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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Wo der Tod noch sichtbar ist: Abschied, Tod und Trauer in einer ländlichen Region

Autor/in: Adrian Anton
Ausgabe Nr. 102, III, 2008 - August 2008

Der folgende Text bildet die Zusammenfassung einer Examensarbeit, die Adrian Anton an der Universität Hamburg (Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie) erarbeitete.

Der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer wird bestimmt von verschiedenen Faktoren: manche sind universal, manche sind konfessionell bedingt, andere wiederum regional. Zu diesen Faktoren, die den aktuellen gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem Tod maßgeblich prägen, zählen u.a.: Bürokratische Vorschriften zum Einen und Individualisierungstendenzen zum Anderen, sowie Professionalisierung und Anonymisierung. Diese Situation wird von Norbert Fischer als "Zergliederung des Todes" oder sogar als "Enteignung des Todes" beschrieben, andere sprechen von der zunehmend "delegierten Bestattung" (Corinna Caduff).

Zum Stichwort Anonymität: Sterben und Abschied sind nicht sichtbar, sondern weitestgehend aus der Gesellschaft der Lebenden ausgegrenzt. In Großstädten wie Hamburg bleibt der Tod meist anonym: wir erfahren häufig nicht einmal, wenn ein Nachbar stirbt. In vielen ländlichen und dörflichen Regionen hingegen ist der Tod ein Ereignis, an dem die Gemeinschaft, sei es die kirchliche oder die dörfliche, nach wie vor teilhat. Da der Blick jedoch meist auf städtische und großstädtische Lebenswelten gerichtet ist, soll hier ein exemplarischer Einblick in den Umgang mit Abschied, Tod und Trauer in einem kleinen Dorf in Nordhessen gegeben werden.

Lüdersdorf
Blick auf Lüdersdorf. Foto: Anton

Abschied und Trauer in Lüdersdorf

Lüdersdorf liegt zwischen Kassel und Fulda und hat ca. 180 Einwohner. Es gibt keine Geschäfte, aber eine eigene Kirche mit Friedhof sowie einen Gasthof. Zunächst zu einer grundlegenden Besonderheit: in Lüdersdorf gibt es lediglich einen handwerklichen Betrieb, nämlich eine Schreinerei, die seit ca. 1875 als Familienbetrieb geführt wird und die auch die Aufgaben eines Bestatters übernimmt. Die Besonderheit liegt darin, dass der Bestatter hier mit allen Verstorbenen nicht nur bekannt war, sondern häufig auch enge persönliche Beziehungen zu diesen hatte und somit keine Anonymität möglich ist. Dies hat Einfluss auf die Ausübung der Tätigkeit, die nach eigener Aussage des Schreiners als "letzter Dienst für den Verstorbenen" betrachtet wird. Weiterhin wirkt sich dies auch auf die Preisgestaltung aus, da die soziale Kontrolle untereinander Preisschwankungen und überhöhte Preise von vorneherein erschwert. Somit ist der Grad der "Professionalisierung" in Lüdersdorf relativ gering, was sich auch auf die Delegation von Aufgaben nach einem Todesfall auswirkt: Der Familienbetrieb hat nur begrenzte Kapazitäten, sowohl an Mitarbeitern als auch räumlich. So gibt es keine Aufbahrungsmöglichkeit, keine Kühlräume, aber einen eigenen Anhänger für den Transport von Särgen.

Vor diesem Hintergrund ist auch das in vielen kleineren Orten nach wie vor nachbarschaftlich-organisierte Tragen des Sarges zu sehen: es ist somit nicht nur als Brauch oder Tradition einzuordnen, sondern auch als pragmatische Konsequenz aus häufig fehlenden professionellen Akteuren. Es ist bzw. war in vielen Orten üblich, dass die sechs nächsten Nachbarn den Sarg tragen sowie das Grab ausheben. In Lüdersdorf folgt dies bestimmten Regeln und Konventionen, wie auch diese sprichwörtliche Regel verdeutlicht: "Du musst sieben mal getragen haben, damit du selbst getragen wirst." Dies ist nicht wörtlich zu nehmen, deutet aber auf ein System der gegenseitigen Hilfe hin und darauf, dass die soziale Kontrolle untereinander Verlässlichkeit gewährleistet. Dieses verbindliche System befindet sich allerdings in der Auflösung: die Stadt Bebra, zu der Lüdersdorf im Zuge der Hessischen Gebietsreform 1972 eingemeindet wurde, übernimmt z.B. zunehmend die Aufgabe des Grabaushebens, die zuvor auch von den Sargträgern übernommen worden ist.

Hierfür können unterschiedliche Ursachen in Betracht gezogen werden: schwierige Bodenverhältnisse (Lehm) machen das Grabausheben physisch anstrengend. Die zeit- und arbeitsaufwändige Aufgabe des Grabaushebens erfordert aber auch, dass die Beteiligten sich kurzfristig von ihrer Arbeit frei machen können. Dies stellt in der modernen Arbeitswelt jedoch häufig eine erhebliche Schwierigkeit dar, während früher, als die meisten Männer in ländlichen Regionen in der Landwirtschaft oder als Waldarbeiter tätig waren, dies meist einfacher und unbürokratischer zu regeln war.

