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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Rasenfriedhöfe und die "Demokratisierung" des Todes in Großbritannien

Autor/in: Julie Rugg
Ausgabe Nr. 150, III, 2020 - August 2020

Anm. d. Red.: Der vorliegende Text wurde uns freundlicherweise von Dr. Julie Rugg (Cemetery Research Group, University of York, Großbritannien) zur Verfügung gestellt. Für die Veröffentlichung wurde er sinngemäß aus dem Englischen übertragen und gekürzt. Der erste Absatz wurde als Zusammenfassung von der Redaktion eingefügt.

In Großbritannien gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert eine der deutschen Friedhofsreform vergleichbare Bewegung. Sie kritisierte das willkürliche, ungeordnete Erscheinungsbild der Friedhöfe der viktorianischen Epoche mit ihren teils monumentalen Grabmälern, teils verfallenen Grabstätten. Orientiert u.a. an der uniformen Gestaltung von Soldatenfriedhöfen des Ersten Weltkriegs, initiierte sie mit Rasenfriedhöfen eine "Demokratisierung" der Friedhofskultur mit sich tendenziell angleichenden Grabstätten für alle.

Die Einrichtung von Bestattungsbehörden in England und Schottland ab Mitte des 19. Jahrhunderts schuf eine neue lokale Organisationsform, die mit der Anlage und Verwaltung von Friedhöfen beauftragt wurde. Die Zahlen sind nicht eindeutig zu klären, aber bis zur Zeit um 1900 gab es viele hundert dieser lokalen Behörden. Größere Bestattungsämter ernannten in der Regel eigene Beamte, die für die aufwändige Bürokratie zuständig waren, die durch die Bestattungsgesetzgebung eingeführt wurde. Sie waren für die Gestaltung des Friedhofs zuständig und kümmerten sich z.B. auch um die Totengräber.

Die nationalen Bestattungsgesetze enthielten einen großen Ermessensspielraum, was bedeutete, dass viele Praktiken von den Bestattungsbehörden vor Ort selbst entschieden wurden. 1913 wurde die Nationale Vereinigung der Friedhofverwalter (National Association of Cemetery Superintendents - NACS) wurde gegründet. Sie führte schnell regelmäßige Treffen ein, bei denen jedes Jahr der Ort wechselte, so dass die Friedhofsverwalter die Möglichkeit hatten, die Arbeit ihrer Kollegen kennen zu lernen. Der Jahreskongress und regelmäßige regionale Treffen schufen einen Rahmen, in dem sich die Friedhofsinspektoren nicht nur als Beamte, sondern auch als Fachleute definieren konnten. Die NACS begann rasch, ein Ausbildungsprogramm für die benötigten breit gefächerten Fähigkeiten auszuarbeiten, bei denen es um Grundstückspflege, Anwendung komplexer Bestattungsgesetze zur Gewährleistung der Hygiene, bürokratische Aufgaben im Zusammenhang mit dem Verkauf von Grab- und Gedenkrechten und auch um die seelsorgerische Betreuung der Familien ging.

Eine der frühesten Aufgaben, um deren Lösung sich die Friedhofsaufseher als Gruppe bemühten, war die Pflege und Verschönerung der von ihnen betreuten Friedhöfe. Bis in die 1920er-Jahre war die Friedhofslandschaft zu einer weitgehend unüberschaubaren Wildnis verfallen. Noch immer war es üblich, dass viele Gräber nicht mit einem Grabstein, sondern mit einem Erdhügel markiert wurden. Dieser wurde abgeflacht, damit man Gegenstände auf der Oberfläche platzieren konnte, darunter Holzkreuze. Mit der Zeit brachen die Hügel zusammen und zugleich war die Friedhofslandschaft mit Erinnerungsrelikten übersät. Darüber hinaus wurden Bereiche des Friedhofs, auf denen steinerne Denkmäler errichtet wurden, mit Grabmälern überfüllt, die mit der Zeit wieder verfielen. Der Friedhof war zu einer Art "Steinhof" geworden (Abb. 1).


