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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Ein Engel auf Reisen

Denn er hat seinen Engeln befohlen über Dir,
dass sie Dich behüten, auf allen Deinen Wegen,
dass sie Dich auf den Händen tragen und
Du Deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest,
dass sie Dich auf den Händen tragen,
dass sie Dich behüten auf allen Deinen Wegen
(Psalm 91)

Seit einem Jahr lebe ich mit einem Engel zusammen. Der Engel ist weiblich und heißt Muriel. Der Engel Muriel ist der Engel des Monats Juni, sein Gewand schimmert grünlich. Muriel beschützt mich. Lange Zeit lebte sie in Harvestehude. Wer seinen Blick gen Himmel wendete, konnte sie auf dem Dach eines Hauses im Mittelweg thronen sehen. Muriel ist stolz und schön. Hoch gewachsen, in Bronze gegossen mit Flügeln, die kühn in die Höhe ragen. Seit dem Frühjahr 2007 steht sie in einem Spiegelsaal in der Hafencity. Sie ist stumm, doch verbreitet sie eine Aura, die jeden Ankömmling erst einmal in Staunen versetzt. Weil Muriel es allemal würdig ist, habe ich mich auf den Weg gemacht, ihre Geschichte zu recherchieren.

Im Jahre 1895 wurde Muriel in München in Form gegossen. Sie ist etwa 2,40 m groß und wiegt über 500 kg. Der Bildhauer Heinrich Ueberbacher verlieh Muriel ihren individuellen Ausdruck. Diese Skulptur ist keine Galvano-Plastik, wie die meisten Engelskulpturen, sondern ein Bronze-Unikat. Das macht sie so besonders.

Seit jeher ist Muriel eine Reisende. Ein Vagabund in Engelgestalt. Da Muriel aus fünf Teilen besteht, die montierbar sind – Kopf mit Oberkörper und linkem Arm, rechtem Arm, Rumpf mit Beinen und zwei Flügeln – kann man die Skulptur transportieren.

Von ihrem Entstehungsort München aus verschlug es Muriel in einen Schlossgarten eines Domizils in Schleswig-Holstein. Dort stand sie viele Jahre lang. Wenn man genau hinschaut, erkennt man nur notdürftig reparierte Löcher an Muriels Körper. Es sind Einschusslöcher, Wunden aus dem ersten großen Weltkrieg. Geschosse machen auch vor Engeln nicht halt.

Engel Hafen-City
Der weit gereiste Bronzeengel in der Hamburger Hafen-City
(Foto: Julia Wachsmann)

Muriel selbst stand vermutlich nie auf einem Friedhof. Sie hat aber eine jüngere Schwester. 1897 ebenfalls von Heinrich Ueberbacher erbaut, steht diese in Planfeld W 21 des Ohlsdorfer Friedhofs und schmückt eines von drei Familiengräbern der Familie Oetling.

Vor nunmehr dreißig Jahren entdeckte ein damals junger Jurastudent Muriel in einem Antiquitätenladen in Hamburg. Dort war sie in der Zwischenzeit gelandet. Von ihrer imposanten Erscheinung ergriffen, zögerte der junge Mann nicht lange und nahm sich des Engels an. Oder der Engel sich seiner? Wie auch immer – dreißig Jahre lang behütete Muriel fortan ihren neuen Eigentümer. Sie reiste ihm hinterher: Acht Jahre lang stand sie im Garten seines Hauses in der Böttgerstraße und zog mit ihm mit, als er sich ein Penthouse am Mittelweg baute. Dort verfrachtete er Muriel aufs Dach, damit sie von dort aus alles im Blick habe und ihn und sein Haus behüte. "Engel haben mich schon immer fasziniert. Spirituelle wie Greifbare. Es gibt ja auch Engel in Menschengestalt. Meine Frau ist ein solcher. Sie und fünf kleine Engelskulpturen erhellen mein Haus," erzählt er mir.

Ein Freund des Juristen liebäugelte schon lange mit Muriel: Wollte er doch in seinem frisch errichteten Spiegelsaal einen schützenden Geist wissen. Muriel schien wie gemacht dafür. Sie steht nun – als Leihgabe –, leicht vorgebeugt und mit Patina umwoben zwischen Stucksäulen und zwei weißen Flügeln.

Wenn ich meine Arme ausbreite, kann ich Muriels Fingerspitzen berühren. Und ich bin mir sicher: Ihre Flügel würden mich tragen, wenn meine Zeit gekommen ist.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Engel Engel Engel (März 2008).
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