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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Gotha 1878: Das erste Krematorium und die Anfänge der modernen Feuerbestattung in Deutschland

Krematorien und die technische Feuerbestattung sind eine vergleichsweise junge Bestattungsart.

Als "Bestattungsreform" im späten 19. Jahrhundert in vielen Industriegesellschaften eingeführt, blieben sie zunächst die Angelegenheit einer schmalen Minderheit und gewannen erst langsam Zuspruch.

Die Feuerbestattung - eine in der Antike durchaus übliche, ja bevorzugte Bestattungsart - war im christlichen Abendland über Jahrhunderte tabuisiert. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sorgten das rapide Wachstum der Städte, Raumnöte auf den Friedhöfen und eine geschärfte Sensibilität für hygienische Probleme für ein neues gesellschaftliches Interesse an der Feuerbestattung. Auch die bildungsbürgerliche Antikenbegeisterung spielte eine gewisse Rolle. Die Entwicklung der industriellen Technik ermöglichte den Bau moderner technischer Verbrennungsöfen und der ersten Krematorien.

Eine Verbrennung in offenem Feuer, wie in der Antike, kam aus hygienischen Gründen und Pietätsgründen nicht in Frage. Trotz diverser Experimente gab es jedoch um 1870 noch keine akzeptable technische Methode der Leichenverbrennung. Ein Verbrennungsapparat wurde erstmals auf der Weltausstellung in Wien 1873 gezeigt. Etwa zur gleichen Zeit arbeitete man in der Siemensschen Glashütte in Dresden an geeigneter Einäscherungstechnik. Nachdem mit Carl Reclam einer der Protagonisten der Feuerbestattungsbewegung auf einer Pariser Technikausstellung auf das Siemenssche Regenerativ-Verfahren aufmerksam geworden war, ließ er prüfen, ob es sich auch zur Einäscherung menschlicher Leichen eignete. Der Ingenieur Friedrich Siemens hatte nach dem Tod seines Bruders Hans die von letzterem begründete Glashütte übernommen und zum bedeutendsten Unternehmen seiner Art in Deutschland ausgebaut. Das dort bereits 1856 entwickelte Prinzip des "Regenerativ-Ofens" wurde nun zur Grundlage der bei Siemens entwickelten Einäscherungstechnik. Entscheidend beteiligt war Siemens' Chefingenieur Richard Schneider, der sich später mit einem verbesserten Konstruktionsprinzip selbstständig machen sollte.1

Im August 1874 fand in Dresden eine erste Probeverbrennung von Tierkadavern statt, an der mit dem Ingenieur Carl Heinrich Stier - sein Leichnam sollte später der erste Eingeäscherte in einem deutschen Krematorium werden - auch ein Vorstandsmitglied des Gothaer Feuerbestattungsvereines teilnahm. Auf Grund der dabei gewonnenen positiven Erfahrungen beschloss der Verein, am 14. September desselben Jahres eine Petition an das Staatsministerium des thüringischen Herzogtums Sachsen-Coburg-Gotha zu richten, um die Zulassung der Feuerbestattung zu erreichen. Die liberal-tolerant eingestellte Regierung äußerte keine Bedenken, stellte jedoch die Zulassung der fakultativen Feuerbestattung in das Ermessen der einzelnen Kommunen. Die Gothaer Stadtverordneten stimmten dem Projekt zu, wollten aber die Kosten nicht übernehmen, sondern dem Verein überlassen. Unterstützt durch eine Sammelaktion auf dem Feuerbestattungskongress in Gotha am 7. Juni 1876 gelang es dem Verein, die notwendigen Mittel zusammenzubringen. Nachdem der Gothaer Stadtrat mit einer Polizeiverordnung "betreffend die Feuerbestattung Verstorbener" die notwendigen rechtlichen Grundlagen geschaffen hatte, konnte der Verein mit dem Bau des ersten deutschen Krematoriums auf dem neuen Friedhof im Ostfelde (Langensalzaer Straße) beginnen.

