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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Die Wiener Michaelergruft

Autor/in: Oskar Terš
Ausgabe Nr. 144, I, 2019 - Januar 2019

Wenn Wientouristen am Ende des Kohlmarktes vor dem Michaelertor, dem Eingang in die ehemalige Residenz der Habsburger, stehen und ihre von Handysticks gehaltenen Smartphones wegen eines Selfies anlächeln, ist wohl den wenigsten von ihnen bewusst, dass nur ein paar Meter schräg unter ihnen mehr als zweihundertfünfzig Leichname liegen, denen das Lächeln schon vor langer Zeit erfroren ist. Und die während zweier geführter Touren pro Tag besichtigt werden können.

Die Michaelergruft unter der Kirche gleichen Namens mitten in der Altstadt von Wien gilt immer noch als Geheimtipp und zwar nicht nur die Wiener Unterwelt betreffend. Sie wird, verglichen mit anderen Grüften, als authentisch ausgewiesen, obwohl sie das natürlich nicht mehr ist. Doch die hohe Anzahl an Mumien, die sie beherbergt, von denen zur Enttäuschung vieler Besucher allerdings nur vier während einer regulären Tour besichtigt werden können, unterscheidet sie maßgeblich von anderen Gruftanlagen Mitteleuropas. Man muss nicht unbedingt nach Palermo in die Kapuzinergruft fliegen um unverweste Leichen zu sehen. Wien ist eher ums Eck, wo man beim Wein den bitteren Gevatter besingt und so seit Jahrhunderten versucht ihn nachsichtig zu stimmen.

Ummauert
Ummauerte Särge in der Michaelergruft. Foto: Benedikt Lorsbach

Seit 1260 existiert bereits die Kirche St. Michael. Zwar vermuteten frühere Forscher, dass mit dem Bau der Kirche auch die Gruftanlage gegraben wurde, doch sind erst ab 1341 Erdbestattungen in St. Michael zu Wien nachweisbar. Ab 1580 werden Familiengrüfte von streng katholischen Familien des Hochadels gestiftet und unter dem Presbyterium ausgehoben. Ab 1642 lassen sich die ersten Gemeinschaftsgrüfte für jene, die sich keine eigene Familiengruft leisten konnten, nachweisen, von denen die jüngste, die Maria Candia-Gruft, das erste Mal erst 1724 in den Archiven verzeichnet wird. Diese Gemeinschaftsgrüfte, die ungleich mehr Raum unter der Kirche einnehmen als die Familiengrüfte, sind ein Werk des Barnabitenordens, der ab 1626 die Verwaltung der Kirche übernahm. Er wurde auf Befehl des Habsburger Kaisers Ferdinand II. nach Wien geholt, um der Gegenreformation im mehrheitlich protestantisch gewordenen Wien den Rücken zu stärken. Die Totenprotokolle der Barnabiten existieren ab 1631 und verzeichnen Name, Beruf, Alter und Sterbetag des Bestatteten, wie auch, ob er in einer der Grüfte oder auf dem Friedhof vor den Stadtmauern beigesetzt worden war. Diesen Aufzeichnungen zufolge mussten alle Gemeinschaftsgrüfte bereits ab 1668 bestanden haben.

Sargbemalung
Bemalter Sarg. Foto: Benedikt Lorsbach

Bis zum Josephinischen Dekret der Gruftschließungen innerhalb der Stadtmauern Wiens am 1. Dezember 1783 sollen ungefähr 3000 Menschen in den Grüften von St. Michael bestattet worden sein. Heute sind nur mehr 220 Holz- und 33 Metallsärge erhalten. Während sich die Adeligen in den Familiengrüften in Metallsärgen aus Zinn oder Kupfer bestatten ließen, finden sich in den Gemeinschaftsgrüften fast nur Holzsärge. Doch auch bei diesen lassen sich Materialunterschiede feststellen. So sind die Särge der gesellschaftlich Bessergestellten aus Hartholz wie Eiche oder Nuss, wohingegen die Masse an einfachen Särgen aus Fichtenholz getischlert worden war. Die meisten Toten können den Aufzeichnungen in den Totenprotokollen heute nicht mehr zugeordnet werden. Zwar sind fast alle Holzsärge mit unterschiedlichen Vanitassymbolen wie Totenköpfen, geknickten Kerzen oder abgelaufenen Sanduhren bemalt und haben vereinzelt auch aufgemalte Jahreszahlen auf den Sargdeckeln, doch reicht das für den Abgleich mit den Protokollen nicht aus. Da die Leichen noch nie anthropologisch oder per MRT untersucht worden waren, wie auch die Särge keine dendrochronologische Bestimmung erfahren hatten, weiß man zu wenig über die erhaltenen Toten, um sie mit den Aufzeichnungen in den Klosterbüchern in Einklang zu bringen.