Die Aufgabe des Grabaushebens ist ein Beispiel für die zunehmende Delegation an professionelle Akteure. Die Aufgabe des Sargtragens bleibt davon zwar im Grunde unberührt, verändert sich jedoch vielerorts durch die Einrichtung von Urnengrabflächen: die Beisetzung der Urne erfolgt meist im kleinsten Kreis, wobei die Urne lediglich von einer Person (häufig dem Bestatter) getragen wird. Während in anderen Gegenden bereits Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts Feuerbestattungen eingeführt wurden, geschah dies in Lüdersdorf übrigens erst Ende des 20. Jahrhunderts im Jahr 1998. Obwohl zunächst allgemein keine große Nachfrage nach dieser Bestattungsform erwartet worden ist, hat sich mittlerweile auch in Lüdersdorf die Urnenbestattung neben der gewohnten Erdbestattung als eine akzeptierte und verbreitete Bestattungsform etabliert.

Nun jedoch zu den eigentlichen Abläufen: Nach der Einsargung erfolgt die Überführung vom Haus der verstorbenen Person zur Kirche, da in Lüdersdorf eine "Leichenhalle" (mit Platz für einen Sarg) in den Kirchturm integriert ist. Der Neubau der Kirche 1959 führte somit zum Ende der in Lüdersdorf bisher üblichen Hausaufbahrung. Die Überführung erfolgt mit einem schwarzen Bestattungs-Autoanhänger, wobei sich dem Sarg nach und nach "alle" Dorfbewohner anschließen, so dass sich ein Trauerzug der Gemeinde durchs Dorf bildet. "Alle Dorfbewohner" ist hierbei nicht wörtlich zu nehmen, aber allgemein nimmt aus jedem Haus mindestens eine Person teil. Interessant hierbei: auch wenn eine Person im Krankenhaus oder andernorts verstorben ist, beginnt der Trauerzug am Haus des Verstorbenen, obwohl die Überführung auch direkt vom Krankenhaus zur Kirche bzw. bei Feuerbestattungen ins Krematorium erfolgen könnte. Stattdessen wird an dem kosten- und zeitaufwändigen Trauerzug festgehalten. Dies zeigt nicht nur die Langlebigkeit und Beharrlichkeit alter Gewohnheiten besonders im Bereich von Bestattungen, sondern deutet auch auf das Bedürfnis der Hinterbliebenen hin, Verstorbenen einen "vollständigen" und "richtigen" Abschied zu bereiten. Das bedeutet, einen Abschied, in dem alle Elemente enthalten sind, die ihrer Ansicht und ihrer Gewohnheit nach zu einer "richtigen" Bestattung dazugehören.

Anschließend an die Trauerfeier findet in Lüdersdorf wie beinahe überall der "Trauerkaffee", früher auch "Leichenschmaus" genannt, in der Gastwirtschaft bzw. der Dorfgemeinschaftshalle statt.

Hierbei findet sich ein weiteres nachbarschaftliches Element: Frauen der Nachbarschaft kochen Kaffee, backen Kuchen und bedienen in der Gastwirtschaft bzw. der Dorfgemeinschaftshalle. Mittlerweile wird der Kuchen allerdings meist beim Bäcker im Nachbardorf bestellt. Früher wurde der Familie des Verstorbenen auch Essen gebracht, z.B. Brot gebacken. Heute ist dies nur noch bedingt üblich, wahrscheinlich, da aufwändiges Brotbacken nicht mehr nötig ist.

Der sichtbare Tod

Neben nachbarschaftlich organisierten Elementen ist die Sichtbarkeit des Todes eine der Besonderheiten im Umgang mit Sterben und Abschied in ländlichen Regionen: Früher wurden bei Todesfällen in kleineren Orten die Kirchenglocken geläutet. Heute ist in Lüdersdorf das Läuten der Glocken zur Überführung sowie zu Beginn und Ende der Trauerfeier nach wie vor ein von allen wahrnehmbares Signal, das auf den Tod aufmerksam macht, ebenso der Trauerzug.

Weiterhin ist Trauerkleidung eines der Elemente, die den Abschied sichtbar machen können. Das Tragen von Trauerkleidung befindet sich allerdings generell im Rückgang, die Verbindlichkeit nimmt ab, auch in Bezug auf das Trauerverhalten. Früher unterlagen vor allem Frauen, insbesondere Witwen, starken konventionellen Zwängen: so sollten u.a. für ein Jahr keine Vergnügungsveranstaltungen besucht werden. Dieser normative und einschränkende Charakter geht auch in ländlichen Regionen stark zurück.