1 Industrielle Friedhofslandschaft: Bild aus einem Vortrag, den der Vorsitzende der Gesellschaft für Feuerbestattung, Graf von Verulam, 1955 vor dem ICCM hielt

Die Friedhofsverwaltung professionalisierte sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Durch die Abkehr von der viktorianischen Ästhetik war es auch im Vereinigten Königreich zu einer Zäsur gekommen: Mit Ornamenten überladene Häuser, sehr aufwendig gemusterte Tapeten und Vorhänge und verzierte Möbel waren nicht mehr modern. Auch die Friedhofsästhetik galt nun als Spiegel altmodischer Werte. Die jährlichen Konferenzberichte geben einen einzigartigen Einblick in die Art und Weise, wie Friedhofsverwalter über die von ihnen verwalteten Anlagen dachten. Ein typischer Kommentar kam von T.F.H. Wilson im Jahr 1936: Er meinte, „... dass man sich kaum etwas Schrecklicheres und Schrilleres vorstellen kann als einige der großen Friedhöfe in Liverpool und anderen Städten. … Die Grabsteine sind unterschiedlich, aber meist in unterschiedlichem Maße hässlich. Einige hier und da sind einfach und würdevoll. Andere sind verziert und legen die Konkurrenz nahe, wer kostspieligere Denkmäler als seine Nachbarn errichten könnte, und scheinen ihre Architektur von Bilderpalästen oder ‚Grand Hotels‘ zu entlehnen.“ Viktorianische Praktiken wurden als unaufrichtig, statusbesessen und würdelos angesehen. Jede Familie wetteiferte mit der nächsten um die Errichtung des aufwendigsten und teuersten Denkmals. Umgekehrt erschien es als ungerecht, dass Menschen mit wenig Geld in nicht gekennzeichnete Gräber am Rande des Friedhofs verbannt wurden.

Im Wunsch nach einer Reform spiegelte sich auch die Bewunderung der Verwalter für die uniforme Gestaltung von Soldatenfriedhöfen wider. Sir Fabian Ware, Direktor des Reichskommissariats für Kriegsgräberfürsorge, nahm 1932 an der NACS-Konferenz teil und zeigte einen Film über seine Arbeit. Er selbst betonte die Gleichheitsprinzipien, die der Verwaltung und der Ästhetik von Soldatenfriedhöfen zugrunde lagen: Hätte man den Menschen erlaubt, ihre eigenen Denkmäler zu errichten, „…würden die Denkmäler der Wohlhabenderen die der ärmeren Kameraden überschatten; der ganze Sinn für Kameradschaft und gemeinsamen Dienst ginge verloren“.

Das Konzept der Demokratisierung der Friedhofslandschaft vollzog sich etappenweise. Vorbild waren Praktiken in Schottland, die sich dort bereits im achtzehnten Jahrhundert herausgebildet hatten. 1949 hielt die NACS ihre Konferenz in Glasgow ab. Die Teilnehmer wurden mit dem Bus zum Vale of Leven Cemetery gebracht, um eine typisch schottische Gestaltung zu sehen. Grabhügel und auch die Umrandungssteine, die jedes Grab begrenzen, waren in nicht mehr benutzten Teilen des Friedhofs entfernt worden (Abb. 2).


2 Friedhof Vale of Leven im Jahre 1949 nach der Räumung von Bordsteinen und Geländern

Friedhofsverwalter in ganz Großbritannien widmeten sich nun der Aufgabe, Friedhöfe umzugestalten und sahen in diesem Projekt auch einen Ausweis ihrer eigenen Professionalität. Auf den Friedhofsverwalter-Konferenzen wurden Vorträge über „Rasenpflege“-Praktiken gehalten, bei denen die Entfernung der Grabhügel ein wesentlicher erster Schritt war. Um Geld zu sparen, wurden alte Umrandungssteine der Grabstätten oft an Ort und Stelle vergraben.

Gleichzeitig begannen die Friedhofsverwalter, auf die Einführung von „Rasengräbern“ für neue Bestattungen zu drängen. Häufig begannen sie mit der Einführung eines Rasen-„Abschnitts“, um der Öffentlichkeit die Attraktivität und Zweckmäßigkeit dieser neuen Ästhetik zu demonstrieren. Gelegentlich konnte der Drang nach Fortschritt auch etwas zu schnell sein. In Leicester zum Beispiel gewann der Landschaftsarchitekt Edward Prentice Mawson den örtlichen Wettbewerb für den Entwurf eines neuen Friedhofs. Er hatte sich 1935 in der Zeitschrift „Landscape and Garden“, in der sein Entwurf vorgestellt wurde, recht deutlich geäußert: „Für fast jeden von Ästhetik und künstlerischer Sensibilität erinnert das Wort ‚Friedhof‘ an all das, was hässlich und monströs ist. Sonst würden sie niemals die entsetzlichen Ungeheuerlichkeiten in Steinen unterschiedlicher Farbe und Größe in unmittelbarer Nachbarschaft und ohne die geringste Vorstellung von Ordnung Anordnung zulassen, was … [allem] abträglich ist, was bei der Schaffung einer erholsamen, künstlerisch befriedigenden Komposition berücksichtigt werden sollte.“ (Abb. 3).