Dass jedoch diese neuartige, ja revolutionäre "Feuerbestattungs-Anlage" nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß, zeigten einige Leserbriefe aus jenen Jahren an das Gothaische Tageblatt. Bisweilen wurde dabei die Feuerbestattung als bloßer "Spleen" abgetan, wie einem Beitrag von 1876, in dem es wörtlich - und fürs erste ja auch nicht gänzlich unrealistisch - hieß: "Es dürfte sich auch wohl kaum ein gebildeter großer Staat finden, welcher dem Spleen einzelner Menschen hierin Vorschub leistet; und die Gemeinden sollten zu solchen unnützen Neuerungen, wie das Verbrennen von Leichen eine ist, aus öffentlichen Mitteln keinen Heller bewilligen."

Dennoch: Am 17. November 1878 wurde das Gebäude eingeweiht - allerdings konnte die erste Einäscherung auf Grund von Verzögerungen bei der Installation der Technik erst einige Wochen später, am 10. Dezember 1878, stattfinden. Der langgestreckte neoklassizistische Gebäudekomplex wurde vom Gothaer Stadtbaurat Julius Bertuch für den Feuerbestattungsverein entworfen.

Die beiden - im Vergleich zu späteren Beispielen recht schlicht gehaltenen - Flügelbauten beherbergten Verwaltung einerseits, Trauerhalle und den im darunter liegenden Geschoss installierten technischen Trakt andererseits. Den mittleren Teil des Bauwerks bildete anfangs ein Kolumbarium, nach einer 1892 erfolgten Erweiterung eine Rotunde zur Aufstellung von Aschenurnen - unter anderem wurde hier 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Asche der berühmten österreichischen Pazifistin und Schriftstellerin Bertha von Suttner beigesetzt.2

Der im Kellergeschoss installierte Einäscherungsapparat war für die Öffentlichkeit nicht wahrnehmbar. Die beiden Geschosse waren durch einen "Versenkungsapparat" - eine Art Lastenfahrstuhl - miteinander verbunden. Oben mündete der Versenkungsschacht in einen Katafalk, der sich inmitten der Trauerhalle erhob und auf den der Sarg während der Trauerfeier gestellt wurde. In einer Beschreibung hieß es: "Nach Beendigung der Totenfeier tritt auf ein für die Anwesenden unbemerkbares Zeichen die Versenkungsvorrichtung in Tätigkeit, und der auf ihr stehende Sarg senkt sich langsam in die Tiefe, worauf sich der Katafalk sofort unhörbar schließt. Ist der Sarg unten angekommen, so wird er auf einen besonders gestalteten Wagen gesetzt und nach Oeffnung der Tür des Verbrennungsraumes in den Ofen hineingeführt, der Sarg abgesetzt, der Wagen wieder zurückgezogen und die Tür wieder geschlossen." Im Übrigen war die Gothaer Feierhalle mit den bekannten Insignien bürgerlicher Trauerkultur des späten 19. Jahrhunderts ausgestattet: Kerzen, Pflanzen und Blumen.3

Der technische Vorgang der Einäscherung blieb also den Blicken der Hinterbliebenen entzogen. Dies verwies beim ersten deutschen Krematorium auf die grundsätzlichen Probleme der neuen Bestattungsart - der Trennung von Technik und Trauer. Gleichwohl war man in der Feuerbestattungsbewegung regelrecht stolz auf die neue, komplexe Technik, der man sich nun bedienen konnte, und beschrieb sie in den eigenen Publikationen immer wieder. Die Einäscherung fand in hocherhitzter Luft statt, Flammen gelangten nicht in den Verbrennungsraum. Damit wurde das als besonders pietätlos empfundene Explodieren von Organwänden verhindert. Die Einäscherungstemperatur im Ofen betrug knapp 1000 Grad Celsius, und der Vorgang dauerte - je nach Durchhitzung des Apparats und Volumen des Leichnams - bis zu zwei Stunden.

Das Siemens-Schneidersche Verfahren errang große Bedeutung für die Krematorien im Deutschen Reich. Dazu trug sicherlich bei, dass nur die Heißluftöfen jenen Kriterien genügten, die auf dem internationalen Feuerbestattungskongress 1876 an eine Leichenverbrennung gestellt wurden. Diese Kriterien lauteten wörtlich: "a.) Die Verbrennung soll rasch vor sich gehen; b.) sie soll sicher und vollständig sein, und ein Halbverbrennen oder Verkohlen darf nicht stattfinden; c.) der Prozess soll in dezenter Weise und nur in ausschließlich für menschliche Leichen bestimmten Öfen vollzogen werden; d.) bei denselben sollen keine die Nachbarschaft belästigenden Verbrennungsprodukte, übelriechende Dämpfe, Gase usw. auftreten; e.) die Asche soll unvermischt, rein und weißlich, und ihre Einsammlung leicht und rasch ausführbar sein; f.) der Apparat, sowie die Verbrennung selbst sollen möglichst billig sein, und g.) ohne Unterbrechung und besonderen Kostenaufwand sollen mehrere Verbrennungen hinter einander vorgenommen werden können."4

