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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

"Transmortale 2010": Neue Forschungen zum Thema Sterben, Tod und Trauer

Alle Epochen und Kulturen zeigen, dass der Tod nicht nur die Toten betrifft, sondern vor allem die Lebenden.

Für die Wissenschaft bedeutet das, dass alle Fächer und Forschungsfelder, die sich mit den Menschen und dem Leben beschäftigen, auch Berührungspunkte mit dem Tod, dem Abschied oder der Endlichkeit haben.

Die Themen Sterben, Tod und Trauer rücken seit einigen Jahren immer mehr in den Fokus der fächerübergreifenden Forschung. Unter dem Titel "Transmortale" fand am 6. Februar 2010 ein von 45 Teilnehmern besuchter Workshop am Historischen Seminar (Schwerpunkt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) der Universität Hamburg statt, um aktuelle Forschungsansätze zum Thema Sterben, Tod und Trauer zu verknüpfen.

Die Kulturwissenschaftlerin und Soziologin Karen Wolff berichtete über "Die Visualisierung des Todes. Über fotografische Inszenierungen von Sterben und Tod im Nachrichtenmagazin 'Der Spiegel'". Sie hat im Rahmen ihrer Forschungen einen Bildbestand von ca. 2000 Fotografien, die zwischen 1990 und 2008 im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" veröffentlicht worden sind, kategorisiert und einer qualitativen Einzelbildanalyse unterzogen. Anhand ausgewählter Beispiele stellte sie acht thematische Bildkategorien vor: der tote Körper, Bergung und letzte Dienste, der Tod als finale Macht, Sterben und Tod betrachten, Trauer und Verzweiflung, die letzte Reise: Aufbahrung und Begräbnis, Sterben und Tod in Medizin und Wissenschaft, die Darstellung der Vergänglichkeit. Karen Wolffs Erkenntnisinteresse richtete sich hierbei vor allem auf Fragen der fotografischen Inszenierung von Sterben und Tod und welche Rückschlüsse die Ergebnisse der Analyse auf Vorstellungen von Sterben und Tod erlauben.

Die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Anna Götz stellte unter dem Titel "Projektionen des Diesseits – Bürgerliche Grabmalkultur um 1900" ihre Forschungen zu Grabplastiken des späten 19. Jahrhunderts in Europa vor. Mit einem Fokus auf weibliche Figuren – die "Trauernden"– untersucht sie die Wechselwirkungen zwischen Trauerkultur, bürgerlichem Habitus und Geschlechterverhältnissen um 1900. Goetz arbeitete die notwendige interdisziplinäre Verbindung von Kultur-, Kunst-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte zur Analyse der Objekte ihres Gegenstandsfeldes heraus. Im Zuge serieller Produktion und überregionaler Vermarktung avancierte das Bild der "Trauernden" im späten 19. Jahrhundert zu einem "Schlagbild" der bürgerlichen Erinnerungskultur. Als im Lauf des 19. Jahrhunderts großflächige Friedhöfe unter städtischer Verwaltung eingerichtet wurden, bot sich wohlhabenden Bürgern ausreichend Platz, um ihre Familiengräber wie kleine private Denkmäler zu inszenieren. Vor dieser Kulisse markierte das sublime Motiv der "Trauernden" weniger die Schrecken des Todes als vielmehr den individuellen Verlust und das biografische Vermächtnis des Familienoberhaupts. Entsprechend des bürgerlichen Arbeitsethos und normativer Geschlechterideale fungierten die weiblichen Grabplastiken als Projektionsfläche für Ängste, Sehnsüchte und Jenseitsvorstellungen der Hinterbliebenen.

Die Landschaftsplanerin Dagmar Kuhle referierte zum Thema "Der Plan des Friedhofs und des Beisetzungswaldes – Orte der Toten in Trägerschaft der katholischen und evangelischen Kirche". Ihre Forschungen beziehen sich exemplarisch auf das Gebiet der Evangelischen Kirche Kurhessen Waldeck sowie der Diözese Fulda, von welchem eine Bestandsaufnahme heutiger Erscheinungsbilder dörflicher Friedhöfe in katholischer und evangelischer Trägerschaft erstellt werden soll. Weiterhin soll der erste Beisetzungswald in Trägerschaft der evangelischen Kirche in Schwanberg in die Untersuchung miteinbezogen werden, da hier die Integration des Konzepts "Natur" in die Friedhofsplanung und -gestaltung analysiert werden kann. Dagmar Kuhle will Friedhöfe zum einen auf konfessionsspezifische Unterschiede hin untersuchen, aber auch auf mögliche Überformungen auf bestehenden kirchlichen Friedhöfen, ob z.B. Rasen- oder Baumgräber vorhanden oder geplant sind. Hierbei geht sie von der Beobachtung aus, das aufwandsreduzierende Bestattungsformen zunehmen. Zentral sind für Dagmar Kuhle die Wechselwirkungen zwischen sozialer Praxis und Raum bzw. Raumplanung und -gestaltung.

