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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Trauer in weiblicher Gestalt: Grabplastiken um 1900

Anmerkung der Redaktion: Der folgende Textauszug ist der verallgemeinernde, zusammenfassende Schlußteil eines ausführlicheren Beitrags der Kunsthistorikerin Dr. Gerlinde Volland, der sich mit dem Kölner Friedhof Melaten befaßt.

Der vollständige Text erschien unter dem Titel "Trauer in weiblicher Gestalt - Grabplastik um 1900 auf dem Friedhof Melaten" in der Zeitschrift "Denkmalpflege im Rheinland", 15. Jahrgang, 1998, Heft 1, S. 1-11. Wir danken der Verfasserin für die Erlaubnis zum Nachdruck.

Obwohl der Friedhof Melaten nicht in jeder Hinsicht repräsentativ ist, lassen sich an ihm einige interessante Entwicklungen im Hinblick auf das Weiblichkeitsbild der Sepulkralplastik um 1900 ablesen. Dieses Weiblichkeitsbild hängt zusammen mit der Einstellung zum Tod, die im 19. Jahrhundert vorherrschte.

Neben dem Denkmal war das Grabmal die zweite Hauptaufgabe für die Bildhauer und Bildhauerinnen des ausgehenden Jahrhunderts. Während mit dem Denkmal meistens "große Männer" im öffentlichen Raum geehrt und unsterblich gemacht werden sollten, bot das Grabmal auch weniger bekannten und berühmten Persönlichkeiten die Möglichkeit zur repräsentativen Selbstdarstellung oder zur Darstellung der Verdienste eines Angehörigen. Ungefähr seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden der erlittene Verlust, die Verzweiflung, der Schmerz, aber auch die Hoffnung auf Auferstehung häufiger als zuvor in weibliche Bilder gefaßt.

Weibliche Trauernde können als Personifizierung der Trauer schlechthin verstanden werden. Sie unterscheiden sich aber von anderen Allegorien, weil das Gefühl bzw. die Idee, die sie verkörpern, nicht im Widerspruch zum weiblichen "Geschlechtscharakter" steht, wie er seinerzeit definiert wurde 1. Trauer und Totenklage wurden schon seit Jahrhunderten bevorzugt im Bild der Weiblichkeit ausgedrückt. Nie zuvor aber war die "imaginierte Weiblichkeit" (Bovenschen) so beliebt und verbreitet, wenn es darum ging, den Tod und seine Begleitumstände in ein angemessenes Bild zu fassen.

Auf der Hand liegt zunächst einmal, daß mit dem Bild der schönen Frau oder des erotischen Engels auch die Schrecken des Todes gemildert und verdrängt werden konnten. Ariès hat das 19. und beginnende 20. Jahrhundert als Zeit der schönen Tode charakterisiert, in der der Tod infolge romantischer Verklärung als süß oder sogar verlockend erscheinen konnte. "Er ist pathetisch und schön geworden, schön wie die Natur, wie die Unermeßlichkeit der Natur, wie das Meer oder die Heide."2

Die Zeit der überwiegend weiblichen Figuren in der Sepulkralplastik begann nach der Reichsgründung und endete ungefähr mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Was Silke Wenk für das Denkmal dieser Zeit festgestellt hat, gilt offenbar auch für das Grabmal: "In der Allegorie [wie in der weiblichen Trauernden, G.V.] wird das Begehren ins Jenseits verschoben. Dieses Jenseits steht außerhalb der männlichen Ordnung, außerhalb der Konkurrenz und außerhalb des männlichen Abgrenzungszwanges. Dieses Jenseits scheint nur über den Tod des 'Männlichen' erreichbar." 3

Anders als Wenk bin jedoch ich der Ansicht, daß das Material, zum Beispiel Marmor, hier keine Unangreifbarkeit und Unvergänglichkeit evoziert. Gerade auf einem Friedhof mit seiner üppigen Vegetation kann man die Erfahrung machen, daß das Material unter freiem Himmel "lebt": Metall, speziell Bronze, oxidiert und setzt Patina an, Sandstein verwittert, Grabsteine werden von Efeu überwuchert und selbst Marmor wird von Moos überzogen: was im Sommer grün schimmert, wird im Winter, wenn das Moos abstirbt, graubraun. Spinnweben ziehen sich über Reliefs, Laub verwittert auf Grabplatten, in deren Vertiefungen sich Wasser sammelt.