Die Gruftanlage der Michaelerkirche bot für individuelle Wünsche die eigene Bestattung betreffend eine einzigartige Möglichkeit, da die Grufträume nicht nur spezifische Benennungen, sondern auch unterschiedliche Preise und Gestaltungsmöglichkeiten hatten. Dieses Phänomen existierte bei anderen Grüften Wiens nicht. Heute sind unter St. Michael noch 19 Grüfte namentlich bekannt, von denen sechs als Gemeinschaftsgrüfte dienten. Zwei dieser Gemeinschaftsgrablegen, die Spanische Gruft und die Taufstubengruft, unterstanden der Obhut von Bruderschaften, die in St. Michael angesiedelt waren. In der so genannten Vesperbildgruft unter dem Vesperbildaltar stehen heute nur mehr sieben Holzsärge und zwei ummauerte Särge. In den Totenprotokollen ist hingegen verzeichnet, dass 862 Tote alleine zwischen 1724 und 1783 dort bestattet wurden. Dass so viele Särge inklusive Inhalt einfach verschwinden, ist kaum anzunehmen, ebenso wenig, dass sich die Gruft noch unentdeckt an anderer Stelle unter der Kirche befindet. Vielmehr muss man die damaligen und heutigen Namensgebungen mit Vorsicht genießen, da sich diese nicht decken müssen und heute Seitengrüfte existieren, die im 17. Jahrhundert nicht erwähnt wurden, sondern vermutlich Teil einer größeren Gruft waren. Die erwähnten zwei ummauerten Särge lassen vermuten, dass diese Gruft für diese beiden Toten extra gegraben wurde. Warum die beiden Särge ummauert sind, bietet jedoch Platz für vielfältige Spekulationen, angefangen von Pestopfern bis hin zu Vampiren und sie sollen auch der Beleg dafür sein, dass in der Michaelergruft des Nachts weiße Frauen umgehen sollen. Da die Ummauerungen der Särge noch nie entfernt wurden, weiß man nicht, wer in den Särgen bestattet worden war und auch in den Archiven des Klosters findet sich kein Hinweis darauf.

Einzelgrüfte sind aber nichts Ungewöhnliches für die Michaelergruft. Ein unscheinbares Loch in Übermannshöhe, welches direkt unter dem Portikus der Kirche liegt, beinhaltet die sterblichen Überreste des Antonio Colón de Portugal y Carbrera, seines Zeichens Ritter des Santiago Ordens und Nachfolger der weiblichen Linie Christoph Columbus‘. Diese Informationen haben sich erhalten, weil die Gruft erst 2005 zufällig entdeckt wurde und, obwohl der Sarg und der Leichnam verfallen waren, sich das Inschriftenplättchen mit den persönlichen Daten erhalten hatte. Warum er in der Michaelergruft, und dann noch in einer kleinen Kammer unter dem Hauptportal bestattet zu werden wünschte, konnte bis heute noch nicht restlos geklärt werden. Sein Begräbnis am 9. Dezember 1729 ließ er sich jedoch 112 Gulden kosten, eine stattliche Summe für damalige Einkommensverhältnisse.

Der Preis eines Begräbnisses unter der Kirche enthielt nicht nur die Kosten des Stellplatzes an sich, sondern viele zusätzliche Posten, unter anderem die Bereitstellung der Bahre und des Bahrtuchs, so dass die letzte Ruhe unter der Kirche nicht unter dreißig Gulden zu haben gewesen war. Johann Adolph Reichsgraf von Metsch ließ sich 1740 sein Begräbnis 730 Gulden kosten; es war das teuerste in den Grüften von St. Michael. Ironischerweise wurde sein Leichnam auf Wunsch der Familie ein paar Jahrzehnte später exhumiert und in die Familiengrablege der Schottenkirche in Wien gebracht. Diese Gruft wurde jedoch noch im 18. Jahrhundert samt des Sarges von Reichsgraf Metsch geräumt und aufgegeben, während die Michaelergruft erhalten blieb.

