Direkt zum Inhalt

OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Der Friedhof des 19. Jahrhunderts als landschaftliches "Gesamtkunstwerk"

Autor/in: Norbert Fischer
Ausgabe Nr. 66 / 67, III / IV, 1999 - September 1999

Der im Stil des englischen Landschaftsgartens gestaltete, 1877 eröffnete Ohlsdorfer Friedhof zählt bis heute zu den gartenkünstlerisch bemerkenswertesten Begräbnisplätzen.

Daß die Natur eine derart bedeutende Rolle bei der Friedhofsgestaltung spielt, geht auf das 18. Jahrhundert zurück. Seitdem wurde die Naturästhetik schrittweise zum wirkungsvollsten jener Elemente, die das Erscheinungsbild städtischer Friedhöfe geprägt haben. Schon im frühen 19. Jahrhundert erschienen beispielsweise die neuen, in den 1790er Jahren angelegten Hamburger Friedhöfe vor dem Dammtor ihren Besuchern als Oasen der Natur, in denen es grünte und blühte. Hier war es nicht so sehr die geometrisch strukturierte Anlage insgesamt, die Begeisterung hervorrief, als vielmehr die Ausgestaltung der einzelnen Grabstätten mit Blumen, Pflanzen und Bäumen.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts trug dann vor allem die englische Landschaftsgartenkunst zur Überwindung bisheriger Friedhofsstrukturen beitrugen. Insbesondere war es der für den englischen Landschaftsgarten so typische geschwungene Weg, der das vorherrschende schematisch-rechtwinklige Grundmuster auflöste und zum Signet eines veränderten, sublimierten Bildes vom Tod werden sollte. Diese geschwungenen Wege wurden auf den städtischen Friedhöfen zum charakteristischen Ausdruck von Bürgerlichkeit, weil sie die gesellschaftlich so bedeutsame Nähe zur - vermeintlich "unverfälschten" - Natur suggerierten.

Dieses Ideal des gartenkünstlerisch gestalteten Parkfriedhofs, wie es theoretisch in seinen Grundzügen bereits vom Gartentheoretiker C. G. L. Hirschfeld in den 1780er Jahren antizipiert worden war, wurde allerdings erst nach und nach realisiert. Als einzelne Etappen sind zu nennen der ab 1813 umgestaltete Braunschweiger Domfriedhof, der 1816 vergrößerte Golzheimer Friedhof in Düsseldorf und der 1828 eröffnete Frankfurter Hauptfriedhof.

Auffälliger als in Deutschland selbst war die Tendenz zum landschaftlich gestalteten Friedhof in anderen Ländern. Schon der 1804 angelegte neue Pariser Friedhof Père Lachaise, der die alten innerstädtischen Begräbnisplätze ersetzte, galt Mitte der 1820er Jahren aufgrund seiner üppigen Vegetation als irdisches Elysium und wurde viel und gern besucht. In den folgenden Jahrzehnten wurden weitere parkähnliche Friedhöfe im angloamerikanischen Raum angelegt.

In Deutschland fand die Tradition des englischen Landschaftsgartens ihren vorläufigen Höhepunkt im 1877 als zentralen Begräbnisplatz für Hamburg eröffneten Ohlsdorfer Friedhof. Hier wurde die landschaftliche Friedhofsästhetik zum bürgerlichen "Gesamtkunstwerk", Ohlsdorf erwies sich als harmonische Synthese aus Natur, Kultur und Technik. Er war der erste durchgehend nach landschaftsarchitektonischen Gesichtspunkten gestaltete deutsche Friedhof und wurde international zu einem vielgerühmten Vorbild.

Wie kein anderer Großfriedhof in Deutschland repräsentierte Ohlsdorf damals die Sehnsucht nach einem möglichst naturgeprägten Raum, der nicht nur der Trauer und Pietät, sondern auch dem Spazierengehen diente und für die Hamburger Bevölkerung rasch zu einem sonntäglichen Ausflugsziel wurde. Im Jahre 1906 konnte man in einer Illustrierten lesen: "Nie wird man müde, den Sinn zu bewundern, der hier schaffend gewaltet. Der die Brücken schlug von Natur zu Kunst, von Kunst zu Natur. Zu höherer Einheit ist beides hier verbunden. Man wandelt wie in einer anderen Welt, wo die Gegensätze sich aufheben." So wurde das Gesamtkunstwerk Ohlsdorf letztlich auch zum Vorzeigeobjekt städtischer Infrastrukturpolitik und erhielt nicht zufällig auf der Pariser Weltausstellung 1900 den Großen Preis für Gartenkunst.

Diese neue Friedhofsästhetik war sowohl Ergebnis als auch Vehikel eines veränderten Gesellschaftsverständnisses. Natur, als "Landschaft" verstanden, wurde im Bürgertum zu einem gesellschaftlichen Fluchtraum, der zugleich repräsentative Funktionen hatte. So wie das bürgerliche Natur- und Landschaftsverständnis im Idealen zum Fluchtpunkt eines sich selbstvergewissernden Subjekts wurde, diente die Naturästhetik auf den Friedhöfen der gesellschaftlichen Sublimierung des Todes. Die Topographie des Friedhofs entsprach jetzt dem neuen Bild eines Todes, der von seinen Schrecken befreit worden war, indem er ästhetisch ansprechend verkleidet wurde.

Tod und Trauer waren Elemente jener Feierkultur, die das Bürgertum des 19. Jahrhunderts so vollendet zelebrierte. Sie beruhte auf einer Mischung aus Emotionalität und sozialem Prestigedenken. Thomas Mann beschrieb sie in seinen "Buddenbrooks" detailreich und einfühlsam. In ihren zeremoniellen Elementen, in ihrer Farbsymbolik, mit ihrer Blumen- und Pflanzensprache wurde diese Trauerkultur für breite Kreise zum normativen Leitbild. Klassische Orte der Trauer waren das Haus des Verstorbenen mit dem Aufbahrungszimmer, die Kirche, die Grabstätte. Als schmückende Elemente dienten Pflanzen, Leuchter, schwarzer Flor; typische Beileidszeichen waren Blumen, deren extensive Verwendung bei Begräbnissen ein charakteristisches Merkmal bürgerlicher Trauer waren. Der letzte Abschied fand traditionell mit dem Sarg-Einlassen ebenso am Grab auf dem Friedhof statt wie die Traueransprachen. Das "Gesamtkunstwerk" Ohlsdorf war der friedhofsarchitektonische Ausdruck dieser bürgerlichen Trauerkultur.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft 10 Jahre Förderkreis (September 1999).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).