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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Tod, Trauer und Weiblichkeit in der Grabmalkultur vom späten 18. bis frühen 20. Jahrhundert (Teil I)

Die "Trauernde" ist eine der häufigsten und kulturhistorisch bemerkenswertesten Grabmalfiguren des bürgerlichen Zeitalters. Wie kaum eine andere sepulkrale Figur verkörpert sie den "sanften Tod", der diese Epoche auf den Friedhöfen repräsentiert.

Der folgende Beitrag will dem gesellschaftlichen Umfeld, der Mentalität und den kunsthistorischen Traditionen nachspüren, mit denen die wissenschaftlich bislang nur wenig erforschte Grabfigur der "Trauernden" verbunden ist.

"Auch die Trauer ist schön …" schrieb Friedrich Schiller einmal.1 Der Dichter, dessen Überlegungen anderen Orts der ästhetischen Erziehung des "Menschengeschlechts" galten, drückte mit seinen knappen Worten das neue, sublimierte Bild vom Tod aus, das im späten 18. Jahrhundert aufkam. Den naturalistischen Darstellungen des Barock wurde ein "sanfter" Tod entgegengesetzt. Auf den Grabstätten zeigte sich dies unter anderem in floraler Symbolik und melancholisch-sanften Plastiken, insbesondere in der Grabfigur der "Trauernden". In typologischer, nur wenig variierter Gestensprache repräsentierte die "Trauernde" den ästhetisch-gefühlsbetonten Abschied vom Leben: stehend, gebückt, sitzend oder schmerzvoll in sich zusammengesunken, manchmal anmutig verhüllt, mit häufig hingebungsvoll-wehmütigem Blick und charakteristischer Körperhaltung, dabei nicht selten makellos rein und schön, kaum verhüllt und von erotischer Ausstrahlungskraft.

Diese Sepulkralfigur wurde von der klassizistischen Kunst des späten 18. Jahrhunderts, von Bildhauern wie Canova, Schadow und Dannecker, eingeführt (und wir werden die ikonologischen Traditionen im zweiten Teil des Textes ausführlich erläutern). In der Folgezeit, vor allem aber in der Epoche um 1900, tauchte die "Trauernde" dann immer häufiger auf den Familiengrabstätten des städtischen Bürgertums auf. Mit der ihr eigenen Aura verkörperte sie, wie kaum etwas Anderes, das gesellschaftlich kultivierte Gefühl bürgerlicher Trauer.

Bürklin
Hauptfriedhof Karlsruhe, Mausoleum Bürklin, 1887 (Foto: Fischer)

Diese Imagination des Weiblichen hat eine lange, aufschlussreiche Geschichte – und damit ist die "Trauernde" mehr als eine bloße kulturhistorische Anekdote. Im bürgerlichen Zeitalter wurde der Habitus weiblicher Trauer als geschlechtsspezifische Rollenzuweisung und -übernahme regelrecht kultiviert. Frauen galten als Trägerin von "Kummer und Leid", ihnen wurde eine besondere "Gefühlskompetenz" in Sachen Trauer zugesprochen.2 So ließ Ludwig Tieck in seiner Novelle "Der junge Tischlermeister" (1836) einen Jüngling der Vorstellung frönen, "daß eine trauernde Schöne den Leichnam ihres jungen Geliebten auf einer Linde hegt und betrauert …"3

Diese hierarchische Rollenzuweisung wurde auch auf den Grabstätten in aller Anschaulichkeit nachvollzogen. Nicht selten nämlich schaut die "Trauernde" zu jenem auf, dessen Verlust den Schmerz und die Wehmut auslöste: dem männlichen Familienoberhaupt, der in Büste oder Relief auf dem Grabstein manchmal abgebildet ist. Die "Trauernde" selbst hingegen bleibt in der Regel anonym – ihre charakteristischen Gesten entspringen einer "imaginierten" Weiblichkeit.

