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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Maritime Trauer an der Bucht von Arcachon

Schnurgerade dehnt sich die 200 Kilometer lange Silberküste oder Côte d’Argent im Südwesten Frankreichs von der Gironde-Mündung bis ins Baskenland.

Nur an einer drei Kilometer breiten Stelle werden die weißen Strände zwischen Atlantik und Pinienwald unterbrochen; es ist der Eingang zur Bucht von Arcachon mit der 117 Meter hohen Wanderdüne von Pilat im Südosten – der höchsten Europas – und der gegenüber liegenden Landzunge vom Cap Ferret im Nordwesten. Wie ein schützender Wall wirkt hier die 25 Kilometer lange Halbinsel aus Sanddünen und Kiefern, deren Geschichte und einmalige Naturlandschaft zwischen zwei Meeren auch drei interessante Friedhöfe prägten.

Von Kreuzen am Meer

Beinahe trügerisch mag diese Harmonie in drei Farben wirken, wenn man bedenkt, welchen Naturkräften sie fortwährend ausgesetzt ist. Zweimal täglich strömt der Ozean durch die Fahrrinnen und Sandbänke des Eingangs in die geschützte dreieckige Bucht hinein: riesige Wassermengen, die bei normalen Tiden 230 Millionen Kubikmeter ausmachen und sich mit einer Geschwindigkeit von zwei Meter pro Sekunde bewegen, im Herbst oder Frühling aber bis zu 420 Millionen, was 17.000 Kubikmeter pro Sekunde gleichkommt! Damit bedeckt die Flut eine Fläche von rund 15.000 Hektar, von denen bei Ebbe nicht mal ein Drittel unter Wasser stehen – ideale Voraussetzung für die hier berühmte Austernzucht, die etwa 150 Jahre alt ist und heute den Feinschmeckern jährlich 12.000 Tonnen dieser Delikatesse liefert. Die Kraft der viermal pro Tag einwirkenden Strömungen kann bei Stürmen und hohen Tiden so gewaltig sein und das Meer so wild, dass dort die Sandbänke wie auch die schweren Bunker des zweiten Weltkriegs (nach wie vor präsente Überreste des deutschen Atlantik-Walls) immer wieder wandern, neuerlich erscheinen oder vorübergehend verschwinden. Auf diese Weise von drei verschiedenen Seiten dem Wind und dem Meer ausgesetzt, weicht die Landspitze vom Cap Ferret in den letzten Jahren zusehend ins Landesinnere zurück.

Nicht verwunderlich also, dass die gefährlichen Fahrrinnen und Strömungen seit jeher zu zahlreichen Schiffbrüchen geführt haben. Mehrere Villen an der Landspitze sollen auch den Namen von verunglückten Schiffen tragen. Eines der dramatischsten Unglücke bleibt der Sturm vom 28. März 1836, bei dem erschöpfte Fischer vergeblich versuchten, mit ihren sechs Segelschaluppen ohne Deck zurück in die Bucht zu gelangen; unter den Augen ihrer hilflosen Angehörigen kamen damals in nur einer Nacht 78 Menschen um, 161 Waisen zurücklassend. Damit sich solche Dramen nicht wiederholen, wurde im darauf folgenden Jahr der erste Schleppnetz-Fischdampfer der Welt in der Bucht von Arcachon gebaut; der Bau des 51 Meter hohen Leuchtturms vom Cap Ferret (von dem aus man heute noch den schönsten Rundblick über Atlantik, Wälder und Bucht genießen kann) war noch 1836 in Angriff genommen worden, seine Fertigstellung gelang 1840. Jahre später – um 1870 oder 1871 – wurde an der Spitze des Cap Ferret ein steinernes Kreuz zur Erinnerung aufgestellt, das 1872 erstmalig auf einer Karte erscheint; damals vom Meer aus sichtbar, aber heute im Inneren halb versandet, gilt es inzwischen allen dort ertrunkenen Seeleuten.