Erhalten blieben in der Maria Candia-Gruft auch die Körper der Verstorbenen. Die meisten Mumien St. Michaels stammen aus der Maria Candia-Gruft, was an der dortigen guten Durchlüftung wie auch der Aufbewahrung der Körper auf Hobelspänen in den Särgen liegen mag. Vielleicht war es aber auch gewollt, dass die Toten in dieser Gruft nicht verwesten, bezahlt hatten die einstmals Lebenden genug. Für diese Mutmaßung gibt es aber keine Beweise oder Rückschlüsse, denn die Leichen wurden nachweislich nicht einbalsamiert oder sonst wie für eine gewollte Mumifizierung präpariert, wie man es von den ägyptischen Mumien her kennt. Zwar finden sich bei zwei Mumien Einschnitte im Brustkorb, doch rühren diese daher, dass das Herz entnommen wurde, um es am Gut des Verstorbenen extra zu bestatten. Diese Tradition folgte jener des Herrscherhauses, denn auch die Habsburger ließen die Herzen der verstorbenen Familienmitglieder nicht mit dem Körper in die Kapuzinergruft bringen, sondern in der Loretokapelle der unweit entfernt liegenden Augustinerkirche beisetzen. Womit man damit leben muss, dass die Michaelergruft ohne Maria Candia-Gruft weniger attraktiv für Totentouristen wäre. Gleichfalls kann ein nur wenige Jahrzehnte dauernder Wandel in der Akzeptanz und Wichtigkeit der Gruftbestattungen nachgezeichnet werden, sei es, dass dieser aus gesellschaftspolitischen Umbrüchen, kaiserlichen Dekreten oder vielleicht auch wegen der Urangst vor dem Scheintod vollzogen wurde. Eine teilweise mumifizierte Leiche in einem Sarg der Pfarrgruft hält eine Holzpfeife in der Hand, welche wohl nur dazu dienen konnte, im Falle eines Scheintodes auf sich aufmerksam zu machen.

Holzpfeife
Holzpfeife. Foto: Benedikt Lorsbach

Wie die Grüfte selbst, sind auch die heute noch vorhandenen Särge wissenschaftlich noch nicht erschlossen. 1954 gab der damalige Direktor des Völkerkundemuseums, Adolf Mais, einen ersten detaillierten Überblick über die Särge und die Bestatteten der einzelnen Grüfte mit Hauptaugenmerk auf den erhaltenen Holzsärgen. Dieser Bericht ist die wichtigste Vergleichsquelle bezüglich des heutigen Gruftzustands, da die meisten von Mais beschriebenen Särge heute noch vorhanden sind und mit dem von ihm eingeführten Nummerierungssystem auch identifiziert werden können. Jedoch sind die Metallplättchen, die Mais an die Särge genagelt hatte, heute oftmals bis zur Unkenntlichkeit korrodiert, weshalb einige Särge nur mit einem Fragezeichen zugeordnet werden können. Um Ähnliches in Zukunft zu vermeiden, wurden die Särge in den letzten Jahren mit Plexiglasschildchen gekennzeichnet. Eine Klimaanlage, die seit 2014 dafür sorgt, dass Luftfeuchtigkeit und Temperatur konstant gehalten werden, sichert die Erhaltung der empfindlichen Holzsärge und Bekleidungen der Bestatteten, respektive die getrocknete Haut der Mumien. Dass trotzdem immer wieder ein Sarg bricht oder Maßnahmen, welche die Salvatorianerbrüder vor fast hundert Jahren tätigten, nicht mehr sicher sind, steht auf der Tagesordnung. Neben dem Kirchendiener sind der Autor dieses Beitrags und sein Fotograf während des ganzen Jahres damit beschäftigt, die Särge vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Momentan werden einstmals in einer Nische gestapelte Sargbretter, welche als hölzerne Lawine auf Särge und Besucher zu stürzen drohten, fotografiert, katalogisiert und neu inventarisiert, um festzustellen, welche Särge bereits zerstört waren oder von den Salvatorianern zerstört wurden, als sie in der Gruft aufräumten.

Zu den Erhaltungsproblemen der Gruft kommt hinzu, dass früher mit Kerzen ausgestattete Touristen alleine in die Gruft hinabstiegen und Schindluder trieben, von Mutproben angefangen, wer in der dunkelsten Ecke das größte Aschegraffiti mit seiner Fackel anbringen konnte, bis hin zu gestohlenen Knochen, Kleidungsstücken, Mumienteilen. Wegen dieser Vorkommnisse und des immer schlechter werdenden Klimas kam immer wieder die Überlegung auf, die Gruft schlicht zu schließen und den Toten ihre sich vor mehr als dreihundert Jahren teuer erkaufte Ruhe zu gewähren. Das wäre jedoch für die Kirche finanziell und für die Forschung essentiell gesehen katastrophal. Somit entschied man sich vor knapp zwanzig Jahren für einen Mittelweg. Nur mehr vier Mumien werden soweit gereinigt und gezeigt, um den sogenannten Thanatouristen das zu bieten, weswegen sie in die Gruft kommen, alle anderen Maßnahmen werden in die Instandhaltung der Gruft an sich gesteckt. Denn, Hand aufs Herz: Mumien faszinieren, regen zum Nachdenken an, erschrecken vielleicht, aber letztlich sind sie nur tote Menschen, rechtlich gesehen Sachen, die still existieren. Die Geschichte um sie herum, wie sie dorthin kamen, wo sie sind, wie sie dazu wurden, was sie sind, ist doch eigentlich das, was erforscht und erfahren werden sollte.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Tod in Wien (Januar 2019).
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