Dass die Begräbnisplätze überhaupt eine Kulisse für solche Pathosformeln werden konnten, lag im Wandel der Friedhofsästhetik begründet. Lange Zeit kaum mehr als ungepflegte, wenig erschlossene Anlagen, erhielten viele städtische Friedhöfe im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein neues, von garten- und landschaftsästhetischen Elementen geprägtes Kleid. Ihre Gestaltung wurde zunehmend als gesellschaftlich bedeutsame Aufgabe empfunden. Den Höhepunkt dieser Ästhetisierungswelle bildeten die Park- und Waldfriedhöfe der Kaiserreich-Zeit. Die Grabstätten konnten in dieser romantischen Sepulkrallandschaft geradezu aufgehen. Die Begräbnisstätten wurden auch von der bürgerlichen Kunst und Literatur gern thematisiert: stellvertretend für viele sei auf Schriftsteller wie Theodor Fontane4 sowie Maler wie Caspar David Friedrich und Arnold Böcklin verwiesen. Bei Letzterem wurde der Tod symbolisch überhöht und metaphorisch aufgeladen – eingebettet in romantische, zuweilen mystische Landschaften. 5

Carolina
München, Theatinerkirche, Grabmal Prinzessin Carolina Maximilia von Bayern, 1825 (Foto: Zander)

Derart gesellschaftlich anerkannt reihten sich die Friedhöfe – neben Parks und Promenaden – in jene Orte ein, die das städtische Bürgertum im 19. Jahrhundert zu repräsentativen Zwecken schuf. Friedhöfe wurden zum Ort sonntäglichen Spazierganges, auf dem sich Bürgerlichkeit in der Verbindung von Pietät und romantischer Naturästhetik äußerte. Auch die Grabfigur der "Trauernden" fand in dieser Sepulkralkulisse ihren Platz, ließ sich ihre melancholische Aura doch aufs Beste mit dunklem Koniferengrün und den hängenden Zweigen von Trauerweiden verbinden. Aber erst durch einen abrupten Traditionsbruch erreichte – so paradox es klingt – die "Trauernde" den Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchten nämlich massenhaft Nachbildungen einstiger künstlerischer Originale auf den städtischen Friedhöfen auf. Die inzwischen serienreife Technik der Galvanoplastik ermöglichte die industrielle Großproduktion von Grabfiguren. Damit wurde die "Trauernde" – wie auch andere Formen der Sepulkralkunst – zur kunstgewerblichen Massenware, beliebig bestell- und reproduzierbar. Die industrielle Technik ließ aus der ursprünglichen Aura der Empfindsamkeit ein sentimentales Klischee werden. "Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura", schrieb der Kulturkritiker und Philosoph Walter Benjamin einmal in einer berühmt gewordenen Studie6 – als hätte er dabei die städtischen Friedhöfe der Zeit um 1900 vor Augen gehabt…

München
München, Alter Südlicher Friedhof (Foto: Zander)

Dass aber gerade das industrialisierte Klischee der "Trauernden" so sehr den Nerv der Zeit traf, lag in der höchst mehrdeutigen, widersprüchlichen Mentalität der wilhelminischen Gesellschaft begründet. Einer Imagination des vermeintlichen "Reinen" und "Schönen" im Weiblichen entsprungen, war der manchmal kaum verhüllte Körper der "Trauernden" zur Projektionsfläche unterdrückter Sinnlichkeit geworden. Jenseits der Traditionen ästhetisch kultivierter Trauer und bildungsbürgerlicher Ideale verwies ihre aktuelle Popularität nunmehr auf die Verunsicherung der Gefühlswelten in einem Zeitalter, dessen Konventionen es immer noch schwer machten, die Untiefen körperlicher Begierden öffentlich auszuloten.7 Gerade in einem Zeitalter gesellschaftlicher Säkularisierung – umgekehrt gesagt: des Verlustes christlich-religiöser Sinnstiftung – bot das Bild der "schönen Frau" eine neue Möglichkeit, unterdrückte Gefühle auf ästhetisch sublimierte Weise zu verarbeiten. Als Massenphänomen vermittelte die "Trauernde" einen Eindruck von jenem untergründig schwelenden Begehren, das die Kehrseite der kalkulatorisch-technischen Lebenswelt der Hochindustrialisierung bildete. Es war die Epoche, als die Doppelbödigkeit bürgerlicher Sitten und Konventionen immer offensichtlicher wurde, als das Korsett der Wohlanständigkeit nicht mehr hielt.