Grabstätten
Grabstätten auf dem Lüdersdorfer Friedhof. Foto: Anton

Anschließend an die Zeit nach der Bestattung stellt die Grabpflege das wohl sichtbarste Element dar: in Lüdersdorf wird der Grabpflege relativ viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet, was wahrscheinlich auch an der sozialen Kontrolle untereinander liegt. Hierbei sind auch interessante Mischformen entstanden: z.B. katholische Grablichter auf Urnengräbern, was in Anbetracht dessen, dass sich die katholische Kirche bis 1962 vehement gegen Feuerbestattungen ausgesprochen hat, durchaus bemerkenswert ist. Aber auch hier ist eine Tendenz zu Bestattungsformen mit möglichst geringem Kosten- und Pflegeaufwand (z.B. Urnenbestattung oder grabdeckende pflegearme Bepflanzung, Grabplatten ohne Bepflanzung usw.) zu beobachten.

Hierfür gibt es verschiedene Gründe und Ursachen, einer dürfte ein Wandel der Strukturen des Zusammenlebens durch zunehmende Flexibilität und Mobilität sein: größere räumliche Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsplatz bzw. zwischen Familienmitgliedern nehmen tendenziell zu, so dass die Pflege eines Grabes nicht immer von den Hinterbliebenen übernommen werden kann. Ein weiterer Grund für die beschriebenen Veränderungen dürfte in demographischen Entwicklungen liegen: mehrere Generationen in einem Haushalt werden seltener, Ein-Personen-Haushalte zunehmend älterer Menschen werden häufiger. Der Wunsch, Hinterbliebenen nicht zur Last zu fallen, kann auch die Wahl der Bestattungsform beeinflussen. Die Auswirkungen zeigen sich beispielsweise darin, dass Bestattungsformen mit möglichst geringem Kosten- und Pflegeaufwand zunehmen.

Aschengrab
Aschengrabstätte in Lüdersdorf. Foto: Anton

Anonyme Bestattungen, also Bestattungen ohne sichtbare Kennzeichnung des Grabes, werden häufig als urbanes Phänomen betrachtet, wobei außer Acht gelassen wird, dass gerade in dörflichen Umfeldern die Grabpflege ein Problem darstellen kann, wenn z.B. jüngere Familienmitglieder woanders leben. In Lüdersdorf spiegelt sich dies wider in der geplanten Einführung von Rasengräbern für Sargbestattungen mit Grabzeichen, bei denen aber die Grabpflege entfällt bzw. vom Friedhofsträger übernommen wird. Der Tod wird jedoch nicht ausschließlich von solchen eher pragmatischen oder ökonomischen Faktoren bestimmt, sondern außerdem zunehmend als Privatsache verhandelt, wie sich z.B. in der Abnahme der öffentlichen Wahrnehmbarkeit von Tod und Trauer zeigt.

Abschließend lässt sich festhalten, dass dörfliche Strukturen für andere Rahmenbedingungen als urbane Lebensräume sorgen. Das soziale Gefüge ist ein anderes, ebenso die Infrastruktur. Auch in der Häufigkeit von Todesfällen ist ein erheblicher Unterschied festzustellen: in Lüdersdorf finden pro Jahr im Schnitt zwei Beisetzungen statt. Beispielsweise in Hamburg fanden im Jahr 2005 insgesamt 17.276 Beisetzungen statt, davon 11.734 Urnenbestattungen, also fast 70% aller Beisetzungen. Anonyme Beisetzungen machten ca. 30% aus. Die soziale Kontrolle und Verbindlichkeit untereinander sowie die Sichtbarkeit des Todes, wie sie für kleine Gemeinden und Dörfer typisch sind, finden sich aufgrund der größeren Anonymität in Großstädten kaum.

Aber auch in ländlichen Regionen werden Abschied und Trauer weniger als früher durch feste (und oft einschränkende) Konventionen und Traditionen bestimmt, sondern können bzw. müssen aktiv gestaltet werden. Gleichzeitig kann dies jedoch auch bedeuten, dass zuvor selbstverständliche gemeinschaftlich-organisierte Aufgaben ihre Selbstverständlichkeit verlieren können. Der Rückgang von bürokratischen Regelungen, Normen und Konventionen führt zu größeren Wahl- und Handlungsspielräumen und ermöglicht somit individuelle Gestaltungen und Umgehensweisen. Eine größere Entscheidungsfreiheit führt aber auch zu Entscheidungsdruck sowie zu mehr Eigenverantwortung. Diese Anforderungen müssen meist in einer Situation extremer (emotionaler) Belastung und unter Zeitdruck bewältigt werden, so dass Vorsorge und vor allem eine frühzeitige Verständigung untereinander nötig und vorteilhaft sind. Möglichkeiten und Orte der Auseinandersetzung und Kommunikation über den Umgang mit Sterben, Abschied und Trauer werden somit wichtiger und notwendig.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Friedhöfe zwischen Elbe und Weser (August 2008).
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