Über Aufbau und Funktionsweise des in Gotha installierten Siemens-Schneiderschen Regenerativ-Ofens hieß es in einer Broschüre - und diese Passagen seien im Folgenden wegen ihrer Anschaulichkeit ausführlich zitiert: "Er besteht aus fünf Hauptteilen: 1. dem Koks-Gaserzeuger; 2. dem davor liegenden Verbrennungsraum; 3. dem unter diesem eingebauten Aschensammelraum; 4. dem Unterbau des Ofens mit dem Kanalsystem zur Abführung der gasförmigen Verbrennungsrückstände und gleichzeitigen Erhitzung der Verbrennungsluft; und 5. der Esse oder dem Schornstein. ... Der Gaserzeuger ist ein schachtförmiger, innen aus besten feuerfesten Steinen hergestellter Raum von rechteckigem Querschnitt, der nach unten durch einen aus entsprechend starken Vierkant-Eisenstäben hergestellten Rost und oben durch ein aus feuerfesten Steinen hergestelltes Gewölbe abgeschlossen wird. - Unter dem Roste befindet sich der Aschenfall mit einem entsprechend gestalteten eisernen Kasten, in dem sich Wasser befindet, damit die durch jenen fallenden Aschen, Schlacken usw. sofort abgelöscht werden und nicht verglühen können. Durch die von dem Roste rückstrahlende Wärme wird eine lebhafte Verdampfung des Wassers hervorgerufen; der sich dabei bildende Wasserdampf wird samt der eintretenden heißen Luft in den Gaserzeuger eingesaugt. Hierdurch werden die Roststäbe und die unteren glühenden Teile des Gaserzeugers vor rascher Abnutzung geschützt, zugleich aber auch durch die in den unteren weißglühenden Koksschichten eintretende Spaltung des Wassers in Sauerstoff und Wasserstoff eine vollkommene Ausnutzung des Kohlenstoffes im Koks durch Umwandlung in Kohlenoxydgas, sowie eine Verbesserung des Gases durch das zutretende Wasserstoffgas, etwa 5-15%, erzielt. Der Aschenfall ist beim Betrieb der Anlage durch eine eiserne Tür luftdicht abgeschlossen. In dem den Gaserzeuger oben abschließenden Gewölbe befindet sich eine mit einem eisernen, innen mit feuerfestem Material ausgemauerten Deckel verschließbare Oeffnung. Dicht unter dem vorgenannten Gewölbe schließt sich der Gaserzeugerhals an, durch den die im Gaserzeuger erzeugten Heizgase dem Verbrennungsraume zugeführt werden. Die zum Betriebe des Gaserzeugers nötige Luft tritt oberhalb der Aschenabfalltür durch eine regelbare Oeffnung in Kanäle ein, die innerhalb des den Gaserzeuger vorn, links und rechts umschließenden Mauerwerkes hin und hergehen. Diese Kanäle münden unterhalb der Roste in den Aschenfall aus. ... Der Verbrennungsraum ist ein 2 Meter langer, etwa 1 Meter breiter und mit einem im Mittel rund 1 Meter hohen Gewölbe aus feuerfesten Steinen überdeckter Raum, der nach unten durch einen Rost aus gleichem Material abgeschlossen wird. Vorn wird dieser Raum durch eine mit Asbest oder feuerfestem Materiale ausgekleidete Tür verschlossen. In dieser Türe befindet sich eine kleine, durch einen Riegel verschließbare Oeffnung, durch die das Innere des Verbrennungsraumes während seiner Aufheizung oder während einer Einäscherung, wenn nötig, beobachtet werden kann, die aber sonst immer geschlossen sein soll. - Unter dem Verbrennungsraum befindet sich der Aschensammelraum, der sich von allen Seiten konisch zusammenzieht und in dessen unterstem Teile ein nach vorn herausnehmbarer eiserner Kasten eingebaut ist, um die während einer Einäscherung herunterfallenden, ausgebrannten Knochenteile bequem herausnehmen zu können."5