Wie auch in anderen Fischerdörfern der Bucht, findet man am Ausgang des Hafens von Arcachon ebenfalls ein sogenanntes "Croix des Marins", hier ein großes modernes Kreuz. Viel wichtiger und viel älter aber ist ein anderes "Kreuz der Seeleute"; 1722 erstmals neben der ehemaligen "Kapelle der Seeleute" aufgestellt, wurde es 1855 wegen Zerstörung durch Windböen ersetzt. Eine erste Holzkapelle war nämlich 1519 vom Mönch Illyricus für eine gestrandete Skulptur der Jungfrau Maria mit Kind erbaut worden; als Wallfahrtsort dann mehrmals vergrößert, wurde sie schließlich 1953 als "Basilique Notre-Dame d’Arcachon" durch Papst Pius XII. neu errichtet. Um 1900 war es für alle Seeleute, die auf ihren leichten Barkassen zum Ozean und seinen Gefahren hinausfahren sollten, üblich, vor diesem zweiten Kreuz zweimal mit dem Nebelhorn zu hupen. Von der katholischen Tradition bleibt heute noch lebendig, dass viele Seeleute weiteren Schutz bei der Madonna suchen: etwa am 25. März, dem Tag der Verkündigung, sowie am 15. August, Mariä Himmelfahrt, wo viele Bootsbesitzer auf dem Wasser sich bei einer Open-Air-Messe mit ihren Schiffen segnen lassen.

Überhaupt war der Glaube um 1900 rund um die Bucht weit verbreitet – und in gleichem Maße stark von Aberglauben geprägt. So ging man davon aus, dass der Verstorbene keine Zeit mehr kannte – weshalb in seinem Haus alle Uhren gestoppt, die Jalousien zugemacht und sämtliche Spiegel verschleiert wurden. Bienen erfuhren das Ableben ihres Imkers durch einen schwarzen Trauerflor auf den Bienenstöcken; und damit der Teufel die Seele eines Toten nicht vor seiner Beerdigung fortnahm, wurden Verstorbene mitunter Tag und Nacht durch ihre Nächsten bewacht, welche sie dabei reichlich mit Weihwasser besprengten. Eine große geweihte Kerze am Kopf sollte ihm seinen Weg ins Jenseits erleuchten.

Auf der Arcachon gegenüberliegenden westlichen Seite der Bucht kennt ein hohes monolithisches Kreuz ebenfalls eine besonders lange Geschichte; es steht auf halber Strecke der Halbinsel im Ort Claouey an einem Straßenbogen, von dem aus der Besucher einen der seltenen und schönsten Ausblicke über die ganze Bucht genießen kann. Dieses Kreuz wird ins 16. Jahrhundert datiert und stand ursprünglich im Norden der Halbinsel auf dem gleichaltrigen Friedhof von Lège. Der Friedhof, der seinen Standort bei der Kirche hatte, dort aber regelmäßig überschwemmt worden war, wurde 1868 an seinen jetzigen Platz verlegt. Lange schon lag das Kreuz am Boden, es wurde vom Priester dadurch gerettet, dass er es auf sein Grundstück in Claouey stellte – gegenüber des jetzigen Standorts, auf der anderen Straßenseite. Wieder umgestürzt und vom Verkehr gefährdet, wurde es 1963 vom zweiten Bürgermeister noch einmal gerettet und neu aufgestellt.

Claouey
Kreuz von Claouey (Foto: Behrens)

Da es sich heute tatsächlich um das älteste Denkmal der Halbinsel handelt, wurde es 1997 endgültig und offiziell mit Gedenktafel restauriert und von seiner weißen Tünche befreit. Darüber hinaus erinnert es insbesondere ältere Menschen an ein dramatisches Ereignis, das sich in dieser Zeit ereignete: Damals unternahm dort eine Schulklasse eine Wattwanderung; angesichts der steigenden Flut gerieten viele Schüler in Panik und ertranken in den schmalen, aber tiefen Fahrrinnen.

Die Halbinsel und ihre Friedhöfe

Die Halbinsel vom Cap Ferret blieb sehr lange unbewohnt, ein Zeuge berichtet noch 1732 nur von gefährlichen, blendend weißen Dünen. Auch das damalige Dorf Lège im Norden wich traditionell vor den wandernden Sanddünen zurück – allein im 16. Jahrhundert wechselte es dreimal den Standort! Eine wirkliche Befestigung dieser Dünen begann erst 1819. Die Landzunge des Cap Ferret bevölkerte sich zuerst in den 1880er-Jahren mit einigen Fischer-Holzhütten für die beginnende Austernzucht. Anfang des 20. Jahrhunderts profitierte die Halbinsel allmählich von der Entwicklung des Seebads Arcachon (das heute über 11.000 Einwohner zählt), wodurch es regelmäßig von Liniendampfern angelaufen wurde. Erst 1929 aber wurde die Landzunge von einer Straße erschlossen – nachdem bis dahin alles, auch Baustoff, nur per Schiff diesen abgeschiedenen Winkel der Erde erreichte. So erklärt sich auch von selbst, dass die Friedhöfe der Halbinsel, die südlicheren vor allem, eine relativ junge Geschichte aufweisen. Das Cap Ferret, lange Zeit Teil der Kommune von La Teste (östlich von Arcachon auf der anderen Seite der Bucht), gehört seit 1976 der Kommune von Lège-Cap Ferret. Diese erstreckt sich damit über 25 Kilometer Länge, zählt mehrere Ortschaften und eine Bevölkerung von circa 6.300 Einwohnern – die im Sommer allerdings auf das fünfzehnfache wächst.