3 Der Entwurf des Saffron Hill Cemetery, Leicester, reproduziert in Landschaft und Garten im Jahr 1935

Das lokale Friedhofskomitee akzeptierte sein Gesamtkonzept, änderte jedoch das Element des „Rasens“: So hieß es 1935, dass es "in vielerlei Hinsicht wünschenswert [sei, aber] mit Schwierigkeiten und Einschränkungen verbunden, gegen die die Bürger erhebliche Einwände erheben würden". Umrandungssteine sollten weiter erlaubt sein, aber ohne Eisengeländer. Für Denkmäler sollten Größenbeschränkungen gelten. Diese Entscheidung wurde jedoch 1948 wieder rückgängig gemacht: Alle neuen Teile des Friedhofs sollten im Rasenstil angelegt werden, und alle lokalen Einwände wurden zurückgewiesen.

Die Friedhofsverwalter selbst waren von dieser neuen Landschaftsentwicklung begeistert. 1953 hielt E.F. Coward, Friedhofs- und Krematoriumsverwalter in Fulham, am (damaligen) Institut für Friedhofs- und Krematoriumsverwaltung einen Vortrag mit dem Thema "Friedhöfe im Rasenstil: Fortschritte auf dem Weg zum Ideal". Er betrachtete Rasenfriedhöfe als "die wichtigste Entwicklung, die sich seit der Einführung der … öffentlichen Friedhöfe vollzogen hat".

Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der zunehmenden Beliebtheit der Feuerbestattung wurde der Rasenfriedhof zum typischen Ausdruck der neuen Forderung des Wohlfahrtsstaates, dass alle Menschen Zugang zu den gleichen Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsdiensten haben sollten. Im Geiste spiegelte das Rasengrab den neuen Sozialwohnungsbau wider, der in der Nachkriegszeit rasch expandierte: Es fehlte zwar an Individualität, aber es war erschwinglich und für jeden zugänglich unabhängig vom Einkommen (Abb. 4).


4 Sozialer Wohnungsbau

Den an Wegrändern oder an den Ecken aufgestellten Denkmälern wurde keine besondere Behandlung zuteil. Meistens wurde den Menschen in der Reihenfolge des Todes das nächste Grab in der Reihe zugeteilt (Abb. 5).


Rasenabschnitt des Friedhofs der City of London

Die besonderen demokratischen Qualitäten, die sowohl den Wohnungs- als auch den Friedhofsprojekten zugesprochen wurden, begannen jedoch zu schwinden, als sie massenhaft und in großem Maßstab umgesetzt wurden. Vor allem der Bepflanzung wurde nun weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Rasenfriedhöfe wurden zu einheitlichen, eher trostlosen Plätzen: Bäume wurden spärlicher gepflanzt oder ganz entfernt, und die lokalen Behörden pflegten die Bepflanzung zwischen den einzelnen Grabsteinen nicht mehr. Kritiker sahen den Rasenfriedhof zunehmend als Beweis für eine Gesellschaft, die sich nicht mehr auf die Bedürfnisse der Hinterbliebenen einstellte (Abb. 6).


6 Nördlicher Friedhof Hull

Alle Beweise für die Ideale, die dem Rasenfriedhof zugrunde liegen, sind inzwischen verloren gegangen. Es erscheint ungewöhnlich, wenn sich Bemühungen um die Erhaltung auf diese Art von Friedhofslandschaft konzentrieren. Ihnen wird öffentlich einfach kein Wert als kulturelles Erbe zugeschrieben. Doch wie das Bild aus der City of London zeigt, wo diese Stätten noch immer mit Sorgfalt gepflegt werden, können sie immer noch den bescheidenen Wunsch artikulieren, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Einkommen gleich behandelt werden.

Fotos: Julie Rugg

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