Die erste Person, die in den "Genuss" dieser aufwändigen Apparatur kam, war der bereits erwähnte Gothaer Feuerbestattungsanhänger Carl Heinrich Stier. Das tragische Schicksal wollte es allerdings, dass er bereits ein Jahr vor Inbetriebnahme der Anlage verstarb. Aber Stier hatte für diesen Fall vorgesorgt und testamentarisch bestimmt, dass sein Leichnam nur vorsorglich im unerwünschten Erdgrab beigesetzt werden sollte, um nach Einweihung des Krematoriums die bevorzugte Einäscherungsbestattung zu erhalten. Zu dieser ersten Feuerbestattung in Deutschland am 10. Dezember 1878 erschienen rund 100 "Krematisten" aus ganz Deutschland. Allerdings gab es bei dieser Prozedur unerwartete Hindernisse, denn die Einäscherung des Leichnams dauerte länger als angenommen. Man erklärte dies damit, dass der Holzsarg allzu feucht war, weil er so lange in einem hermetisch verschlossenen Metallsarg - sozusagen als Zwischenlager - ruhen musste.

Im Übrigen bot diese erste Feuerbestattung in Deutschland den anwesenden Experten immerhin Einblicke in die Technik. Davon jedenfalls berichtet die Jubiläumsschrift: "Es wurde verschiedenen Fachleuten gestattet, durch die kleine Oeffnung in der Ofentür den Vorgang in Augenschein zu nehmen, und diese haben durchaus keinen störenden oder entsetzlichen Eindruck empfunden, wie dies öfter von unbelehrbaren Gegnern behauptet wurde, von Leuten, die offenbar nie Augenzeuge waren, sondern in grundsätzlicher Abneigung ihrer Phantasie freien Lauf ließen. Der Beobachter kann in der herrschenden Weißglut nur wenig erkennen. Animalische Körper erleiden selbstverständlich bei Hitzewirkung Lageveränderungen, ebenso wie sie beim Verwesen des Leichnams im Erdengrab infolge Auflösung der zusammenhaltenden Gewebe auch vorkommen."6

1878 blieb Stier der einzige Eingeäscherte im Gothaer Krematorium. Aber die Zahlen stiegen in den folgenden Jahren kontinuierlich an und überschritten 1887 erstmals die Schwelle von 100 Eingeäscherten. Bis 1891 blieb Gotha das einzige Krematorium im Deutschen Reich, dann wurde die Anlage in Heidelberg eröffnet - ein Jahr später folgte Hamburg. Dennoch wurde das Gothaer Krematorium weiterhin stark in Anspruch genommen. Noch 1898 entfielen 20,4% aller Einäscherungen im Deutschen Reich auf die Anlage in der thüringischen Residenzstadt. So musste denn auch 1905 ein weiterer Ofen - wiederum nach dem Siemens-Schneiderschen Verfahren - eingebaut werden.7

[Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem zweiten Kapitel des Buches Norbert Fischer: Zwischen Trauer und Technik. Berlin 2002; dort auch weitere Informationen zur Kulturgeschichte der Feuerbestattung und Krematorien.]

1 Brockhaus' Konversations-Lexikon. Band 14. Leipzig, Berlin, Wien 1898, S. 959; Thalmann: Urne, S. 113.
2 Gedenkschrift zum 50-jährigen Bestehen des Krematoriums in Gotha. Hrsg. vom Stadtvorstand. Gotha 1928, S. 13-21; Henning Winter: Die Architektur der Krematorien im Deutschen Reich 1878-1918. Dettelbach 2001, S. 214-217.
3 Gedenkschrift Gotha (wie Anm. 2), S. 21-22 und S. 25 (Zitat).
4 Zitiert nach Fritz Schumacher: Die Feuerbestattung (Handbuch der Architektur, 4. Teil, 8. Halbband, Heft 3b), Leipzig 1939, S. 20-21.
5 Gedenkschrift Gotha (wie Anm. 2), S. 22-23.
6 Ebd., S. 29-30 (Zitat S. 30).
7 Ebd., S. 31-32 und S. 45-47

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft 125 Jahre Krematorien in Deutschland (November 2003).
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