Grabskulpturen machen so eine Wechselwirkung zwischen Kunst und Natur erlebbar. Nach Ariès kann die Epoche des schönen Todes gekennzeichnet werden mit dem Terminus vom "Tod des Anderen".
Ariès bezieht dies auf eine "Revolution der Gefühle", die zur Zeit der Empfindsamkeit und Romantik stattfand 4.
Der Tod des Anderen meint nicht den Tod eines beliebigen anderen, sondern eines nahestehenden Menschen. Dessen Verlust wurde um so bedrohlicher, je mehr die Isolation des Individuums und die Auflösung der Gemeinschaft fortschritt, die mit ihren Konventionen und Ritualen den Tod noch zu zähmen vermochte. In der Privatheit der bürgerlichen Kernfamilie wich die Bedeutung des eigenen Todes zurück gegenüber der Angst vor dem Tod des Anderen, auf dessen Tod man die eigene Angst projizierte. Als eine Art Beschwichtigung oder Trost wurde im Zuge der Säkularisierung eine ander Vorstellung vom Jenseits entwickelt, indem die Hölle "abgeschafft" und der Himmel zu einem Paradies der Seligen wurde, wo man die Wiedervereinigung mit den geliebten Menschen erwartete. Dieser beschönigte Tod des Anderen wird um die Jahrhundertwende im Bild der Weiblichkeit als dem "anderen Geschlecht" formuliert.

Ich konfrontiere hier bewußt zwei verschieden definierte Begriffe des Anderen: Das "andere Geschlecht" als das ferne oder fremde Andere (aus der Perspektive des Mannes) repräsentiert die Trauer um den nahen Anderen. Nähe und Ferne fallen im Bild der weiblichen Trauernden zusammen. Sie ist sowohl Allegorie der Trauer als auch Abbild der trauernden Frau, oder, umgekehrt formuliert: sie ist weder das eine noch das andere. Als Allegorie personifiziert sie die ausgelagerte, auf jemand anders verschobene, zunehmend tabuisierte Trauer; als trauernde Hinterbliebene zeigt sie die emotionale Nähe zum Verstorbenen an: Die Frau als "die Andere" trauert um "den Einen", Einzigen 5.

Das Bild einer trauernden Frau am Grab eines Mannes ist also mehr als die Widerspiegelung der Auffassung, daß Trauerarbeit Frauensache sei. Es ist der Inbegriff vom Tod des Anderen (im Sinne von Ariès) und symptomatisch für die Epoche.

Verhaltenheit und Resignation, die sich in weiblicher Trauerkundgebung ausdrücken, sind nicht nur auf bürgerliche Ablehnung unbeherrschter Affekte und die geforderte (Selbst-) Disziplin zurückzuführen oder auf die daraus folgenden ästhetischen Ideale "edler Einfalt und stiller Größe" (Winckelmann). Sie zeugt außerdem von einem veränderten Verhältnis zur Trauer, das sich schon im 19. Jahrhundert ankündigt und im 20. Jahrhundert offenkundig wird. Über ein gewisses, toleriertes Maß hinausgehende Äußerungen von Schmerz und Trauer werden nicht mehr geduldet. Wer sich ihrer schuldig macht, wird gemieden oder gar aus der Gesellschaft ausgeschlossen und pathologisiert. Das laute, ritualisierte, gemeinschaftliche Weinen der Klageweiber weicht der Totenstille der einsamen, versteckten Trauer. "[Die Familie] bekräftigt ..., indem sie sich auf sich selbst zurückzieht, die Authentizität ihres Schmerzes, der keinen Vergleich mit dem der anderen duldet, und es macht sich zugleich das diskrete Verhalten zu eigen, das die Gesellschaft von ihr verlangt."6 Für die atomisierte Gesellschaft bedeutet der Tod eines einzelnen nicht mehr die Bedrohung der Gemeinschaft. Sie kann ihn leicht verkraften und weitgehend ignorieren, zumal sie der Illusion erliegt, den Tod durch die Fortschritte der Medizin in seine Schranken verwiesen zu haben.

