer weiter raucht. Als ich an der Reihe bin, werde von einer Frau begleitet, von der ich in dem Moment gar nicht weiß, das sie die Frau des Bruders von Du Weiguo ist. Es irritiert mich etwas, dass sie mich ständig am Arm festhält und hoch und runter zieht, denn trotz der Behinderung durch meine Leinenstaffage hätte ich mich auch alleine in der Lage gesehen, meine Rolle einwandfrei zu erfüllen. Aber auch sie spielte wohl vor allem ihre Rolle als "stützende Angehörige". Einige der Frauen aus dem Familienkreis "klagen" und jammern unter ihren ins Gesicht gezogenen weißen Tüchern lautstark, als sie an ihren Platz neben dem Sarg zurückkommen und sich dort auf dem Boden niederlassen. Das einzige Kind bei dieser Veranstaltung ist ein fünfjähriger Junge, der ganz nahe herankommt, um den Klageweibern ins Gesicht zu schauen und herauszufinden, was da unter dem Tuch vor sich geht. Dieses "Jaulen" ist nicht meine Sache, aber es wird auch nicht unbedingt erwartet. Es schiene mir passender, wenn es sich nicht um einen drei Jahre zurückliegenden Tod handeln würde.
Nach dem alle Generationen und Verwandtschaftsverhältnisse ihre Pflichtrunden erfüllt haben, ist der offizielle Teil vorbei und es beginnt das Entertainment. Die Musik- und Tanztruppe hat noch einiges in petto, von lokaler Oper, über Volkstümliches zu nostalgischen "roten" Liedern. Leider ist es kalt und so sind kaum noch Zuschauer da, aber sie spielen mit viel Leidenschaft für den Nachthimmel.
22.00 Uhr: Im Hof gibt es noch einmal Nudeln mit Sauce, und die Helfer entspannen bei Schnaps und Zigaretten. Wir ziehen uns zurück, und mein Mann hat ein schlechtes Gewissen, denn er hätte sich für die Nachtwache an Zelt und Sarg anbieten sollen. Aber es ist ihm zu kalt, und niemand hat ihn deutlich aufgefordert.
Fotos: Maja Linnemann / Lao Du
(Fortsetzung im nächsten Heft IV/2019)