Heutzutage stehen drei Friedhöfe zur Verfügung für die Personen, die dort wohnen, dort gestorben sind, oder dort einen Begräbnisplatz besitzen, der dann aber unabhängig von ihrem Wohn- beziehungsweise Sterbeort ist. Der Friedhof von "Lège-Bourg" von 1868 und damit der älteste, ist heute praktisch voll belegt, so dass die Stadtverwaltung mehrere Entschlüsse fassen musste. Der alte Friedhof soll zuerst um 2.000 m2 vergrößert werden, solange der geplante neue Friedhof noch nicht entstanden ist; darüber hinaus werden die Begräbnisplätze nur noch auf 15 oder 30 Jahre vergeben, statt auf Friedhofsdauer, während ihre jeweilige Größe nur noch 3,60 m2 betragen darf anstatt der bisherigen 6 oder gar 9 m2. Neuerdings verfügt dieser Friedhof über ein kleines Kolumbarium mit 16 Begräbnisfächern zu je vier Urnen (für nur 15 Jahre); auch geplant ist ein Garten der Erinnerung, wo Aschen gestreut werden können. Die anderen Friedhöfe sind durch die neue Verbindungsstraße entstanden und viel jünger, beide entfernt von Siedlungen und auf Sanddünen gelegen. Der kleine Friedhof "Les Jacquets" auf halber Strecke zum Kap ist kürzlich vergrößert worden; der südlichste und wesentlich größere Friedhof "L’Herbe" bedient sowohl das traditionsreiche Fischerdorf mit dem selben Namen als auch die weit ausgedehnte Ortschaft "Cap Ferret".

Die beiden letztgenannten Friedhöfe sind besonders stark von der Umgebung der Halbinsel geprägt, vom Meer und vor allem vom Sand, der allgegenwärtig ist. Es sind wahre Sandoasen mitten im Kieferwald, trotz der hohen Betoneinfriedung, der wenigen befestigten Wege und geteerten Straßen, trotz auch der zahlreichen Gräber oder Gruften aus Marmor, anderem Naturstein oder Zement. Parallel dazu wurden viele der hiesigen Verstorbenen sehr einfach im Sand bestattet, manche älteren Gräber sind außerdem durch den Wind versandet. Kaum findet man Bäume, selten Blumen, wenn überhaupt dann einheimische Pflanzen wie Immortellen, Heide und Lavendel, dazu Dekorationen aus der Gegend: Kiefernborken, Strandgut, Muscheln und Steine.

Viele Motive werden vom Meer geliefert und finden sich wieder auf den Gräbern, manchmal schon bei der Gestaltung des Grabes durch den Steinmetz, wie zum Beispiel ein in Form einer Welle gefertigtes Grab aus Granit, von einem eingravierten Delphin geschmückt (springende Delphine begleiten gelegentlich die Boote in der Bucht). Algen als Skulptur, ein Propeller oder ein Anker sind typische Beigaben, ebenfalls die in Frankreich so beliebten und viel verwendeten Erinnerungstäfelchen, die von der Landschaft der Bucht und von der Arbeit der Austernzüchter und Fischer erzählen.

Schiffsdarstellung
Schiffsdarstellung auf Erinnerungstafel (Foto: Behrens)

Die Lieblingsschiffe werden ebenfalls darauf dargestellt: Segeljolle, Schleppnetzschiff, wiederholt eine "Pinasse", das alte traditionelle Motorboot der Bucht. Wohl nach dem lateinischen Pinus (Kiefer) so genannt, war es ursprünglich ein von zehn bis zwölf Männern besetztes, bis zu 14 Meter langes, flaches Segelboot, dessen Konstruktion ohne ein einziges Stück Eisen auskam; 1988 gab es davon noch 28 Exemplare. Die Täfelchen erzählen weiter von den Lieblingsbeschäftigungen der Verstorbenen, etwa dem Surfen, Boules-Spielen oder Jagen, was allesamt dort sehr verbreitete Tätigkeiten sind. Auf dem Friedhof von L’Herbe rühmt ein Mahnmal die Helden der beiden Weltkriege, die in Nordafrika und in den Überseegebieten fielen; viele einzelne Gräber oder Täfelchen erinnern an Kampfkameraden, Medaillenträger und ehemalige Deportierte.