Franke
Berlin-Kreuzberg, Friedhof Bergmannstraße, Grabmal Franke, 1928 (Foto: Zander)

So hatte die "Trauernde", gesellschaftlich gesehen, eine kompensatorische Funktion. Was die konventionellen Werte und Normen der bürgerlichen Gesellschaft (noch) verhinderten und verbargen, konnte sich in der ästhetischen Sublimierung der Grabfigur seinen Ausdruck verschaffen. Die künstlerischen Wurzeln legitimierten die öffentliche Darstellung, während die Verführungskraft des bloßen Körpers durch den pietätsgeweihten Raum des Friedhofs gezähmt wurde. Die sepulkrale Kulisse ließ die "schöne Frau" gleichsam salonfähig erscheinen.

Wie gesagt: Den entscheidenden Schritt für die öffentlichkeitswirksame Verbreitung der "Trauernden" auf den Friedhöfen bildete die industrielle Massenproduktion. Die Grabfigur wurde in einer Synthese von traditionellem Pathos und moderner Technik neu geschaffen, die auch in anderen Bereichen zum Signum der wilhelminischen Gesellschaft geworden war. So zeigte sich die galvanoplastisch produzierte "Trauernde" als zeittypische Mischung aus Emotionalität, Kunst, Technik und Gewerbe. Lesen wir noch einmal bei Walter Benjamin nach: "Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab …" und aktualisiert es.8 Anders gesagt: Die serielle Herstellung unterminiert zwar die Aura des Originals, vermag aber die künstlerische Botschaft in neuer Form ans Publikum zu bringen. Die Gefühle wurden regelrecht zum Klischee.

Meyer
Flensburg, Mühlenfriedhof, Grabmal Meyer (Foto: Fischer)

Wie waren die technischen Voraussetzungen? Beim galvanoplastischen Produktionsverfahren wird ein Objekt durch galvanische Abscheidung von dünnen Metallüberzügen (zum Beispiel Kupfer) hergestellt. Das seit den späten 1830er-Jahren bekannte Verfahren9 ermöglichte unter anderem die fabrikmäßige Herstellung kleinerer und größerer Figuren sowie von Reliefs und anderem Kleinschmuck an Grabsteinen. Bei den in Kupfer- oder Bronzetönen gehaltenen Figuren unterschied man zwischen Kern- und Hohlgalvanos, deren Stärke zwischen zwei bis drei Millimetern (Kerngalvano) bzw. vier bis acht Millimetern (Hohlgalvano) schwankte.10

Kiel
Kiel, Eichhof-Friedhof (Foto: Fischer)

Das Herstellungsverfahren erlaubte eine relativ preiswerte Alternative zum Bronzeguss. Die beliebige Kopierbarkeit war ebenso wichtig für den Absatz des Produktes wie dessen äußere Ähnlichkeit mit wesentlich kostspieligeren Originalplastiken. Zur Marktreife wurde das Verfahren Anfang der 1890er-Jahren von dem späteren Marktführer entwickelt, der Württembergischen Metallwarenfabrik (WMF) in Geislingen/Steige. Die WMF verfügte in großen Städten über Filialen oder Depots und bot ihre Produkte in Musterbüchern und Katalogen an – keineswegs nur Sepulkralkunst, sondern auch Sakrales, Bauschmuck, Gartenfiguren und vieles andere.11 Für die Firma war es ein erfolgreicher Versuch, neue Märkte zu erschließen: "Die WMF war mit ihrer Galvanoplastischen Kunstanstalt und deren technischen Produktionsanlagen das einzige Industrieunternehmen überhaupt, dessen industriell gefertigte Galvanoplastiken jeglicher Größe und künstlerischen Rangs in Konkurrenz zum herkömmlichen Bronzeguss traten."12 Allein für den Parkfriedhof Hamburg-Ohlsdorf ist die Aufstellung von insgesamt über 150 Galvanoplastiken nachweisbar (neben "Trauernden" unter anderem auch zahlreiche Engelsfiguren).13

Resümieren wir den ersten Teil unseres Beitrags: Im massenhaft produzierten Gefühlsklischee ließ sich weibliche Schönheit nicht nur für die Trauerarbeit funktionalisieren. Die "Trauernde" bildete eine ästhetische Kompensation emotionaler Bedürfnisse in einer Zeit, als die Sinne in "Unordnung" geraten waren. Ihr Körper und ihre Gesten schufen Projektionsflächen für Fantasien, in denen unschuldige Reinheit und Verführung keine Gegensätze waren. Derlei Bedürfnisse standen mit Industrialisierung und technischem Fortschritt insofern in doppeltem Zusammenhang, als Letztere sie hervorgebracht hatten und zugleich in der serienmäßigen Produktion zu ihrer Stillung beizutragen versuchten.

