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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Himmlisches Geflügel

Autor/in: Peter Schulze
Ausgabe Nr. 100/101, I+II, 2008 - März 2008

Die große Zeit der Friedhofsengel ist längst vorbei.

Spätestens, seit nach dem Ersten Weltkrieg auch nachhaltige Friedhofreformen mit rigiden Grabmalvorschriften eingeleitet wurden, war Schluss mit den bourgeoisen Familiengräbern und mit aufwendigen Figuren auf diesen Gräbern. Die besonders in Ohlsdorf noch relativ zahlreichen Skulpturen von Friedhofsengeln aus Marmor, aus Bronze oder als Kopien solcher Kunstwerke in Form von Galvanoplastiken grüßen uns wie Boten einer vergangenen Epoche von ihren Sockeln. Die Musterbücher der Grabmalreformer sahen dagegen vor, dass sich Grabmale für Arm und Reich fortan in Form und Größe prinzipiell nicht mehr unterscheiden sollten.

Aber – es kommt anscheinend anders: Das Blatt scheint sich zugunsten der Engel zu wenden. Von den Engeln, die von traditionsbewussten Zeitgenossen in Patenschaft genommen und weiter gepflegt werden, einmal abgesehen, lassen sich seit Ende des zwanzigsten und Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts immer öfter neu aufgestellte Engelsfiguren auf Ohlsdorfer Grabstätten antreffen. Die meisten sind nicht ganz so groß wie ihre lebensgroßen Verwandten aus der Kaiserzeit (1871 – 1918), aber immerhin: Es gibt sie aus Bronze, aus Marmor, aus Porzellan und aus Keramik. Engel sind wieder im Kommen!

Während indes die Engel aus alten Zeiten deutlich Zeugnis von gelebter Religiosität und Frömmigkeit zu geben scheinen – mit ernster Miene weisen sie mit einer Hand zumeist gen Himmel – spiegeln neu aufgestellte Engelsfiguren offen die ganze Pluralität der heutigen Gesellschaft. Wir sehen nicht mehr nur die dutzendfach vervielfältigten Galvanoengel aus den Musterbüchern galvanoplastischer Fabriken, sondern treffen Skulpturen unterschiedlichster Provenienz aus den verschiedensten Materialien an. Sie stehen auch nicht mehr Ehrfurcht einflößend auf einem hohen Sockel, wie es früher üblich war, sondern direkt auf dem Boden oder hocken gar ganz irdisch zwischen den Eisbegonien der Grabbepflanzung. Ein paar Beispiele dafür sind hier abgebildet:

Lorentzen
Lorentzen, Foto: Peter Schulze

Eine traditionelle Engelsfigur, allerdings nicht auf einem hohen Sockel, sondern in Bodennähe aufgestellt, findet man auf der Grabstätte Lorentzen Eine gleichartige Figur gibt es auch auf der Grabstätte Hansen/Qualmann. Sie stammt aus der Bildhauerwerkstatt Leonard Rossi, Italien, und wurde im Jahr 2003 aufgestellt.

Lütjohann
Lütjohann/Schneider (Lage R 10, 379-380) Foto: Peter Schulze

Ein Engel aus weißem Marmor wurde im Jahre 2005 bodennah zwischen zwei rechteckigen Marmorstelen auf der Grabstätte Lütjohann/Schneider (Lage: R10, 379-380) aufgestellt.

Ein zusammengekauerter weißer Marmorengel hockt inmitten der Blumenrabatten auf dem Grab der im Jahre 2000 verstorbenen Margret Hentrich (Lage: Bm 59, 507). Der Engel sitzt auf einem pyramiden-stumpfförmigen quadratischen Marmorsockel mit Inschrift der Lebensdaten der Verstorbenen. Auch diese Engelsfigur stammt aus Italien.

Hentrich
Hentrich (Lage Bm 59, 507) Foto: Peter Schulze

Während für die Aufstellung eines lebensgroßen Bronzeengels oder einer massiven Engelsskulptur aus einer italienischen Marmor-Werkstatt zugegebener Maßen die Bereitschaft zu einem beträchtlichen finanziellen Aufwand vorausgesetzt werden muss, zeigt sich, dass auch Hinterbliebene mit geringerem Budget nicht auf den Schutz der Engel verzichten wollen oder müssen. Geflügelte Figuren kann man schließlich auch in kleinerem Maßstab anfertigen, und wer weiß, ob sie nicht die gleiche Schutzfunktion erfüllen wie ihre großen Verwandten. Es gibt sie in Baumärkten und bei Friedhofsgärtnereien, in Keramikwerkstätten und Kaufhäusern. Und weil sie leicht erhältlich sind, Putten mit Flügeln und kleine Keramikfiguren so ab 1,99 Euro pro Stück, sind sie inzwischen auch fast allgegenwärtig auf dem Friedhof.

Keramik vor Grabstein
Kleine Keramikengel vor dem Grabstein... Foto: Peter Schulze

Wer da denkt, in der im Juli 2002 angelegten neuen Schmetterlingsgrabstätte (Lage: AE 46) sei grundsätzlich alles mit Schmetterlingsmotiven zu dekorieren, der wird erstaunt sein.

Keramik auf Grabstein
Keramikengel auf dem Grabstein... Foto: Peter Schulze

Dort scheint ein ganzes Geschwader des himmlischen Geflügels gelandet zu sein. Der Autor zählte an einem Oktobertag 2007 allein an dieser Stelle zwanzig unterschiedliche Engelsfiguren in Größen zwischen zehn und siebzig Zentimetern. Ähnliche Figuren in großer Zahl sind auch auf den Urnengrabfeldern entlang des Inselteiches und in mehr oder weniger großer Konzentration vielerorts auf dem Friedhof Ohlsdorf zu finden.

Bauchlandung
...und Bauchlandung eines Engels im Blumenbeet. Foto: Peter Schulze

Es hat den Anschein, als wenn der zunächst auf den Gemeinschaftsanlagen für Kindergräber auftretende Brauch, Teddybären und Spielzeugartikel auf den Grabstellen dekorativ aufzustellen, welcher dort noch als rührende und kindgemäße Form der Trauer empfunden werden konnte (vgl. "Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur", Nr. 74, III/2001), sich nach und nach flächendeckend in Form flügelbewehrter Keramikfiguren über das gesamte Friedhofsareal ausbreitet. Fragt sich nur, ob diese mit keiner Friedhofsordnung in Einklang stehende Form der Grabdekoration nicht zu einer Verflachung der traditionellen Trauerkultur und letztendlich zu einer Vermüllung des Friedhofs führt.

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