Die Archäologin und Anthropologin Dana Vick stellte ihre gemeinsamen Forschungen mit dem Archäologen Andreas Ströbl zum Thema Gruftenforschung vor: "Längst bekannt oder voller Überraschungen? Gruftbestattungen der Neuzeit in der interdisziplinären Forschung". Auf der Grundlage ihrer bisherigen Erforschung zahlreicher Gruftanlagen im deutschsprachigen Raum (z.B. in Berlin, Boitzenburg, Braunschweig, Brandenburg, Göttingen, Görlitz, Hamburg, Hannover-Wettbergen, Lüneburg, Quedlinburg, Rheinsberg, Wien) wurde versucht, eine vorläufige Gliederung neuzeitlicher Gruftanlagen zu erstellen: Einzelgrüfte des Klerus und Adels (bereits im Mittelalter), Campisanti mit Grufthäusern (16. und 17. Jh.), Grüfte des Hochadels (ab dem 16. Jh.), Grüfte des niederen Adels (ab dem 16. Jh.), Klostergrüfte (ab dem 17. Jh.) sowie große städtische Kirchengrüfte (ab dem 18. Jh.). Die Gruftanlagen wurden sowohl auf ihre Form als auch auf ihren Inhalt hin untersucht. Beispiele von Grabbeigaben wie Kränze oder Eier, Hopfenbettungen, Sargverzierungen, Schmuckbeigaben oder auch Kreuzbandschnürungen stellen sowohl die Frage nach dahinter stehenden Praktiken und Ritualen als auch die sich daraus ableitende Haltung zum Leichnam. In diesem Zusammenhang wurde auch die Bedeutung interdisziplinärer Forschungen deutlich, da hier u.a. Archäologie, Anthropologie, Biologie sowie historische Kulturwissenschaften zu einem wechselseitigen Erkenntnisgewinn beitragen.

Der Volkskundler Adrian Anton analysierte unter dem Titel "Der arme Tod: Sozial- und Zwangsbestattungen" die Verknüpfungen von Armut und Bestattungskultur, besonders die Schwerpunkte Sozial- und Zwangsbestattungen. Es geht um die Frage, welche Auswirkungen Armut auf den Sterbeprozess von Menschen sowie auf die daran anschließenden Abläufe von der Bestattung bis zu Trauerprozessen hat. "Tod" ist ein klar definierter Begriff, "Arm" oder "Armut" hingegen sind Bezeichnungen, die zahlreiche Bedeutungen, Interpretationen und Konnotationen zulassen. Die Frage ist hierbei, wer Armut wie und warum definiert. Der "arme Tod" zeichnet sich seit jeher durch eine auffällige "Spurenlosigkeit" aus, seien es die Massengräber mittelalterlicher Kirchhöfe oder anonyme Rasengrabflächen auf heutigen Friedhöfen. Die Beispiele von Sozial- und Zwangsbestattungen verdeutlichen, dass der Tod fest eingebunden ist in ökonomische Verwertungsstrategien. Wer über keine oder nur geringe ökonomische Möglichkeiten verfügt, wird auch in seinen Möglichkeiten, den letzten Abschied zu gestalten, stark eingeschränkt. Eine zentrale These von Adrian Anton ist, dass Sozial- und Zwangsbestattungen ein komplexer normativer Charakter zugeschrieben werden kann, da sie Definitionen und Wertvorstellungen der Bedürfnisse und Rechte von (armen) Hinterbliebenen sowie Verstorbenen konstruieren und determinieren.

Die Volkskundlerin Susanne Möllers berichtete über die bisherigen Ergebnisse ihrer Studie "Bezahlbare Riten – immaterielle Arbeit und alternative Bestattungen". Im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung wurde den Menschen der Tod aus der Hand genommen ("Enteignung des Todes"). Susanne Möllers begreift in Anlehnung an Michael Hardt und Toni Negri Modernisierung als Form der Vergesellschaftung unter dem Paradigma der Fabrik und stellt damit die gesellschaftliche Organisation der Produktion, also was und wie wir arbeiten, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie zeigt den Zusammenhang der Fabrik als gesamtgesellschaftliches Leitbild der Arbeitsorganisation und dem Phänomen der Enteignung des Todes auf. Aktuell findet offensichtlich ein erneuter Umbruch im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer statt. Dieser Umbruch ist in vielerlei Hinsicht gegenläufig zur Enteignung des Todes, sie bezeichnet ihn deshalb als "Wiederaneignung des Todes". In diesem Umbruch spielen alternative Bestatterinnen eine wichtige Rolle, ebenso wie die Hospizbewegung, die Aidshilfenbewegung und Trauergruppen. Susanne Möllers verfolgt die These, dass hier ein Zusammenhang mit Veränderungen im gesellschaftlichen Charakter der Arbeit besteht.

Die Abschlussdiskussion wurde vom Historiker Franklin Kopitzsch und dem Sozial- und Kulturhistoriker Norbert Fischer gestaltet. Franklin Kopitzsch fasste die Ergebnisse der Vorträge zusammen, indem er unter anderem auf die unterschiedlichen historischen "Milieus" hinwies, in denen der Umgang mit dem Tod und den Toten vollzogen wird. Zugleich unterstrich er die Bedeutung von epochenspezifischen Mentalitäten, Glaubensvorstellungen und Naturbildern. Norbert Fischer ging auf die vielschichtigen materiellen Artefakte ein, in denen sich – neben den ideellen Zeugnissen der Kulturgeschichte – der Umgang mit dem Tod repräsentativ analysieren lässt. In der Diskussion wurde unter anderem auf die Notwendigkeit hingewiesen, die "langen Linien" des Umgangs mit dem Tod im interdisziplinären Dialog herauszuarbeiten. Fachspezifische Eindimensionalitäten in der Forschung müssten vermieden und interdisziplinäre Netzwerke begründet werden – ohne die gegebenen Kompetenzen der Einzeldisziplinen dabei aufzugeben. Der Workshop "Transmortale" soll künftig jährlich stattfinden.

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Porträts auf Grabmälern (Mai 2010).
Erkunden Sie auch die Inhalte der bisherigen Themenhefte (1999-2024).