(Teil II folgt im nächsten Heft)

1 Friedrich Schiller: An Amalie von Imhoff. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. München 1962 (3. Aufl.), Band 1, S. 462.

2 Ursula Machtemes: Leben zwischen Trauer und Pathos. Bildungsbürgerliche Witwen im 19. Jahrhundert. Osnabrück 2001, S. 73.

3 Ludwig Tieck: Der Tischlermeister. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Hrsg. von Marianne Thalmann. München 1963, Band 4, S. 309.

4 Siehe exemplarisch Lothar Müller: Gelbe Immortellen. Gräber, Tod und Totengedenken bei Theodor Fontane. In: Markwart Herzog (Hrsg.): Totengedenken und Trauerkultur. Geschichte und Zukunft des Umgangs mit Verstorbenen. Stuttgart 2001, S. 157-180.

5 Franz Zelger: Arnold Böcklin: Die Toteninsel. Selbstheroisierung und Abgesang der abendländischen Kultur. Frankfurt/M. 1991.

6 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders., Gesammelte Schriften, Band I/2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main. 1980, S. 471-508, hier S. 477.

7 Zum Verhältnis von Eros und Tod: Anton Szanya (Hrsg.), Eros und Thanatos, Die Weise von Liebe und Tod, Wien 1994; Jonathan Dollimore, Death, Desire und Loss in Western Culture, London 1998. – Fotografische Visualisierung bei André Chabot, Érotique du cimetière, Paris 1989; Isolde Ohlbaum, Denn alle Lust will Ewigkeit. Erotische Skulpturen auf europäischen Friedhöfen, München 1996.

8 Benjamin (wie Anm. 6), S. 477.

9 Als Entdecker gilt der Baumeister Moritz Herman Jacobi, der ab 1837 in St. Petersburg wirkte; siehe Moritz Herman Jacobi: Die Galvanoplastik. St. Petersburg 1840.

10 Hartmut Gruber: Die Galvanoplastische Kunstanstalt der WMF 1889–1953. Geschichte, Betriebseinrichtungen und Produktionsverfahren. In: Hohenstaufen/Helfenstein. Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen, Band 9, 1999, S. 147-195. – Wir danken Severin Roeseling (Köln) für diesen Literaturhinweis.

11 Zur Produktpalette siehe ebd., S. 189-192. – WMF hatte 1890 die Galvanobronzen-Fabrik München übernommen, die das Patent zur galvanoplastischen Verkupferung von Gipsfiguren besaß, und 1894 deren Produktion nach Geislingen verlagert; ebd., S. 153-155. – Siehe auch Severin Roeseling: 150 Jahre WMF. Geislingen/St. 2003 (im Druck); wir danken dem Verfasser für die Überlassung seines Manuskriptes der Festschrift.

12 Gruber (wie Anm. 10), S. 192.

13 Ellen Thormann: Zur Galvanoplastik. Zwischen Originalitätsanspruch und massenhafter Produktion. In: Ellen Thormann/Barbara Leisner/Helmut Schoenfeld: Massenhaft Engel – Galvanoplastiken auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Hamburg 1997, S. 11-25.

(Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht unter dem Titel "Gesten der Trauer – Imaginierte Weiblichkeit in der Grabmalkultur vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert" in der Zeitschrift "Friedhof und Denkmal", Jahrgang 48/2003, Heft 1, S. 6-14. Wir danken Wolfgang Neumann für die freundliche Erlaubnis zum Nachdruck. Die hier vorliegende Fassung ist leicht gekürzt und mit einer neuen Einleitung versehen, die Zahl der Abbildungen wurde gegenüber der Erstveröffentlichung reduziert.)

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Tod, Trauer und Weiblichkeit (Mai 2004).
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