Das Gegenbild, die Frau mit einem Todesgenius oder männlichen Engel, ist dagegen nicht geeignet, den Tod des Anderen zu repräsentieren, da es nicht von der Nähe der Hinterbliebenen zur Verstorbenen handelt 7. Statt dessen spricht es von der Notwendigkeit der Trennung und von der Unterordnung unter die Autorität höherer Mächte. Der Verweis auf Himmel und Auferstehung durch den Engel impliziert keinen Hinweis auf Liebe, Verlust und Schmerz der Angehörigen. Der Frau wird im Vergleich zum männlichen Verstorbenen nur in Ausnahmefällen die Verheißung eines himmlischen Jenseits, der Wiedervereinigung mit einem geliebten Menschen oder der Lust in alle Ewigkeit gevoten. Indem ihr auch im Kontext des Todes kein Begehren zugestanden wird, werden herrschende Geschlechtsrollenzuschreibungen über den Tod hinaus fortgeschrieben. Eros bleibt aus ihrem Tod ausgeschlossen. Für sie hält das Jenseits meist nur geistliche Trösungen bereit.

Anmerkungen:

(1) Ansonsten tauchen Allegorien auf Melaten kaum auf, - wenn das als Spes oder Fides. Da hier die traditionelle, christliche Motivik weniger interessiert als die neuen profanen Motive, können sie hier vernachlässigt werden.

(2) Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 1989, S. 521-602; siehe auch die Bildbeispiele bei Philippe Ariès: Bilder zur Geschichte des Todes. München, Wien 1984, S. 253ff.

(3) S. Wenck: Die steinernen Frauen. Weibliche Allegorien in der öffentlichen Skulptur Berlins im 19. Jahrhundert. In: S. Anselm/B. Beck (Hg.:) Triumph und Scheitern in der Metropole. Berlin 1987, S. 91-114, hier S. 112.

(4) Ariès 1989, S. 782-785.

(5) Es handelt sich also um den umgekehrten Fall zu dem, den E. Bronfen untersucht hat: Nicht die Imagination von von der schönen weiblichen Leiche als Bild vom Tod "der Anderen" ist das Thema, sondern der reale Tod des Mannes als der des "Einen" wird im Regelfall thematisiert, und zwar so, als würde er aus der Sicht der trauernden Frau dargestellt. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine männliche Wunschphantasie vom eigenen Tod, die dem androzentrischen Universum entsprungen ist. E. Bronfen: Nur über ihre Leiche. München 1994.

(6) Ariès 1989, S. 740, auch S. 736f., siehe dazu U. Konnertz: Die Verdrängung des Todes. In: Dies. (Hg.): Weibliche Ängste. Ansätze feministischer Vernunftkritik. Tübingen 1989, S. 53-97, die die Trennung von Liebenden als eine Art kleinen Tod betrachtet.

(7) Auch in Isolde Ohlbaums Fotosammlung mit Beispielen von Grabplastik vieler europäischer Friedhöfe sind nur wenige Ausnahmen zu finden, die von der Liebe zu einer Frau bzw. zwischen Mann und Frau handelt; Isolde Ohlbaum: Denn alle Lust will Ewigkeit. Nördlingen 1986, 26f., 44f,, 110f., 134f., 152f. In allen anderen Fällen hat die Frau die Funktion, den Tod des Anderen zu symbolisieren, in dem Sinne, wie ich es oben beschrieben habe.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Moderne Grabmalkultur (Mai 1999).
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