Zwei bewegende Gräber sollen an dieser Stelle besondere Erwähnung finden. Das erste befindet sich auf dem Friedhof von Les Jacquets und stand vor zwei Jahren noch für sich im neuen Erweiterungsgebiet. Sehr überraschend war mitten in dieser Sandwüste allein das hochragende weiße Holzkreuz, rundherum von sehr vielen frischen Blumen geschmückt; weit mehr aber rührte die Inschrift: Das weißgetünchte und so schön gepflegte Grab war mit blauer Schreibschrift und bunten Schmetterlingen frisch bemalt: "Chut!!! Maman dort" –"Pst!!! Mama schläft".

Dem zweiten Grab begegnet man eher zufällig auf dem Friedhof von L’Herbe, da es bescheidene Ausmaße hat und etwas versteckt liegt. Das kleine moderne Granitgrabmal, dreieckig wie die Bucht, steht auf einem quadratischen Sandfeld, das mit einer tiefen Reling eingegrenzt worden ist. Es trägt fünf Namen und erinnert an einen tragischen Unfall, bei dem vor zwanzig Jahren drei Kinder und zwei Erwachsene – vier Personen der selben Familie – auf See ums Leben kamen. Es mahnt den Besucher, nicht zu vergessen, wie grausam das Meer sein kann. Jedes Jahr ertrinken viele Urlauber in den tückischen Wellen und Strömungen des Atlantiks, die Bucht aber beklagt ebenfalls ihre Toten. Im vergangenen Sommer ertrank während der Feiern zum 14. Juli ein neunzehnjähriger junger Mann, der mitten in der Nacht von seinem Boot gestürzt war; trotz sofortigen Einsatzes der freiwilligen Rettungsmannschaft und eines Hubschraubers mit starken Strahlern wurde er erst am dritten Tag unweit der Unfallstelle gefunden.

Dennoch: Für die Meisten, Anwohner wie Besucher, ist und bleibt die Bucht von Arcachon ein erholsames Idyll – nicht nur im Sommer, sondern auch im Frühjahr wenn Mimosen und Ginster blühen, oder während des oft sehr milden Herbstes. Wie der große französische Schriftsteller François Mauriac es überzeugt behauptete, fördern Ebbe und Flut dort Inspiration und Kreativität. Andere bekannte Namen der Literatur oder des Chanson belegen dies ebenfalls: wie etwa Jean Cocteau, Marcel Aymé, Jean Anouilh, Gabriele d’Annunzio oder Jacques Brel – ganz unabhängig von der Seite der Bucht, die sie bevorzugten.

Literatur:

Christian FERBER: Geschwungen wie eine Auster: Die Bucht von Arcachon, in: Bordeaux, Merian, Heft 7/XIX, Juli 1966, S. 26-29

Jacques RAGOT: Le Cap Ferret de Lège à la Pointe, 1973-74, 2 Bände, 99 + 120 Seiten

Fous de Bassin, Editions Vivisques, 1988, 109 Seiten

Didié SORBÉ, Karin HUET: Terres marines, Bassin d’Arcachon, 1995, 107 Seiten

Max BAUMANN: Une croix qui revient de loin, in: Bulletin de la Société Historique et d’Archéologie d’Arcachon et du Pays de Buch, N° 91, 1. Trim. 1997, S. 71-72

François et Françoise COTTIN: Le Bassin d’Arcachon, Au temps des pinasses, de l’huître et de la résine, L’Horizon chimérique, 2000, 363 Seiten

Sven APPEL: Die Austern von Arcachon, Hamburger Abendblatt, Reise & Touristik, 3./4. November 2001

Karen AMME: Ein Urlaub in drei Farben, Hamburger Abendblatt, Reise & Touristik, 4./5. September 2004

Davantage de place dans le cimetière de Lège, in : Les Nouvelles de la Presqu’île, Journal de la Commune de Lège-Cap Ferret N° 24, Avril 2004

www.arcachon-guide.fr/ville/printemps.html
www.ville-lege-capferret.fr
www.leonc.net/capferret
www.leonc.net/histoire/passes/passes.htm
www.participez.com/reportage

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